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Wittgenstein, Heidegger und die Verwobenheit von Sprache und Lebenspraxis

Wie kommt man auf die Idee, eine Doppelbiographie über Wittgenstein und Heidegger zu schreiben? Hier Ludwig Wittgenstein, der enigmatische Sprachphilosoph, der die Aufgabe der Philosophie vor allem darin gesehen hat, durch genaue und klare Sprachanalyse den Verstand von seiner Verhexung durch die Sprache zu befreien – und dort Martin Heidegger, der den Verstand seiner Zuhörer und Leser mit dichterisch anmutenden fundamentalontologischen Daseinsanalysen und der Frage nach dem Sinn von Sein verzauberte und oftmals zu eigener Heideggerei anregte.

Welcher Wahnsinn auch immer Manfred Geier geritten hat, sein Buch Wittgenstein und Heidegger. Die letzten Philosophen zu schreiben: Möge dieser Wahnsinn ihn auf seinem weiteren Lebensweg begleiten, ist ihm doch eine ganz vorzügliche Darstellung dieser beiden „letzten Philosophen“ gelungen, die dem interessierten Laien nicht nur das Leben, sondern auch das philosophische Wirken dieser großen Denker des 20. Jahrhunderts näherzubringen versteht.

Die Verwobenheit von Sprache und Lebenspraxis bei Heidegger und Wittgenstein

So unterschiedlich die Denker auch gewesen sind, so interessant ist es zu sehen, dass ihr Denken sie völlig unabhängig voneinander zu einer zentralen Einsicht der Philosophie des 20. Jahrhunderts geführt hat: Nämlich in die Einsicht von der Verwobenheit der Sprache mit der Lebenspraxis.

Eine naive, aber weit verbreitete Ansicht über die Sprache lautet, dass Worte gewissermaßen Namen für Dinge, Vorgänge oder Eigenschaften sind, und dass wir in unseren Aussagesätzen diese Namen miteinander in Beziehung setzen. Und ganz falsch ist diese Ansicht nicht, wenn wir daran denken, wie wir unseren Kindern die Sprache beibringen: So zeigen wir auf gewisse Objekte und sagen „Da ist eine Katze,“ oder „Das Auto da ist rot.“

Aber genauso wenig wie sich unser Sprechen mit Kindern auf solche deiktisch-zeigenden Aussagesätze reduzieren lässt, so wenig drücken Worte und Sätze einfach nur das aus, was man beispielsweise in einem Bilderbuch sehen und katalogisieren kann, und es ist eigentlich erstaunlich, dass es Jahrtausende gebraucht haben soll, bis sich diese Einsicht im letzten Jahrhundert langsam durchzusetzen begann.

Für Heidegger bilden Worte und Sätze ein Geflecht, welches mit unserem alltagspraktischen Umgang mit den Dingen verwoben ist. Ein Hammer ist demnach nicht einfach nur ein Holzstab mit einem metallenen Kopf drauf. Ein Hammer ist vielmehr ein Ding – oder wie Heidegger sagen würde: ein Zeug – mit dem man hämmert, und der Vorgang des Hämmerns verweist wiederum unter anderem auf einen Nagel und eine Wand, in die man den Nagel hineinhämmern kann.

Für den späten Wittgenstein wiederum kann man sprachliche Ausdrücke eigentlich gar nicht verstehen, ohne sich den Kontext anzuschauen, in dem sie geäußert werden. Grundlegend für ihn ist der Begriff des Sprachspiels: Der Vollzug unserer sprachlichen Äußerungen und Handlungen ist demnach in ein durch meist implizit bleibende, kontextabhängige Regeln strukturiertes Sprachspiel eingebunden, und die Bedeutung unserer Sätze ergibt sich daher nicht wie in der naiven Sicht aus der Beziehung von Namen miteinander, sondern aus dem Gebrauch innerhalb des Sprachspiels.

