Mein letzter Blogeintrag hat mich viel Zeit und Mühe gekostet, sodass sich nach etwa zwei Wochen intensiver Arbeit ein gewisses Gefühl der Leere breitmachte: Worüber schreibe ich als nächstes? Da kam die Anfrage eines Freundes gerade recht: Ich könne doch mal eine Broschüre der Hans-Albert-Stiftung verreißen (seine Wortwahl!), an der er intensiv mitgearbeitet hat.
Ich war zugegebenermaßen ein bisschen skeptisch, da es in der Broschüre um kritischen Rationalismus als Lebenseinstellung geht: Wie soll ich eine Broschüre über das verreißen, was ich selbst in jahrelanger Selbstdisziplin zu praktizieren versuche?
Und nach vollständiger Lektüre der Broschüre kann ich meinem Freund den Gefallen eines Verrisses leider tatsächlich nicht erweisen: Sie bietet eine gemessen an ihrer Kürze beeindruckend konzise und exzellente Einführung in eine Lebenspraxis, der ich mich selbst – jedenfalls in weiten Teilen, mehr dazu später – verschrieben habe. Wer einen sehr gut lesbaren ersten Eindruck vom Kritischen Rationalismus gewinnen möchte, ist mit dieser Broschüre bestens beraten!
Ein schöner Slogan, den die Hans-Albert-Stiftung zu Recht ins Zentrum ihrer Startseite gestellt hat und der auch ein durchaus passender Slogan für meine Website wäre, lautet: Wir irren uns empor. Dieser Slogan drückt treffend aus, was ich in weiten Teilen meines Blogs zu unternehmen versuche: Nimm einen interessanten Text und finde die Fehler, auf dass meine Leser – und freilich auch ich! – aus diesen Irrtümern etwas lernen mögen!
Wenn ich mich also im Folgenden auf die Probleme stürze, die die Broschüre aufwirft, so soll das keineswegs als fundamentale Kritik an der Broschüre oder am Kritischen Rationalismus verstanden werden – es handelt sich vielmehr um eine Form der Selbstanwendung des Kritischen Rationalismus auf seine eigenen Grundlagen, durch die wir (hoffentlich) einige interessante Einsichten gewinnen können. Ich hoffe, die nun folgende Kritik ist meinem Freund und den restlichen Verfassern der Broschüre Geschenk genug (vgl. S. 16-17 der Broschüre) – mehr als das habe ich leider nicht zu bieten!
Was ist Kritischer Rationalismus?
Obwohl die Broschüre den Untertitel „Kritischer Rationalismus als Lebenseinstellung“ trägt, findet sich das Wort Rationalismus im Fließtext bemerkenswerterweise lediglich zwei Mal. Das erste Mal taucht es auf Seite 15 in folgendem Satz auf: „Der Kritische Rationalismus vertritt im Einklang mit Xenophanes die Auffassung, dass all unser Wissen fallibel (fehleranfällig) und damit bloß vorläufig ist.“
Wäre dieser Satz korrekt, so wäre der Kritische Rationalismus leider eine falsche Doktrin: Wissen ist nicht fehlbar; nur Menschen können fehlbar sein – aber auch bei dieser Fallibilismusthese, dass Menschen in ihren Erkenntnisbemühungen fehlbare Wesen sind, ist keineswegs klar, ob sie Ausdruck einer Binsenweisheit oder einer überzogenen Skepsis ist.
Es macht ebenfalls keinen Sinn zu sagen, dass unser Wissen bloß vorläufig ist: Wissen besteht (näherungsweise) in wahrer, gerechtfertigter Überzeugung – und einmal wahr ist immer wahr, und nicht bloß vorläufig! Man mache die Probe aufs Exempel: Wussten die Ptolemäer vorläufig, dass sich die Sonne und Planeten in komplizierten Epizyklen um die Erde drehen? Ich denke nicht: Sie wussten es gar nicht, weil es nicht stimmt!
Meine Vermutung ist, dass kritisch-rational eingestellte Menschen regelmäßig auf solche irrigen Formulierungen verfallen, weil sie sich vor ein Dilemma gestellt sehen: Einerseits wollen sie auf die Wissenschaft als Institution, die Wissen schafft, vertrauen können, und dieses Vertrauen als gerechtfertigt auch anderen Menschen anempfehlen – andererseits ist aber klar, dass die Geschichte der Wissenschaft auch eine Geschichte der Irrtümer ist, und dass wir daher nicht zweifelsfrei wissen können, was wir denn nun tatsächlich wissen. Pointiert formuliert: Wir mögen zwar einiges wissen – aber wir wissen nicht, was!
