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Alkohol: Fluch oder Segen? Einige Gedanken anlässlich Thomas Vinterbergs Film „Der Rausch“

Nach langen Monaten der pandemiebedingten Schließung durfte am vergangenen Samstag endlich das Münstersche Kino wieder öffnen und zeigte zur Feier des Tages eine Vorabpremiere des dänischen Oscar-Gewinners Der Rausch von Thomas Vinterberg, der im Juli deutschlandweit in die Kinos kommen soll. In Dänemark war der Film ein Kassenschlager, übertragen auf Deutschland vergleichbar mit Fack ju Göhte oder Der Schuh des Manitu. Man darf gespannt sein, ob er auch hierzulande die Massen in die Kinos locken wird.

Zu wünschen wäre es dem Film, wobei für dieses Vorhaben vielleicht sogar eine wörtliche Übersetzung des dänischen Originaltitels zielführender gewesen wäre: Denn das dänische Titelwort Druk ist nicht etwa ein halbwegs vornehmes Wort wie der deutsche Titel „Rausch“, sondern tatsächlich ein eher umgangssprachliches Wort wie „Komasaufen“. Ein solcher Titel hätte zwar das übliche Arthouse-Publikum Vinterbergs eventuell abgeschreckt, aber dafür möglicherweise neue Publikumsschichten erschlossen.

Ausnahmsweise ist die englische Übersetzung allerdings in dieser Hinsicht noch schlimmer geraten: In Großbritannien und den Vereinigten Staaten heißt der Film Another Round, was dann doch noch einmal viel harmloser ist als Rausch oder eben Komasaufen. Und wenn man Druk eines nicht vorwerfen kann, dann ist es Harmlosigkeit.

Eine kurze Zusammenfassung des Films (Spoileralarm!)

Im Gegenteil zeichnet Druk ein so ausgewogenes Portrait des menschlichen Alkoholkonsums, dass es heutzutage fast schon an Tabubruch grenzt. Denkt man an Filme über alkoholisierte Menschen, so fallen einem erst einmal zwei typische Kategorien ein: Entweder es handelt sich um eine platte Teenie-Komödie, in der sich Jugendliche um Kopf und Kragen saufen und in benebeltem Zustand die dümmsten Dinge tun – oder es handelt sich um ein ernstes Erwachsenen-Drama, in dem die schlimmen Folgen des Alkoholismus für den Alkoholiker und seine soziale Umwelt thematisiert werden.

Druk gelingt nun der Geniestreich, beide genannten Spielarten des Alkoholfilms (und mehr) in einem einzigen Film miteinander zu verschweißen, indem er von vier Gymnasiallehrern handelt, die sich im Laufe des Films immer ungehemmter und exzessiver dem Alkoholkonsum widmen und in benebeltem Zustand die dümmsten Dinge tun – die aber zugleich mit ihrer Sauferei ihr soziales Umfeld und sich selbst an den Rand des Abgrunds führen, weil der Alkoholexzess für einen gestandenen Mittvierziger mit Arbeit, Frau und Kindern im Gegensatz zum berauschten Jugendlichen nun einmal nicht folgenlos bleibt: Man ist eben keine 16 mehr…

Und das ist vielleicht die ganze Krux des Films, das schlagende emotionale Herz der dramatischen Spannung: Der Schmerz über die Vergänglichkeit der Jugend. Nicht umsonst beginnt der Film mit einem Kierkegaard-Zitat, der genau diesen bittersüßen Schmerz zum Ausdruck bringt: „Was ist Jugend? Ein Traum. Was ist Liebe? Des Traumes Inhalt.“ Und ebenfalls nicht umsonst sind die handelnden Personen als Gymnasiallehrer von Berufs wegen mit eben dieser Jugend in ständigem Kontakt, die wir in den allerersten Szenen küssend, lachend, saufend und kotzend mit Bierkisten um einen See rennen sehen.

