Alice: Hey Betty, wie geht‘s? Was machst du denn da? Du schaust ja die ganze Zeit nach oben.
Betty (nach oben schauend): Ja, ich schaue in den Himmel.
Alice: Warum schaust du denn in den Himmel?
Betty: Ich bin fasziniert.
Alice: Warum?
Betty: Der Himmel ist blau.
Alice (schaut nach oben): Ja, ist wirklich ein schöner Herbsttag heute.
Betty: Aber ist das nicht faszinierend?
Alice: Was denn?
Betty: Der Himmel ist blau.
Alice: Und?
Betty: Der Himmel existiert nicht.
Alice: Hä? Du sagst doch selbst, dass er blau ist.
Betty: Ja, und das ist das faszinierende daran. Der Himmel ist blau. Aber der Himmel existiert nicht. Wie kann das sein?
Alice: Naja, grob gesprochen gibt es im Himmel ganz viele Moleküle in der Luft, die das vielfarbige Sonnenlicht wie ein Prisma aufbrechen und in verschiedene Richtungen reflektieren. Nur das Licht aus dem blauen Farbspektrum wird in Richtung der Erdoberfläche reflektiert. Dort stehen wir und das Licht aus dem blauen Farbspektrum gelangt in unsere Augen. Das nehmen wir als Blaueindruck wahr. Wo ist das Problem?
Betty: Was ist nun blau?
Alice: Das reflektierte Sonnenlicht.
Betty: Also ist der Himmel gar nicht blau, sondern das reflektierte Sonnenlicht.
Alice: Kann man so sagen.
Betty: Aber du hattest mir zugestimmt, als ich sagte, der Himmel sei blau.
Alice: Ja, natürlich, er ist ja blau.
Betty: Aber du sagst, der Himmel sei gar nicht blau, sondern nur das reflektierte Sonnenlicht.
Alice: Naja, streng genommen gilt das doch für alle Gegenstände. Wenn wir irgendwelche Gegenstände farbig sehen, dann liegt das daran, dass diese Gegenstände nur das Licht eines gewissen Farbspektrums reflektieren. Dieses Licht fällt in unser Auge und sorgt für den zugehörigen Farbeindruck.
Betty: Also gibt es überhaupt keine farbigen Gegenstände.
Alice: Streng genommen nicht.
Betty: Das Auto da vorne ist also nicht rot.
Alice: Naja, doch, natürlich ist es rot.
Betty: Ich dachte, nur das vom Auto reflektierte Licht sei rot.
Alice: Naja, wir können doch einen Gegenstand rot nennen, wenn er unter normalen Bedingungen nur Licht aus dem roten Farbspektrum reflektiert. In diesem Sinne kann man sagen, dass das Auto rot ist.
Betty: Und wie machen wir das beim Himmel?
Alice: Der Himmel ist blau, weil die Luftmoleküle im Himmel unter normalen Bedingungen nur Licht aus dem blauen Farbspektrum zu uns auf die Erde reflektieren.
Betty: Aber was ist der Himmel?
Alice: Wie meinst du das?
Betty: Du sagst, die Luftmoleküle im Himmel reflektieren das Licht aus dem blauen Farbspektrum. Also ist der Himmel irgendetwas da oben, über unseren Köpfen, und da sind die Luftmoleküle drin.
Alice: Kann man so sagen.
Betty: Kann man denn den Himmel irgendwo lokalisieren?
Alice: Na, sieh doch, er ist da oben!
Betty: Aber wo genau?
Alice: Ich verstehe deine Frage nicht.
Betty: Schau dir mal den Himmel an: Sieht der nicht aus wie eine Halbkugel oder eine gewölbte Schale?
Alice: Ja, schon.
Betty: Aber ist der Himmel so etwas wie eine Schale über mir?
Alice: Nein, das ist eine Illusion: Dein Gehirn registriert die auftreffenden blauen Lichtstrahlen und präsentiert dir das Bild, das ihm am plausibelsten erscheint – eben das Bild einer gewölbten blauen Schale über dir.