Ein Beispiel soll diesen Gedanken verdeutlichen. Wir befinden uns im philosophischen Seminar und diskutieren angeregt über den Wittgensteinschen Gedanken, dass Sprachspiele durch Regeln konstituiert seien, fragen uns aber, wie das eigentlich funktionieren soll, wenn doch die Regeln gar nicht explizit formuliert sind. Ich hebe meine Hand. Dieser Vorgang ist bereits nur innerhalb des laufenden Sprachspiels zu verstehen, denn das Heben meiner Hand zeigt an, dass ich etwas zur Diskussion beitragen möchte und auf die Erteilung des Wortes durch den Dozenten warte.

Der Dozent zeigt mit seiner Hand auf mich und nennt meinen Namen. Auch dieser Vorgang ist nur innerhalb des Sprachspiels voll verständlich: Der Dozent will damit nicht etwa zum Ausdruck bringen, dass dieser Student dort Tobias Förster heißt, sondern dass er mir das Wort erteilt und ich reden darf. Daraufhin sage ich: „Jesus Christus ist der Sohn Gottes, unser Erlöser.“ Alle schauen mich verdattert an, und der Dozent fragt: „Was wollen Sie uns damit sagen?“ Meine Antwort: „Ich wollte damit den Punkt illustrieren, dass wir uns alle hier an die implizite Regel halten, dass eine Wortmeldung etwas zur Diskussion beizutragen hat. Eine solche implizite Regel wird einem erst dann wirklich bewusst, wenn sie gebrochen wird. Das bedeutet aber nicht, dass es sie nicht gibt.“

Der frühe Wittgenstein und das Scheitern des Korrespondenzmodells der Idealsprache

Einer der wirklich großen Züge an Wittgenstein ist, dass er selbst in früheren Jahren eine Position vertreten und bis zur letzten Konsequenz geführt hat, die diesem Bild des Sprachspiels diametral entgegensteht. Im Tractatus logico-philosophicus hämmerte er völlig losgelöst vom üblichen argumentativ begründenden Vorgehen der philosophischen Sprachspiele seine Thesen wie Ochsennägel aneinander, die man in ihrer Wucht eigentlich nur im Original zitieren sollte:

„1. Die Welt ist alles, was der Fall ist.

1.1. Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge. […]

2. Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten.

2.01. Der Sachverhalt ist eine Verbindung von Gegenständen (Sachen, Dingen). […]

3. Das logische Bild der Tatsachen ist der Gedanke. […]

4. Der Gedanke ist der sinnvolle Satz.

4.001. Die Gesamtheit der Sätze ist die Sprache. […]“

Tractatus Logico-philosophicus.

Im Kern finden wir hier vom frühen Wittgenstein den Gedanken formuliert, dass zwischen der Welt und der Sprache eine Korrespondenz besteht: Einerseits haben wir die Welt, welche gewissermaßen als ein (freilich unüberschaubares) Konglomerat an Sachverhalten aufgefasst werden kann, andererseits haben wir die sinnvollen und wahren Sätze, welche diese Sachverhalte abbilden. Sprache wiederum wird verstanden als Gesamtheit aller (sinnvollen und sinnlosen, wahren und falschen) Sätze.

Diesen Zusammenhang zwischen Sprache und Welt könnte man anschaulich so illustrieren: Da Sprache die Gesamtheit aller Sätze ist, können wir uns die Sprache prinzipiell als eine Liste aller möglichen Sätze vorstellen – schreiben wir also in Gedanken einmal alle Sätze hin, so haben wir die komplette Sprache in Form einer Liste vor uns liegen. Nun stellen wir uns vor, dass wir alle sinnvollen und wahren Sätze mit einem grünen Textmarker anstreichen: Dann ist die Gesamtheit der grün markierten Sätze unserer Sprache gerade ein komplettes Spiegelbild der Welt als Gesamtheit der Tatsachen.