Dieses Faktum spiegelt sich recht schön in Karl Poppers Definitionsversuch, der auch in der Broschüre zitiert wird: „Der Kritische Rationalismus ist eine Lebenseinstellung, die zugibt, dass ich mich irren kann, dass du recht haben kannst und dass wir zusammen vielleicht der Wahrheit auf die Spur kommen werden.“ (S. 17) Mit jemandem, der sich nicht dem Kritischen Rationalismus in diesem Sinne verpflichtet fühlt, möchte ich ehrlich gesagt weder diskutieren noch sonderlich viel zu tun haben.
Ob der Kritische Rationalismus in dieser relativ schwachen Form Poppers noch ausreichend Profil besitzt, um als wohl abgegrenzte Lebenseinstellung gelten zu können, möchte ich als offene Frage im Raum stehen lassen, der man sich gar nicht unbedingt weiter widmen muss: Wenn man es irgendwie hinbekäme, dass alle Menschen in diesem Sinne kritisch-rational wären, wäre bereits viel gewonnen!
Was ist Rationalität?
Vielleicht um nicht als Verfechter eines -ismus zu gelten, wird in der Broschüre weniger von Kritischem Rationalismus gesprochen als allgemeiner von Rationalität bzw. einer kritisch-rationalen Denkweise. Die Broschüre gesteht zu, dass wir hier sogleich auf gewisse Probleme stoßen: Denn der Begriff der Rationalität wird „inflationär genutzt“ (S. 7), sodass es schwierig erscheint, dem Begriff ein klares Profil zu geben. Auf Seite 7 wird folgende Definition versucht:
„In einem allgemeinen Sinn meint er [d. h. der Begriff der Rationalität] letztlich nichts anderes als die Kunst des richtigen Denkens – also einer Form des Nachdenkens über die Welt, bei der wir aus unserem Wissen und unseren Erfahrungen angemessene, das heißt logisch fehlerfreie Schlüsse ziehen.“
Sehr gut gefällt mir an dieser Definition, dass Rationalität nicht als Eigenschaft verstanden wird, durch die sich der Mensch vom Tier abgrenzen lässt: Der Mensch ist vielmehr das vernunftbegabte Tier (vgl. S. 8), aber ob er diese Begabung auch kultiviert ist eine zweite Frage. Rationalität ist in diesem Sinne als eine Kunst zu verstehen, die erlernt und eingeübt werden will und in der man sich immer weiter verbessern kann – auch wenn natürlich nicht ganz klar ist, wie das gelingen kann, doch dazu am Ende mehr.
Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob es für Rationalität bereits ausreicht, aus Wissen und Erfahrungen logisch fehlerfreie Schlüsse ziehen zu können. Logisch fehlerfreie Schlüsse aus feststehenden Prämissen zu ziehen ist eine Aufgabe, die prinzipiell auch ein Computer vollführen kann, wenn man die Prämissen in geeigneter, d. h. computertauglicher Sprache formuliert. Trotzdem würde ich bestreiten, dass bspw. der Computer, der das Vier-Farben-Theorem bewiesen hat, über Rationalität verfügt.
Es ist allerdings äußerst knifflig zu sagen, worin Rationalität denn dann besteht. Meines Erachtens ergeben sich die zentralen Probleme aus dem Umstand, dass Rationalität ein polysemer Begriff ist. Um solchen Polysemien auf die Schliche zu kommen, habe ich im Philosophiestudium eine sehr praktische Methode gelernt: Welche Gegensatzpaare lassen sich zum untersuchten Begriff finden?
Rational vs. irrational
Der erste und offensichtliche Gegensatz zur Rationalität ist Irrationalität. Das liefert uns leider keinen großartigen Ansatzpunkt um den Begriff der Rationalität zu erhellen – denn wenn wir nicht wissen, was Rationalität ist, wissen wir genauso wenig, was Irrationalität ist. Aber eines sticht jedenfalls mir sofort ins Auge: Der Begriff der Irrationalität ist eigentlich immer mit einer normativen Bewertung verbunden!
Man betrachte etwa den folgenden Beispielsatz: „Stefan hat sich irrational verhalten.“ Wir haben keine Ahnung, was Stefan genau gemacht hat – aber ich würde sagen, dass wir trotzdem eine grobe Ahnung haben, dass er irgendeine Art von Fehler gemacht hat, weil er nicht genügend nachgedacht hat. Insofern nun der Begriff des Fehlers negativ aufgeladen ist – denn auch wenn wir uns empor irren: wer will schon Fehler machen? –, ist es auch der Begriff der Irrationalität.