Narrativ betrachtet steht allerdings nicht der Schmerz über die vergangene Jugend im Zentrum, sondern das feuchtfröhliche Experiment der Gymnasiallehrer, das sie ausgehend von einem falsch verstandenen Finn Skarderud-Zitat in Angriff nehmen: Sie wollen untersuchen, ob der Mensch mit einem Alkoholdefizit von 0,5 Promille geboren wurde; oder ob man, mit anderen Worten, durch einen kontrollierten Alkoholkonsum und mit einem konstanten Pegel von 0,5 Promille Blutalkohol zu besseren beruflichen Leistungen fähig ist.

Was erst einmal wie eine lachhafte Idee klingt, entpuppt sich in den ersten Tagen als durchaus erfolgreicher Ausbruch aus den eingeschliffenen Konventionen und Routinen der Gymnasiallehrer: Der Geschichtsunterricht – zuvor ein dröges und staubtrockenes Schulbuchreferat über Industrialisierung im 20. Jahrhundert, der von den Schülerinnen und Schülern unisono als minderwertig empfunden und offen angeprangert wird – gewinnt durch die Thematisierung der Biographien und Handlungen weltgeschichtlicher Persönlichkeiten wie Roosevelt, Churchill und Hitler eine lebendige Dynamik und Anschaulichkeit. Im Musikunterricht findet durch zugezogene Vorhänge und Händchenhalten plötzliche und unerwartete Magie Einzug. Und auch der Sportlehrer entwickelt ein zuvor ungekanntes Engagement für sein ihm anvertrautes Kinderfußballteam.

Für den Geschichtslehrer Martin – gespielt vom herausragenden Charakterdarsteller Mads Mikkelsen – beschränken sich die positiven Effekte des Alkohols allerdings nicht nur auf die Schule: Auch in seiner eingeschlafenen Ehe agiert er viel selbstbewusster und sprüht vor Elan und Tatendrang, was auch seiner verdutzten Frau nicht verborgen bleibt und für selten gewordene Resonanzmomente zwischen den beiden sorgt. Und so ist es eben jener Martin, der die Gruppe anregt, den je individuellen optimalen Blutalkoholwert experimentell zu ermitteln – der zweite Teil des Experiments, der den kontrollierten Kontrollverlust auf die nächste Stufe und den Blutalkoholwert des Geschichtslehrers Martin auf 1,2 Promille hebt.

Hier begeht der Film einen noch größeren Tabubruch: Denn obwohl Martin sich mit zur Schau gestellter Lässigkeit im Lehrerzimmer vor versammelter Mannschaft an einem Türpfosten seine Nase blutig schlägt, gelingt es ihm kurz darauf im Klassenzimmer durch seine nonchalante und flapsige Art, seine Schüler noch mehr für seinen Geschichtsunterricht einzunehmen und persönlichere Bindungen aufzubauen. Selbst dieses äußerst gewagte Experiment geht also noch gut – was den aus Sorge um seinen Freund vorbeischauenden Nikolaj ein begeistertes Lächeln ins Gesicht zaubert.

Hätte der Film nun, wie er anfangs vielleicht angelegt war, solcherlei erfolgreiche Grenzüberschreitungen in den Mittelpunkt gestellt und damit ein bloßes Loblied auf den Alkohol gesungen, so hätte man ihm den berechtigten Vorwurf machen können, dass er die dunkle Seite des Themas völlig ausblende. Es ist das große Verdienst des Films, diese dunkle Seite quasi gleichberechtigt neben die helle Seite zu stellen: Denn es ist in dem Kontrollverlust des Trinkens bereits angelegt, dass die vier Lehrer es für eine gute Idee halten, das Trinken (vermeintlich) kontrolliert in den Kontrollverlust zu treiben.

Und so zeigt der Film in seiner zweiten Hälfte nicht nur berauschende Momente wie den in einer Kneipe, wo der Musiklehrer Peter halbnackt unter Applaus der Gäste Volkslieder auf dem Klavier spielt, und wo die vier Lehrer im Anschluss wie eine Gruppe Halbstarker eine Flasche Hochprozentigen mitgehen lassen. Er zeigt auch den psychischen und sozialen Absturz der vier Freunde, der uns daran erinnert, dass das Spiel mit dem Kontrollverlust immer auch ein Spiel mit dem Feuer ist – oder vielleicht sinnfälliger: Ein ausgelassener Tanz auf der Rasierklinge.