Ein ziemlich offensichtlicher Einwand gegen diese Vorstellung des Zusammenhangs von Sprache und Welt ist schnell bei der Hand: Wie soll eine statische Liste grüner Sätze ein vollständiges Spiegelbild der Wirklichkeit sein, wenn sich die Welt doch beständig ändert? Aber dieser Einwand ist schnell auszuräumen, indem wir das Bild von der Liste dynamisieren: Im selben Maße, in dem sich die Welt ändert, müssen wir auch verschiedene Sätze grün markieren, sodass sich die stetigen Wandlungen der Welt in stetigen Fluktuationen des Grüns auf unserer Liste widerspiegeln.

Ein weiterer Einwand gegen diese Vorstellung des Zusammenhangs von Sprache und Welt besteht in der Polysemie von Ausdrücken und Sätzen: Der Satz „Der Läufer liegt auf dem Boden“ kann ganz verschiedene Sachverhalte bedeuten – es könnte ein Teppich auf dem Boden liegen, oder ein erschöpfter Sportler, oder eine Schachfigur. Daher ist die Vorstellung irrig, dass es eine 1:1-Korrespondenz zwischen Sätzen und Sachverhalten gibt.

Dieser Einwand lässt sich dadurch entkräften, dass wir nicht unsere tatsächliche Sprache zugrunde legen, sondern von der Vorstellung einer Idealsprache ausgehen, in der alle mehrdeutigen Begriffe durch eindeutige Begriffe ersetzt werden. So könnte „Läufer-1“ für einen Teppich stehen, „Läufer-2“ für einen Sportler, und „Läufer-3“ für eine Schachfigur. Würden wir die Sprache derart bereinigen, könnte man die Vorstellung von einer 1:1-Korrespondenz zwischen Sprache und Welt wieder aufrechterhalten.

Ebenso müssen wir im Übrigen verfahren, wenn wir dem Phänomen des Bedeutungswandels der Worte im historischen Verlauf gerecht werden wollen: Worte wie „geil“, „gay“ oder „krass“ haben heute im Allgemeinen eine ganz andere Bedeutung als vor 100 Jahren – aber wenn wir nur eine Idealsprache betrachten, in der die Ausdrücke „geil-1“, „geil-2“, usw. für die verschiedenen Bedeutungen im Wandel der Zeit verwendet werden, so könnte die Korrespondenz von Sprache und Welt wiederhergestellt werden.

Spätestens mit dieser Vorstellung einer Idealsprache wird allerdings deutlich, dass wir Sprache nicht mehr als natürliches Phänomen, sondern als etwas Abstraktes auffassen: Die vorgestellte Liste aller Sätze konnte ja aufgrund ihrer Unendlichkeit von vornherein nie ein Teil der Welt sein, sondern muss sich wie das Universum aller Mengen oder die Gesamtheit aller natürlichen Zahlen in einer Sphäre der abstrakten Gegenstände befinden.

Aber nun scheint es doch so zu sein, dass wir auf der einen Seite die konkrete Welt als Gesamtheit der Tatsachen haben, auf der anderen Seite die abstrakte Liste mit den grün markierten Sätzen, und darüber hinaus die 1:1-Korrespondenz zwischen Tatsachen und Sätzen.

Wenn jedoch die 1:1-Korrespondenz sowohl über Tatsachen als auch Sätze hinausgeht, wenn sie also weder Teil der Welt noch Teil der Liste ist, weil sie Welt und Liste übersteigt, so kann sie in unserem Korrespondenzmodell der Sprache gar nicht ausgedrückt werden: Der Satz „Es gibt eine 1:1-Korrespondenz zwischen Tatsachen und Sätzen“ mag zwar Teil unserer Sprache sein, aber er ist auf der Liste nicht grün markiert, weil er überraschenderweise unsinnig ist. Paradox formuliert: Der Satz sagt etwas aus, was die Grenzen dessen übersteigt, was sprachlich sinnvoll geäußert werden kann.