Betty: Aber wenn das nur eine Illusion ist, wie ist der Himmel dann wirklich geformt?
Alice: Der Himmel ist gar nicht geformt. Er ist einfach die Region über unseren Köpfen.
Betty: Über wessen Köpfen?
Alice: Worauf willst du hinaus?
Betty: Angenommen, wir beide telefonieren. Bei mir ist der Himmel blau, bei dir ist er bewölkt. Ist er nun blau oder bewölkt?
Alice: Lass dich doch nicht von einem bestimmten Artikel ins Bockshorn jagen! Stell dir vor, du siehst nur die lila Seite der Milka-Kuh – ich aber stehe auf der anderen Seite der Kuh und sehe, dass sie dort schwarz ist. Ist die Milka-Kuh nun lila oder schwarz?
Betty: Je nachdem, von welcher Seite man sie betrachtet.
Alice: Und genauso ist es mit dem Himmel. Je nachdem, von wo man ihn betrachtet, sieht man nur einen Ausschnitt des Himmels. Wir sprechen vom Himmel zwar so, als würden wir den ganzen Himmel sehen – aber uns ist doch zugleich klar, dass das nicht wirklich der Fall ist. Denke zurück an unser Telefonat: Würden wir wirklich in Streit geraten, wenn der Himmel bei dir blau und bei mir bewölkt ist?
Betty (lacht): Wohl nicht.
Alice: Siehst du.
Betty: Ich weiß aber nicht, ob ich jetzt wirklich zufrieden bin. Du sagst also, der Himmel sei die Region über unseren Köpfen.
Alice: Ja, so würde ich es sagen.
Betty: Und die Form des Himmels ist im Wesentlichen eine vom Gehirn erzeugte Illusion: Der Himmel ist einfach die ganze Region über unseren Köpfen und nicht räumlich begrenzt oder geformt.
Alice: Ja, würde ich so sagen.
Betty: Ist dann nicht der gesamte Weltraum mit Ausnahme der Erde der Himmel?
Alice: Müsste man so sagen, ja. Das erscheint mir auch gar nicht so abwegig. Nachts sagen wir ja auch, dass der Mond oder die Sterne am Himmel stehen – und die befinden sich bestimmt nicht innerhalb einer Käseglocke der Erdatmosphäre.
Betty: Aber ist es nicht seltsam, dass das gesamte Sonnensystem, ja, alle Planeten und Sterne des Universums im Himmel sind – und dass nur unsere liebe Erde vom Himmel getrennt ist?
Alice: Ich hoffe, du willst dem ganzen Gespräch keinen theologischen Dreh geben…
Betty (lacht): Oh, das ist mir gar nicht aufgefallen, dass man das auch so verstehen könnte! Nein, ich meine, warum ist ausgerechnet die Erde nicht im Himmel?
Alice: Das hängt damit zusammen, dass wir nun einmal auf der Erde leben. Würden wir auf dem Mars oder dem Merkur leben, würden wir wiederum die Region über unseren Köpfen – und damit den von uns aus betrachteten Rest des Universums – den Himmel nennen. Und in diesem Fall wäre auch die Erde Teil des Himmels.
Betty: Der Himmel auf Erden kann also nur erreicht werden, wenn wir Menschen sie verlassen?
Alice: Betty!
Betty: Sorry, ich konnte nicht widerstehen. Aber im Ernst: Ist es nicht interessant, dass der Himmel immer das ist, was in unerreichbarer Ferne oberhalb des Menschen ist, und dass es ausgerechnet die Erschaffung des Himmels ist, die in der biblischen Schöpfungsgeschichte nicht mit einem „Und Gott sah, dass es gut war“ quittiert wird?
Alice: Du und dein Faible für altertümliche Mythologie.
Betty: Schon gut, schon gut. Lass uns lieber über das Wetter reden.
Alice: So ein strahlend blauer Himmel heute.
Betty: Eine herrliche Illusion. Alice: Ja, herrlich!