Es ist dem Film wiederum hoch anzurechnen, dass es nur einer von ihnen nicht schafft, die Reißleine zu ziehen und den Tanz auf der Rasierklinge zu beenden: Während die anderen das Experiment abbrechen und versuchen, ihr Leben langsam wieder auf die Reihe zu bekommen, bringt der anhaltende Griff zur Flasche einen von ihnen nicht nur um seine Arbeit, sondern buchstäblich ins Grab.

Doch die Trauer um den als Alkoholiker verstorbenen Freund bringt die drei Hinterbliebenen nicht etwa dazu, dem Alkohol ein für alle Mal abzuschwören – im Gegenteil: Auf die Frage, was der verstorbene Freund an ihrer Stelle tun würde, nehmen sie eine vorbeikommende Parade der frisch entlassenen Abiturienten zum Anlass für ein neuerliches Saufgelage und mischen sich unter die feuchtfröhlich feiernden Jugendlichen, in deren Mitte Martin einen hinreißenden Jazzballetttanz aufs Parkett legt und sich anschließend kopfüber ins Hafenbecken stürzt. Und so paart sich das Gedenken des toten Freundes mit der unbändigen Freude darüber, am Leben zu sein und das Leben zu lieben – eine Trauerfeier, die beide Bestandteile des Wortes zu ihrem Recht kommen lässt.

7 Widersprüchlichkeiten des Alkohols

Was Vinterbergs Film so gelungen macht, ist meines Erachtens sein völliger Verzicht auf jedwede Moralisierung unseres Alkoholkonsums. Er nimmt den Alkoholkonsum vielmehr als ein gesellschaftliches Phänomen an und stellt seine vielgestaltigen Konsequenzen und Ausprägungen dar, ohne sich irgendein abschließendes Urteil darüber zu erlauben. Dadurch geraten einige widersprüchliche Aspekte des Alkoholkonsums in den Blick, die bei einem moralischen Pauschalurteil vermutlich in ihrer Widersprüchlichkeit unter den Tisch gefallen wären. Im Folgenden präsentiere ich eine Auswahl meiner liebsten Widersprüche des Phänomens Alkohol.

Widerspruch Nr. 1: Nervengift vs. Stimulans

Da ist zunächst einmal der offensichtliche Widerspruch, dass der Alkohol einerseits ein Nervengift ist, das bei übermäßigem Konsum zu mannigfaltigen psychomotorischen Ausfallerscheinungen führen kann – nicht nur beim Menschen, sondern auch beim Tier, wie dieser Ausschnitt aus einem Film meiner Kindheit beweist.

Andererseits ist Alkohol aber auch ein psychoaktives Stimulans. Es ist sicherlich kein Zufall, dass verschiedene Sprachen den Alkohol mit Geist verbinden: Man denke etwa an den alten Begriff Weingeist, an das Fremdwort Spirituosen, oder ganz flagrant an das englische Wort spirit, das sowohl hochprozentigen Schnaps als auch Geist bezeichnet. Es ist also keine bloße Vergiftung, die wir unserem Körper beim Alkoholkonsum zumuten: Wir lassen uns zugleich vom Alkohol auch inspirieren – Ernest Hemingway ist hierfür ein im Film erwähnter Prototyp, für den auch zahllose andere Künstler (insbesondere Rockmusiker) einstehen könnten.