Den frühen Wittgenstein zeichnet wiederum aus, dass er vor dieser Einsicht keineswegs zurückgeschreckt ist, sondern am Ende seines Werkes die unerbittliche Konsequenz selbst gezogen hat:

„6.54. Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.“

Ohne es damals schon zu wissen, weist er an dieser Stelle bereits über den Tractatus auf die paradox anmutende Einsicht seines Spätwerks voraus: Erst wenn wir uns vom absolutistischen Korrespondenzmodell einer Idealsprache verabschieden, können wir die Welt und den in ihr herrschenden Sprachgebrauch richtig sehen und auch – sprachlich abbilden. Die dabei leitende Methode ist ebenfalls bereits im Tractatus in einer Randbemerkung zu finden:

„6.211. […] (In der Philosophie führt die Frage: „Wozu gebrauchen wir eigentlich jenes Wort, jenen Satz?“ immer wieder zu wertvollen Einsichten.)“

Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen?

Zu der anhaltenden Faszination, den der Tractatus noch immer ausübt, trägt gewiss seine immer wieder mit Händen greifbare Widersprüchlichkeit bei. Wie ist etwa die von Wittgenstein vertretene Unsinnigkeit des Tractatus mit seiner selbstgewissen Aussage aus dem Vorwort zu vereinbaren, dass ihm „die Wahrheit der hier mitgeteilten Aussagen unantastbar und definitiv“ scheint? Wie kann der Tractatus wahr und unsinnig zugleich sein?

Die gleiche Frage stellt sich mit Bezug auf seinen berühmten Abschlusssatz des Tractatus:

„7. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“

Dieser Satz schillert zwischen verschiedenen Bedeutungen, die von der Lesart des Wörtchens „muß“ abhängen. Erstens könnte man es als eine Art moralischen Imperativ verstehen: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber solltest du schweigen.“ Freilich hat Wittgenstein zuvor im Tractatus ausgeschlossen, dass die Ethik sich aussprechen lässt (vgl. 6.42, 6.421) – sollte er das also gemeint haben, wäre es nach seinen Maßstäben unsinnig.

Zweitens könnte man das „muß“ als eine logische Notwendigkeit verstehen: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schon aus logischen Gründen zwangsläufig schweigen.“ So formuliert scheint der Satz aber bereits durch den Tractatus selbst widerlegt zu werden – ein in seiner Gesamtheit aus logischen Gründen unsinniges Werk als „Schweigen“ zu betiteln, täte dem Wort doch erhebliche Gewalt an.

Drittens könnte man diese Probleme dadurch umgehen, dass man sich des Wörtchens „muß“ entledigt und folgende Lesart vorschlägt: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber kann man nicht sprechen.“ Dieser Satz ist zwar nur eine langweilige Tautologie, der die abgründige Faszination des tatsächlichen Abschlusssatzes abgeht – aber immerhin wäre es zur Abwechslung eine Interpretation, die den Satz wahr machen würde.

Wittgensteins sprachphilosophischer Skeptizismus und seine Folgen für die Lebenspraxis

Wittgensteins letzte Sätze seines Vortrags über Ethik legen meines Erachtens nahe, dass er den Satz tatsächlich tautologisch gemeint hat:

„Ich sehe jetzt, daß diese unsinnigen Ausdrücke nicht deshalb unsinnig waren, weil ich die richtigen Ausdrücke noch nicht gefunden hatte, sondern daß ihre Unsinnigkeit ihr eigentliches Wesen ausmacht. Denn ich wollte sie ja gerade dazu verwenden, über die Welt – und das heißt: über die sinnvolle Sprache – hinauszugelangen. Es drängte mich, gegen die Grenzen der Sprache anzurennen, und dies ist, glaube ich, der Trieb aller Menschen, die je versucht haben, über Ethik und Religion zu schreiben oder zu reden.

Dieses Anrennen gegen die Wände unseres Käfigs ist völlig und absolut aussichtslos. Soweit die Ethik aus dem Wunsch hervorgeht, etwas über den letztlichen Sinn des Lebens, das absolut Gute, das absolut Wertvolle zu sagen, kann sie keine Wissenschaft sein. Durch das, was sie sagt, wird unser Wissen in keinem Sinne vermehrt. Doch es ist ein Zeugnis eines Drangs im menschlichen Bewußtsein, das ich für mein Teil nicht anders als hoch achten kann und um keinen Preis lächerlich machen würde.“

Wittgenstein, Vortrag über die Ethik.