Das bedeutet aber im Umkehrschluss, dass auch der Begriff der Rationalität in seiner Grundbedeutung – wie unklar auch immer sie uns erscheinen mag – positiv aufgeladen und damit jedenfalls auch eine normative Funktion hat: Wer rational ist, könnte man über die Abgrenzung zur Irrationalität sagen, hat in einem gewissen Sinne hinreichend lange bzw. gründlich über sein Verhalten nachgedacht – und dieses hinreichend gründlich ist eine normative Bewertung seiner Denkprozesse.
Rational vs. emotional
Das zweite Gegensatzpaar, das wohl mindestens ebenso grundsätzlich ist wie das erste, ist die Unterscheidung zwischen rational und emotional. Wer rational handelt, lässt sich von seinen Gedanken leiten; wer emotional handelt, lässt sich von seinen Emotionen leiten: So könnte man den Gegensatz in erster Annäherung zu fassen versuchen.
Man kann sich an Beispielen klar machen, dass dieser Gegensatz tatsächlich in gewissen Kontexten einschlägig ist. So könnte jemand mit einer Angststörung beispielsweise die Aufforderung bekommen, einmal gegen seine Angst zu handeln, weil das ein probates Mittel sein kann, seine übertriebenen Ängste zu besiegen. Das ist nicht mein persönlicher Tipp an den Leser – es zeigt nur, dass wir uns problemlos vorstellen können, unseren Gedanken zu folgen und nicht unseren Emotionen.
Umgekehrt kann es für extrem vergeistigte Menschen (hallo, hier bin ich!) auch einmal ratsam sein, nicht jede Situation erst zu durchdenken, sondern sich einfach seinen Emotionen hinzugeben und zu tun, was einem Spaß macht! Hör auf deinen Bauch, lass fünfe gerade sein, grübel nicht so viel, mach dich mal locker und entspann dich! An beiden Beispielen kann man sehen: Rational und emotional sind in diesem Sinn wertfrei gebraucht, denn beides hat zu seiner Zeit je seine Berechtigung.
Schwierig wird es natürlich dadurch, dass der Begriff der Rationalität polysem ist: So kommen wir dazu, dass wir die normative Dimension aus dem ersten Gegensatzpaar nolens volens auf das zweite Gegensatzpaar übertragen und damit sagen: Sich von seinen Gedanken leiten lassen ist gut, sich von seinen Emotionen leiten lassen ist schlecht. In Ansätzen findet sich diese Tendenz auf Seite 7 der Broschüre, wo die Bezugnahme auf „gefühlte Wahrheiten“ im Zusammenhang mit schwerwiegenden Entscheidungen kritisiert wird.
Ich muss sagen, dass ich bei dieser Kritik an „gefühlten Wahrheiten“ gerade im Zusammenhang mit politischen oder moralischen Entscheidungen große Bauchschmerzen habe. Natürlich können und sollen Emotionen auch vor dem Richterstuhl der Vernunft befragt werden dürfen – aber ich bin nicht überzeugt, dass die Vernunft unbedingt die letzte Entscheidungsgewalt haben sollte. Denken wir etwa an das Milgram-Experiment, so wäre eine größere Bereitschaft zum Hören auf das emotionale Gewissen manchmal vielleicht wünschenswerter als eine durchaus vernünftig zu nennende Autoritätshörigkeit.
Natürlich plädiert auch die Broschüre nicht für eine blinde Autoritätshörigkeit – im Gegenteil proklamieren die Autoren auf Seite 19 programmatisch: „Als Kritische Rationalisten streben wir danach, unsere Überzeugungen im Lichte neuer Erkenntnisse anzupassen, uns unsere kognitiven Verzerrungen bewusst zu machen und Meinungen nie einfach unhinterfragt von Autoritäten zu übernehmen […].“
Das klingt toll – aber ich rieche hier einen Fall von kognitiver Verzerrung, die auch in der Broschüre einen prominenten Platz erhält: Der Bestätigungsfehler (confirmation bias): „Daten, die unsere bestehende Einstellung stützen, bewerten wir höher als entgegenstehende Informationen. Oft wischen wir letztere nicht einfach nur leichtfertig beiseite, sondern nehmen sie nicht einmal wahr.“ (S. 11) Warum ist obiges Zitat ein Beispiel für den Bestätigungsfehler?