Widerspruch Nr. 2: Der Alkoholrausch als kontrollierter Kontrollverlust

Im Film wird durch die quasi-experimentelle Versuchsanordnung der Protagonisten nur ein Aspekt des Alkoholgenusses offensichtlicher, der tatsächlich bei jedem Umtrunk manifest wird: Dass Alkoholkonsum eine Form von kontrolliertem – im Sinne von bewusst herbeigeführtem – Kontrollverlust ist. Ob wir uns der alten Rede von Weingeistern bedienen, die sich im Rausch unserer Körper und Seele bemächtigen, oder ob wir moderner davon reden, dass der Alkohol unser Hormongleichgewicht und unsere Rezeptoren im Gehirn aus dem Gleichgewicht bringt: In jedem Fall sind wir im Rausch nicht mehr völlig Herr unserer selbst, und das Verblüffende ist, dass wir uns vielleicht nicht nur trotzdem in diesen Zustand begeben, sondern eben gerade deshalb.

Natürlich kann man sagen, dass es allein das Stimmungshoch ist, welches uns immer wieder zur Flasche greifen lässt, und dass der Verlust der rationalen und motorischen Selbstbeherrschung nur ein hingenommener Nebeneffekt des gewünschten Stimmungshochs ist. Und doch kann das Stimmungshoch in Verbindung mit der umgebenden, ebenfalls berauschten sozialen Gemeinschaft so mitreißend sein, dass der rauschhafte Verlust des Ego zu quasi-religiösen Erfahrungen Anlass geben kann, wie sie beispielsweise Nietzsche mit seiner eigentümlichen Wortgewalt schildert:

„Jetzt, bei dem Evangelium der Weltharmonie, fühlt sich jeder mit seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, sondern eins, als ob der Schleier der Maja zerrissen wäre und nur noch in Fetzen vor dem geheimnisvollen Ur-Einen herumflattere. Singend und tanzend äußert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung. Wie jetzt die Tiere reden und die Erde Milch und Honig gibt, so tönt auch aus ihm etwas Übernatürliches: als Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie er die Götter im Träume wandeln sah. Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden: die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten Wonnebefriedigung des Ur-Einen, offenbart sich hier unter den Schauern des Rausches.“

Die Geburt der Tragödie, Ende Abschnitt 1.

Widerspruch Nr. 3: Verlust der Zurechnungsfähigkeit vs. Offenbarung des wahren Selbst

Selbst die Gerichte erkennen an, dass ein Mensch im absoluten Vollrausch (etwa 3 Promille) in einem solchen Grade nicht mehr Herr seiner selbst ist, dass er für Straftaten jedenfalls dann nicht in üblicher Weise belangt werden kann, wenn er den Vollrausch nicht als Mittel zum Zweck der Straffreiheit herbeigeführt hat. Kurz gesagt: Dass man sich mit hinreichend Alkohol gewissermaßen aus dem eigenen Körper schießt, ist ein allgemein anerkanntes Faktum. Dies deckt sich, wie oben bereits angesprochen, mit der alten Vorstellung, dass sich beim Alkoholkonsum gewissermaßen fremde Geister des eigenen Körpers bemächtigen.

Interessanterweise steht diesem allgemein anerkannten Faktum aber die genau gegenteilige Überzeugung gegenüber, dass wir zumindest bei gemäßigtem Alkoholkonsum unser wirkliches Selbst nach außen transportieren: Der Verlust der Hemmungen, die in der Regel das Ergebnis sozialer Prägung sind, führt demzufolge im berauschten Zustand dazu, dass sich das Selbst ungezügelt und frei seiner Umwelt präsentieren kann und will. In vino veritas – im Wein liegt die Wahrheit.

Am eindrücklichsten kommt dieses Phänomen in einer frühen Szene in Vinterbergs Film zum Ausdruck, wo sich Geschichtslehrer Martin bei der Geburtstagsfeier seines Kollegen zunächst verbittert hinter seinem Wasserglas verschanzt. Erst als ihn seine Freunde erfolgreich zum Alkoholgenuss überreden zerbricht Martins versteinerte Fassade und er offenbart sich unter Tränen seinen Freunden mit all seinen beruflichen und privaten Problemen.