Freilich muss man aber sagen, dass Wittgenstein für seine Überzeugung, dass man in der Ethik zu keinem Wissen gelangen kann, in seinem Leben einen hohen Preis zahlen musste, da er sich nach Manfred Geiers Darstellung offenbar gewisse „Idealvorstellungen“ eines „guten Charakters“ zu eigen gemacht hat, denen ein Mensch niemals gerecht werden kann. So soll er einmal auf die Frage, ob er etwa vollkommen sein wolle, stolz geantwortet haben: „Natürlich will ich vollkommen sein.“ (Wittgenstein und Heidegger, S. 251.)

Die Folgen, die sich aus einem solchen überzogenen Anspruch an sich selbst ergeben, liegen auf der Hand: Ständige Selbstzweifel und -vorwürfe bis hin zu suizidalen Gedanken. Der für Wittgenstein so selbstzerstörerische, grundlegende Widerspruch bestand meines Erachtens darin, dass er zugleich folgende Überzeugungen hatte:

1. Es gibt vollkommene Menschen: Jesus war ein Beispiel. (Vgl. Wittgenstein und Heidegger, S. 252.)

2. In Bezug auf religiöse und ethische Fragen können wir nichts wissen. (Wir können darüber nicht einmal etwas sagen – siehe obiges Zitat aus dem Vortrag über Ethik.)

3. Worüber wir nichts wissen können, sollten wir auch nicht sprechen – das gebietet die Ehrlichkeit. (Diese Überzeugung unterstelle ich Wittgenstein ohne konkreten Beleg – sie ergibt sich aber aus seiner gelebten Ehrlichkeit relativ natürlich aus Überzeugung 2.)

Nun ist allerdings völlig klar, dass die Aussagen 1 bis 3 nicht alle zugleich wahr sein können: Denn wenn wir tatsächlich über Religion und Ethik nichts wissen können, und wenn wir deshalb auch nicht über diese Themen sprechen sollten, dann war Jesus von Nazareth sicherlich kein vollkommener Mensch – denn was hat er anderes getan als unentwegt über Religion und Ethik zu sprechen?

Noch schlimmer ist indes, dass (jedenfalls soweit ich sehen kann) sogar alle drei Aussagen falsch sind:

Erstens mag Jesus von Nazareth, so wie er in der Bibel dargestellt wird, meinetwegen als Beispiel einer vollkommenen Person durchgehen. Das Problem ist aber, dass er in der Bibel als Gott dargestellt wird! Damit taugt er nicht als Beispiel für einen vollkommenen Menschen – die historische Person Jesus von Nazareth wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ebenfalls seine Schwächen gehabt haben, die von den Autoren der Evangelien allerdings geflissentlich übergangen werden. (Und warum auch nicht? Wir lernen schließlich am Vorbild.)

(Es mag natürlich Leute geben, die die Wundererzählungen der Bibel wörtlich nehmen und allen Ernstes glauben, dass sich beispielsweise die an den Anfang der Schöpfungsgeschichte verweisende Geschichte vom über das Wasser wandelnden Jesus von Nazareth tatsächlich so ereignet hat. Kann man natürlich glauben. Ist aber meines Erachtens völlig irrational, und verkennt zudem den theologischen Punkt, den die Evangelisten mit dieser Geschichte machen wollten.)

Damit wird nebenbei auch Wittgensteins Vollkommenheitsanspruch an sich selbst zumindest fragwürdig: Denn wenn man so vollkommen sein will wie der biblische Jesus, dann will man nach dem eben gesagten so sein wie Gott – aber war das nicht gerade das Lockmittel, mit dem die Schlange Eva im Paradies in den „Sündenfall“ geködert hat? Verflixt, die Bibel ist ganz schön kompliziert und paradox – das merkt man allerdings nicht, wenn man sich das Denken darüber mit dem Hinweis darauf verbietet, dass es da eh nichts zu wissen (oder gar zu sagen) gibt.