Nun, die Autoren sind mutmaßlich studierte Philosophen und sind daher darauf trainiert, keinem philosophischen Text einfach blind zu trauen – vielmehr werden die Argumente rekonstruiert, die Prämissen geprüft, Gegenbeispiele formuliert, und so weiter. Das ist ihr Job. Also übernehmen sie keine Meinungen unhinterfragt. Oder?
Sobald wir uns aus dem Feld der Philosophie hinausbewegen, wird es aber schwieriger. Denn Philosophen (meine Wenigkeit eingeschlossen) werden in der Regel große Schwierigkeiten haben, wissenschaftliche Texte aus anderen Fachbereichen überhaupt zu rezipieren. Wie alle anderen Laien sind auch wir auf Wissenschaftler angewiesen, die uns ihre Erkenntnisse in verhältnismäßig mundgerechten Häppchen zu servieren – und uns bleibt eigentlich wenig anderes übrig, als diesen Wissenschaftlern und dem wissenschaftlichen Prozess, der zu ihren Erkenntnissen geführt hat, unhinterfragt zu vertrauen.
Womit wir wieder bei einer Emotion wären: Vertrauen. Meines Erachtens wird diese Emotion in der philosophischen Literatur sträflich vernachlässigt, dabei könnte man sagen, dass sie ein Grundpfeiler für Rationalität überhaupt ist! Nehmen wir nur einmal den Spracherwerb und stellen uns vor, ein Kind habe kein Vertrauen darin, dass das, was seine Eltern sagen, wahr ist: Wie sollte es dann überhaupt Sprache lernen? Damit wir Sprache überhaupt erlernen können, müssen wir darauf vertrauen, dass uns unsere Eltern und nahen Bezugspersonen keinen Scheiß erzählen. Und Kinder tun das auch instinktiv – bis sie in das rebellische Jugendalter kommen, in dem die Autoritäten erstmals auf den Prüfstand kommen.
Aber selbst in der Pubertät werden Jugendliche nicht plötzlich niemandem mehr trauen: Vielmehr suchen sie sich ihre Vertrauenspersonen selber aus. Nicht mehr die biologische Abstammung entscheidet darüber, wem ich in meinen Überzeugungen folge, sondern meine eigene, freie Entscheidung.
Eine daran anknüpfende Frage lautet freilich: Wem sollte ich vertrauen? An dieser normativen Frage könnte man versuchen, eine Epistemologie des Vertrauens zu entwickeln – das wird allerdings nicht meine Aufgabe sein, ich werde höchstens mal einen Blogeintrag dazu verfassen. Wer noch eine interessante Idee für eine Dissertation gesucht hat: Bitte schön, gern geschehen!
Man könnte sicher noch mehr interessante Gegensatzpaare aufmachen, um den Begriff der Rationalität stärker zu konturieren: Rational vs. impulsiv; Rational vs. intuitiv; Rational vs. unvernünftig; Rational vs. verrückt; und wer weiß, was man sich noch einfallen lassen kann. Man könnte auch noch betrachten, wie der Begriff in der Ökonomie verwendet wird oder den Zusammenhang zur Zweckrationalität herstellen. Aber das führt an dieser Stelle zu weit, da von der Broschüre weg. Mir soll hier der Aufweis genügen, dass und warum der Zusammenhang von Rationalität und Emotion in der Broschüre jedenfalls zwiespältig erscheint.
Rationalität: Lebenshaltung oder Instrument?
Ebenso zwiespältig ist es, wenn einerseits Rationalität als Lebenshaltung propagiert wird (vgl. allgemein den Untertitel der Broschüre sowie speziell S. 17), andererseits aber Rationalität als ein bloßes „Instrument“ verstanden wird, „das uns hilft, die Welt um uns zu verstehen und unsere Ziele zu erreichen.“ (S. 23) Aber können wir von einer Lebenshaltung einfach Urlaub nehmen? Wenn Rationalität eine Kunst ist: Können wir sie dann zeitweilig ablegen wie einen Mantel?
Aus meiner eigenen Erfahrung muss ich sagen: Nein, kann man nicht. Jedenfalls nicht so ohne Weiteres. Es ist aber natürlich etwas Wahres dran: Auch ich denke, dass es gut ist, sich Oasen der Unvernunft zu schaffen, innerhalb derer man sich „von den Anstrengungen der Rationalität befreit“ (S. 23). Stoßen wir hier etwa auf eine Art Dialektik der Vernunft?