Widerspruch Nr. 4: Soziales Schmiermittel vs. asozialer Brandstifter

Im letzteren Punkt sieht man, wie Alkohol als soziales Schmiermittel fungieren kann. In nüchternem Zustand gelingt es uns selbst gegenüber engsten Freunden und Bezugspersonen nicht immer, unsere Hüllen fallen zu lassen und uns vollständig sichtbar zu machen: Zu groß sind die Furcht vor Zurückweisung oder die Scham vor uns selbst, und zu mächtig sind unsere bewussten und unbewussten Kontrollmechanismen, die uns vor eben jener Zurückweisung schützen sollen.

Insofern nun der Alkohol sowohl die Kontrollmechanismen umgeht als auch unsere Furcht und unser Schamgefühl mindert, lassen wir uns im beschwipsten Zustand gehen und zeigen uns einfach so, wie wir wirklich sind – wir können gar nicht anders. Und insofern echte soziale Bindungen nur zwischen Personen möglich sind, die sich wirklich kennen, fungiert der Alkohol so als Hilfsmittel zum Knüpfen neuer Kontakte oder zur Festigung bestehender Bindungen.

Aber auch hier hat der Alkohol eine Schattenseite, denn die Kontrollmechanismen und Hemmungen im nüchternen Zustand kommen nicht von ungefähr: Es gibt einfach Handlungen, für die man von der Öffentlichkeit Ablehnung und Missfallen erntet und die der nüchterne Bürger völlig zu Recht als asoziales Benehmen kennzeichnet. Man muss nur einmal an einem Bundesligaspieltag mit der Bahn fahren oder an einem Samstag ins Kneipenviertel gehen, um einiges Anschauungsmaterial zu erhalten.

Dieses asoziale Verhalten ist aber in der Regel gar nicht asozial gemeint – oder jedenfalls ist es nicht das primäre Ziel des Betrunkenen, einfach asozial zu sein. Vielmehr handelt es sich um Versuche, größere Resonanz mit seiner eigenen, selber berauschten Gruppe herzustellen. Es ist also gerade das soziale Schmiermittel Alkohol in seiner Funktion als soziales Schmiermittel, die den Alkohol für nüchterne Außenstehende als asozialen Brandstifter erscheinen lassen: Denn nichts stiftet innerhalb einer Gruppe größere Einheit als die Abgrenzung der Gruppe von den (in diesem Fall nüchternen) Außenstehenden. Selbst wenn der Besoffene also asozial sein will, ist das eigentlich nur vor dem Hintergrund dessen zu verstehen, dass er innerhalb seiner Gruppe ein soziales Wesen ist und dazugehören will.

Widerspruch Nr. 5: Freiheit vom Über-Ich vs. Abhängigkeit des Es

Wie wir im letzten Widerspruch sahen, kann der Alkoholkonsum auch dazu dienen, sich von den zivilisatorisch gewachsenen Anforderungen des Über-Ich zu befreien, insofern der Betrunkene seine erlernten Hemmungen ablegt und frei von äußeren Zwängen seinen inneren Impulsen folgt. Auf der anderen Seite dieser neugewonnenen Freiheit steht allerdings die Gefahr der Alkoholabhängigkeit: Das tierische Es ruft immer wieder nach Alkoholnachschub, wodurch nicht wenige einen krankhaft ausgeprägten Zwang zum Griff nach der Flasche entwickeln. Man kann also sagen, dass der Alkoholiker mit dem Griff zur Flasche von einer Unfreiheit nolens volens in die andere getorkelt ist.

Widerspruch Nr. 6: Verbotenes Laster vs. versprochene Verheißung

Für diesen vorletzten Widerspruch verlasse ich den Hintergrund von Vinterbergs sehenswertem Film Der Rausch und begebe mich in ein deutlich älteres Terrain: Den Koran. Wie die meisten wissen dürften, gelten Alkohol und Rauschmittel im Allgemeinen unter Muslimen als verboten. Das ist an sich kein schlechter Ansatz, der sich vor allem aus dem folgenden Koranvers herleiten lässt:

„O Ihr, die ihr Glauben erlangt habt! Berauschende Getränke und Glücksspiele […] sind nur ein abscheuliches Übel von Satans Werk: meidet es denn, auf daß ihr einen glückseligen Zustand erreichen möget! Durch berauschende Getränke und Glücksspiel sucht Satan nur Feindschaft und Haß zwischen euch zu säen und euch vom Gedenken Gottes und Gebet abzuwenden. Wollt ihr denn nicht ablassen?“

Sure 5: Vers 90-91.