Womit wir bei zweitens wären: Dass Jesu Wandeln über dem Wasser eine Anspielung auf den Beginn der Schöpfungsgeschichte darstellt, nach der der Geist Gottes vor der Erschaffung des Lichts über die Urflut wehte, ist ein religiöser Sachverhalt, den man wissen kann. Und dass das Foltern unschuldiger Menschen prima facie moralisch verwerflich ist, ist ein ethischer Sachverhalt, den man wissen kann. (Man kann sich seltsame Gegenbeispiele ausdenken, in denen etwa der Abwurf einer Atombombe nur dadurch gestoppt werden kann, dass man einen unschuldigen Menschen foltert. Das ändert aber nichts daran, dass das Foltern unschuldiger Menschen prima facie falsch ist.) Damit ist 2 falsch.

Drittens ist das Gebot, nur über Dinge zu sprechen, bezüglich derer wir etwas wissen können, völlig banausisch: Wir sollten demnach etwa keine Kunstwerke interpretieren, weil es dabei nichts zu wissen gibt. Und selbst wenn man unterstellen würde, dass es bezüglich ethischer Fragen nichts zu wissen gibt, wäre das kein Argument für die These, dass man über ethische Fragen nicht sprechen sollte – umgekehrt wird ein Schuh draus! Gerade wenn es in ethischen Fragen nichts zu wissen gibt, sollte man sich über diese Dinge mit möglichst vielen anderen Menschen austauschen, um sich ein umfassendes Bild ethischer Standpunkte und Argumente zu verschaffen, mithilfe derer man sich dann im Handeln orientieren kann.

Und damit kommen wir wieder auf die zentrale sprachphilosophische Einsicht Wittgensteins und Heideggers zurück: Die Verwobenheit der Sprache mit der Lebenspraxis. Es ist eine seltsame Ironie des Weltlaufs, dass ausgerechnet zwei eigenbrötlerische Denker quasi im stillen Kämmerlein darauf gestoßen sind, dass Sprache und Handeln unauflöslich miteinander verschlungen sind. Weniger ironisch sondern vielmehr konsequent ist es, dass ihr einzelgängerisches Dasein sich in einer vollständigen ethischen Leere ihrer Philosophien spiegelt, welche hinwiederum ihre in Wittgenstein und Heidegger geschilderten erratischen Lebensläufe zu erklären vermag.

Wittgenstein und Heidegger: Die letzten Philosophen?

Zum Abschluss möchte ich noch auf den Untertitel Die letzten Philosophen eingehen: Warum sollten Wittgenstein und Heidegger die letzten Philosophen gewesen sein? Geier begründet den Untertitel im Vorwort wie folgt: „Als letzte Philosophen gehörten beide zu einem Typus, der Geschichte geworden ist. Sie waren Solitäre wie all die Philosophen, die seit den griechischen Anfängen kosmologischer und metaphysischer Welterklärung einen eigenen Sprachstil entwickelten, mit dem zugleich ein neuer Denkstil erprobt wurde. […] Ihre Zeit ist abgelaufen. Denn heute kann kein Einzelner mehr in der Lage sein, die Welt als alles, was der Fall ist, so zu durchschauen, dass er eine philosophisch tief begründete theoretische oder praktische Orientierung geben könnte.“ (S. 10)

Diese Einordnung Wittgensteins und Heideggers als letzte Philosophen überzeugt in mehreren Hinsichten nicht. Erstens waren Wittgenstein und Heidegger zwar zweifelsohne Solitäre – aber es wäre verfehlt zu glauben, dass man ein Solitär sein muss, um in der Philosophie Großtaten zu vollbringen: Man denke nur an Sokrates, der uns überhaupt keine Schriftstücke hinterlassen hat, gerade weil er kein Solitär war!