Ich glaube nicht. Die prosaische Wahrheit wird vielmehr sein, dass ich hier unter der Hand „Unvernunft“, „Gegenteil von Rationalität“ und „Emotion“ miteinander vermengt habe. Es ist vernünftig, ein gutes Leben führen zu wollen, und wie auch immer das gute Leben aussieht, wird es nicht dauerhaft gegen die eigenen Emotionen geführt werden können. Insofern ist es rational, den eigenen Emotionen ihren gebührenden Raum zu geben – sie sind nämlich nicht der Gegenspieler der Rationalität, sondern beide bilden zusammen ein sich ergänzendes Team.
Kritischer Rationalismus vs. Cancel Culture
Zum Abschluss möchte ich auf einen Punkt zu sprechen kommen, der mir ebenfalls etwas sauer aufgestoßen ist. Als Kritischer Rationalist, der an die Möglichkeit glaubt, durch freien Diskurs mit anderen zur Wahrheit vorzudringen, habe ich es sehr begrüßt, dass sich auch die Broschüre auf Seite 25 gegen die „fortschreitende ‚Cancel Culture‘“ und für „offene Denk- und Debattenräume“ positioniert hat. Im Rahmen einer produktiven Kultur des Streitens wird dafür plädiert, „unserem Gesprächspartner mit Wohlwollen entgegen[zu]treten und grundsätzlich dazu bereit […zu sein], uns überzeugen zu lassen.“ (S. 27)
Irritiert hat mich vor diesem Hintergrund allerdings die folgende These auf der gleichen Seite: „Insbesondere extremistischen und totalitären Einstellungen sollten wir keine Toleranz entgegenbringen, da wir sonst in Gefahr geraten, unsere eigene Freiheit abzuschaffen.“ Nun ist natürlich die Frage, wie der Satz aufzufassen ist: Alles hängt am kleinen Wörtchen „Toleranz“.
Es sollte jedoch zu denken geben, dass ein Vertreter der „Cancel Culture“ ebendiese Forderung der Intoleranz gegenüber der Intoleranz ins Feld führen wird, um seine Schließung der Debattenräume für (vermeintlich oder tatsächlich) extremistische oder totalitäre Positionen zu legitimieren. Hat man aber erst einmal dieses Zugeständnis gemacht, so läuft man nicht mehr bloß Gefahr, die eigene Freiheit abzuschaffen – man hat sie bereits abgeschafft!
Daher bin ich der Ansicht, dass man im Zweifel lieber auf den „eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ (Habermas) verlassen sollte, anstatt sich von der Angst treiben zu lassen, dass die Extremisten und Fundamentalisten möglicherweise die besseren Argumente haben. Dies gilt um so mehr vor dem Hintergrund der um sich greifenden Filterblasen, die maßgeblich durch die Algorithmen der großen Unternehmen aus dem Silicon Valley mitgestaltet werden. Oder glaubt irgendjemand, dass solche Positionen innerhalb der Filterblasen ernsthaft diskutiert werden? Und wenn der Kritische Rationalist diese Blasen nicht zum Platzen bringt: Wer dann?
Da ich meine Website von meinem eigenen Taschengeld bezahle und völlig unter dem Radar des Establishments hinwegfliege, könnte mir persönlich die ganze „Cancel Culture“ natürlich gepflegt am Allerwertesten vorbeigehen. Da ich aber für meine Kommentarspalten im Blog meines Wissens haftbar gemacht werden kann, kann es mir leider doch nicht so völlig egal sein, was der werte Leser auf meinen Seiten so schreibt – und plötzlich wäre ich doch mittendrin im Getümmel, so es denn einmal zu nennenswertem Kommentaraufkommen kommen sollte.
Was ich äußerst bedauerlich finde: Denn die Rechtslage zwingt mich zur Moderation, wo ich am liebsten gar nicht moderieren würde. Das nur als juristische Randbemerkung, sollte mir irgendwer aufgrund eines nicht frei geschalteten Kommentars Heuchelei und Zensur vorwerfen wollen… Aus Gründen des Anstands und der intellektuellen Redlichkeit muss ich allerdings meinem Plädoyer gegen die „Cancel Culture“ hinzufügen, dass ich selbst ein (vermutlich unverbesserlicher) Extremist bin: Im politischen Spektrum kann es mir gar nicht weit genug links sein – und vielleicht ist es bloß mein gleichfalls bestehender religiöser Fundamentalismus, der mich vom extremistischen Irrweg des gewalttätigen Widerstands abhält. Insofern möchte ich als Vertreter des radikalen kritischen Rationalismus vielleicht auch einfach nur nicht an dem Ast sägen, auf dem ich selber sitze.