Es gibt allerdings auch Stellen im Koran, die sich mit dieser deutlichen Ablehnung des Alkohols ein wenig beißen. In Sure 16, Vers 65-68, wird etwa an einigen Beispielen gezeigt, wie Gott den Menschen aus dem Himmel und durch die Pflanzen und Tiere Versorgung bereitet hat – und in einem dieser Verse heißt es:

„Und (Wir gewähren euch Nahrung) von der Frucht der Dattelpalmen und Rebstöcke: daraus erhaltet ihr Berauschendes wie auch bekömmliche Versorgung – darin, siehe, ist fürwahr eine Botschaft für Leute, die ihren Verstand gebrauchen.“

Sure 16, Vers 67.

Leider buchstabiert der Koran die intendierte Botschaft nicht aus; man muss eben seinen eigenen Verstand gebrauchen. Aus dem Kontext entnehme ich, wie gesagt, unter anderem die Botschaft, dass wir als Menschen in eine Welt gestellt sind, die wie von Zauberhand auf uns und unsere Bedürfnisse zugeschnitten zu sein scheint: Das tägliche Wasser kommt buchstäblich aus dem Himmel (16:65), unsere Nahrung kommt von den Feldern (16:67) und sogar von anderen Tieren – die genannten Beispiele für letzteres sind Milch (16:66) und Honig (16:68-69).

Interessant ist allerdings darüber hinaus – und hier sehe ich in der Tat göttliche Inspiration am Werk – dass es exakt diese Versorgung in exakt dieser Reihenfolge ist, die den Gottesbewussten in Sure 47, Vers 15, im Paradies versprochen wird:

„(Und kann) das Gleichnis des Paradieses, das den Gottesbewußten versprochen ist, – (ein Paradies,) in dem es Flüsse von Wasser gibt, das die Zeit nicht verdirbt, und Flüsse von Milch, deren Geschmack sich niemals ändert, und Flüsse von Wein, köstlich für jene, die ihn trinken, und Flüsse von Honig, von aller Unreinheit gereinigt, und der Genuß von all den Früchten (ihrer guten Taten) und von Vergebung von ihrem Erhalter:

– kann dieses (Gleichnis des Paradieses) mit (dem Gleichnis der Vergeltung von) solchen verglichen werden, die im Feuer zu verbleiben haben und denen Wasser brennender Verzweiflung zu trinken gegeben wird, so daß es ihre Eingeweide auseinanderreißen wird?“

Sure 47, Vers 15.

Was uns in obigen Versen aus Sure 16 als Botschaft übermittelt wurde, ist also zugleich eine Art Vorgeschmack auf das von Gott verheißene Paradies. Auf unser heutiges Thema bezogen und zugespitzt formuliert: Im Genuss des berauschenden Weines erhalten wir eine Vorahnung vom Himmel.

Es wäre jedoch offensichtlich völlig falsch, wenn wir uns den gottesbewussten Muslim im Himmel als sturzbesoffenen Tunichtgut vorstellen – denn der Wein ist, wie wir schon gesehen haben, nicht nur eine Vordeutung auf das Paradies, sondern auch ein Übel des Teufels und Spiel mit dem Feuer. Und so fasst der Koran seine eigene Lehre zum Alkohol eigentlich auch selbst zusammen:

„Sie werden dich fragen nach berauschenden Getränken und Glücksspielen. Sag: ‚In beiden ist großes Übel wie auch einiger Nutzen für den Menschen; aber das Übel, das sie verursachen, ist größer als der Nutzen, den sie bringen.‘“

Sure 2, Vers 219.