Zweitens suggeriert Geier, dass es jemals möglich gewesen wäre, die Welt zu durchschauen, aber das wäre schief gedacht: Auch wenn man manchmal dahin sagen mag, dass unsere Welt aufgrund der Wissensexplosion für den Einzelnen undurchschaubar geworden ist, muss man streng genommen doch genauer sagen: Die Welt war für den Einzelnen immer schon undurchschaubar, früher wusste man es nur nicht! (Wieder einmal abgesehen von Sokrates…) Abgesehen davon waren selbst Heidegger und Wittgenstein bereits „zu spät“: Denn es war ihre Generation von Physikern, die die Relativitätstheorie und Quantenphysik ins Leben gerufen haben – wir verstehen also bereits seit ihrer eigenen Generation die Welt nicht mehr.

Drittens scheint Geier zu glauben, dass man die Welt „als alles, was der Fall ist“ durchschauen müsste, um philosophisch begründete praktische Orientierung geben zu können – aber auch das ist ein Irrtum. Worin praktische Orientierung auch immer genau bestehen mag, eines ist doch sicher: Auf die Quantenphysik, Relativitätstheorie und ähnliche wissenschaftliche Erkenntnisse werden wir zu ihrer philosophischen Begründung wohl nicht zurückgreifen müssen (oder auch nur können), da aus der Wissenschaft keine moralischen Einsichten zu erwarten sind.

Viertens und letztens erweckt Geier den Eindruck, Heidegger und Wittgenstein hätten philosophisch tief begründete praktische Orientierung geboten – aber wie bereits erwähnt und von Geier selbst ausgeführt, zeichnet sich die Ethik in der Philosophie dieser Denker durch (beinahe) völlige Abwesenheit aus. Allerdings: Zur theoretischen Orientierung gerade in der Sprachphilosophie haben sie wie oben bereits ausgeführt Wesentliches beigetragen.

Die „Philosophie“ der „Philosophie“ der „letzten“ „Philosophen“: Einige beinahe polemische Schlussbemerkungen

Die einzige praktische Orientierung, die sie mir als Philosoph geben könnten, wäre in ihrer Metaphilosophie zu finden – also in ihren Ansichten über die Philosophie selbst. Dem was Geier mir diesbezüglich von Heidegger auftischt muss allerdings strengstens widersprochen werden:

„Philosophie muß in ihrer radikalen, sich auf sich selbst stellenden Fraglichkeit prinzipiell a-theistisch sein.“

Heidegger, zitiert nach: Wittgenstein und Heidegger, S. 320.

Konter: Philosophie muß in ihrer radikalen, sich auf sich selbst stellenden Fraglichkeit prinzipiell a-atheistisch sein. Und was dann?

„Das Sichverständlichmachen ist der Selbstmord der Philosophie.“

Heidegger, zitiert nach: Wittgenstein und Heidegger, S. 324.

Konter: Der Versuch, sich verständlich zu machen, ist der sokratische Urknall der Philosophie.

Vielleicht werde ich ja in Wittgensteins Tractatus fündig?

„4.112 Der Zweck der Philosophie ist die logische Klärung der Gedanken. […]

Die Philosophie soll die Gedanken, die sonst, gleichsam trübe und verschwommen sind, klar machen und scharf abgrenzen.“

Tractatus Logico-Philosophicus.

Abgesehen davon, dass ich nicht von dem Zweck der Philosophie sprechen würde, bildet dieser Gedanke schon einen gewissen Fixpunkt meiner Anstrengungen: Logische Klärung der Gedanken und Erweiterung des Wissens durch Aufdecken von Irrtümern, die sich meistens aus der Trübheit der Gedanken ergeben. Aber der frühe Wittgenstein wäre nicht der frühe Wittgenstein, wenn er seinen Ansatz nicht viel zu weit treiben würde:

„4.116 Alles, was überhaupt gedacht werden kann, kann klar gedacht werden. Alles, was sich aussprechen läßt, läßt sich klar aussprechen.“

Tractatus Logico-Philosophicus.