Und wenigstens in meinen Augen, die vom westlichen Liberalismus geprägt wurden und damit wie alle Augen voreingenommen sind, ist es doch bezeichnend, dass die Anrede in (5:90) an alle Gläubigen gerichtet ist, während nur wenige Verse später für alle Rechtschaffenen unter gewissen Voraussetzungen Ausnahmen von der Regel erlaubt zu sein scheinen:

„Jene, die Glauben erlangt haben und rechtschaffene Taten tun, laden keine Sünde auf sich, indem sie zu sich nehmen, was immer sie mögen, solange sie sich Gottes bewußt sind und (wahrhaft) glauben und rechtschaffene Taten tun und fortfahren, sich Gottes bewußt zu sein und zu glauben und immer mehr sich Gottes bewußt werden und beharrlich Gutes tun: denn Gott liebt die, die Gutes tun.“

Sure 5, Vers 93.

Wie gesagt, ich bin als liberaler Mensch voreingenommen – aber es klingt für mich so, als gälten sämtliche Speisegebote nicht, insofern man an Gott glaubt und rechtschaffene Taten tut und immer weiter und immer mehr an Gott glaubt und rechtschaffen bleibt. Und das macht selbst für meine liberalen Ohren auch Sinn – denn Speisegebote aller Art sind meines Erachtens vor allem eine Möglichkeit und Gelegenheit, sich Gottes Geboten bei jeder Mahlzeit (also mehrmals täglich) bewusst zu bleiben; und das Problematische am Alkoholgenuss ist ja von einer höheren Warte betrachtet nicht der Alkoholgenuss selbst, sondern die schlechten Folgen, die sich aus dem Alkoholgenuss bei den allermeisten Menschen ergeben.

Widerspruch Nr. 7: Der lustige Suff der Herrschenden vs. der traurige Suff des Elenden

Ein letzter Aspekt, den Der Rausch selbst explizit aufzeigt, muss noch genannt werden: Denn mitten im Film findet sich – ungewöhnlich für einen fiktionalen Spielfilm – eine Montage von Aufnahmen offensichtlich betrunkener Staatsmänner und Weltenlenker wie dieser von Ex-Präsidenten Boris Jelzin (Russland) und Bill Clinton (USA) (ab 1:57). Das wirkt erst einmal lustig – bis man sich klar macht, dass diese Männer das Kommando über ein Atomwaffenarsenal haben, mit dessen Hilfe man das menschliche Leben auf unserem Planeten vollständig auslöschen könnte.

Es ist natürlich gut, wenn die Atomwaffenmächte so miteinander lachen können – immer noch besser, als wenn sie sich nüchtern den Krieg erklären. Aber etwas mulmig wird einem schon, wenn man sich vor Augen führt, dass die Anführer unserer Erde genauso zur Flasche greifen wie man selbst – ein Verhalten, das von der Bibel übrigens missbilligt wird:

„Könige, Lemuel, sollen keinen Wein trinken und Mächtige nicht nach Bier verlangen. Sonst trinken sie und verletzen die Satzung und beugen das Recht aller Elenden. Dem, der zugrundegeht, gebt Bier, und Wein denen, die verbittert sind. Sie sollen trinken und ihre Armut vergessen und nicht mehr an ihr Elend denken.“

Sprüche 31, 4-7.

Alkoholkonsum als Vorrecht der Armen und Elenden – wer hätte diese Position in der guten alten Bibel vermutet? Man kann natürlich darüber streiten, ob Bier und Wein für einen Obdachlosen wirklich die beste Idee sind. Aber seit ich diesen Bibelvers kenne, möchte ich mir darüber offen gestanden kein Urteil mehr erlauben und gönne ihnen ihren Rausch: Wer sonst nichts hat, soll sich wenigstens ordentlich besaufen können.

Bonus: Widerspruch Nr. 8: Das Homersche Alkohol-Paradox

Zum Abschluss dieses Textes kann ich mir nicht verkneifen, Homer Simpsons vielleicht berühmtesten Trinkspruch zu zitieren: „Auf den Alkohol: Die Ursache – und die Lösung – aller Probleme des Lebens.“ In diesem Sinne: Prost!

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