Das stimmt einfach nicht. Es wäre schön. Aber es stimmt nicht. Frei nach Adorno gesprochen: Wenn es in der Natur einer Sache liegt, unklar, trübe und verschwommen zu sein, dann kann ich diese Sache nicht sprachlich klar und scharf abgrenzen, ohne ihr dabei Gewalt anzutun. Wer das nicht so sieht, erkläre mir bitte in klarer, nichtmathematischer Sprache die wesentlichen Züge der Dualitäten in der Stringtheorie sowie die Idee der Emergenz der Raumzeit – herzlichen Dank im Voraus!

„6.53 Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als was sich sagen läßt, also Sätze der Naturwissenschaft – also etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat –, und dann immer, wenn ein anderer etwas Metaphysisches sagen wollte, ihm nachzuweisen, daß er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat. Diese Methode wäre für den anderen unbefriedigend – er hätte nicht das Gefühl, daß wir ihn Philosophie lehrten – aber sie wäre die einzig streng richtige.“

Tractatus Logico-philosophicus.

Ja, das ist der Vorgängersatz zu dem oben zitierten berüchtigten Satz 6.54, in dem Wittgenstein mit einem Handstreich den Tractatus als Unsinn abstempelt. Eben dafür halte ich auch diese „philosophische Methode“ – auch wenn man dem frühen Wittgenstein immerhin keine Inkonsequenz vorwerfen kann.

Es wäre schön, wenn Wittgenstein in seinen späten Jahren nicht nur seine Sicht auf die Sprache zum besseren gewendet hätte, sondern auch ein klareres Bild der Philosophie gewonnen hätte. Leider ist er diesbezüglich aber mit den Jahren kein bisschen weiser geworden, sondern im Gegenteil: Der Großmeister des logisch geklärten Gedankens begann ungeniert im Trüben zu fischen:

PU 124: „Die Philosophie darf den tatsächlichen Gebrauch der Sprache in keiner Weise antasten, sie kann ihn am Ende also nur beschreiben. Denn sie kann ihn auch nicht begründen. Sie läßt alles, wie es ist.“

Philosophische Untersuchungen.

Frage 1: Inwiefern „darf“ „die Philosophie“ den tatsächlichen Gebrauch der Sprache in keiner Weise antasten? Heißt das, dass Philosophen das nicht dürfen? Und wenn ja: Woher bezieht dieser Satz seine normative Kraft? Etwa aus Ludwig Wittgensteins Privatmeinung?

Frage 2: Warum „kann“ die Philosophie den tatsächlichen Gebrauch der Sprache also nur beschreiben? Anders gefragt: Wie soll ein „nur können“ aus einem „nicht dürfen“ folgen, wie es das also insinuiert? Sie könnte ja trotzdem den Sprachgebrauch antasten – auch wenn sie es nicht darf!

Frage 3: Was soll es heißen, den tatsächlichen Gebrauch der Sprache „begründen“ zu können? Man kann Thesen, Behauptungen, Aussagen begründen, aber keinen Gebrauch – Gebrauch wird erklärt.

Frage 4: Wie soll Philosophie als Sprachspiel über die Sprachspiele alle Sprachspiele – inklusive ihres eigenen Sprachspiels – lassen wie sie sind? Doch nur, indem sie sich selbst abschafft. Wir sehen: Auch der späte Wittgenstein ist noch ganz der Alte.

PU 126: „Die Philosophie stellt eben alles bloß hin, und erklärt und folgert nichts. – Da alles offen daliegt, ist auch nichts zu erklären. Denn, was etwa verborgen ist, interessiert uns nicht.“

Philosophische Untersuchungen.

Es ist wiederum interessant zu sehen, dass Wittgenstein von der Philosophie spricht, und nicht einfach von dem Philosophen L.W. Als Zustandsbeschreibung der Philosophie ist die Aussage natürlich kompletter Bockmist: Erklären und Folgern gehören ganz offensichtlich zum Kerngeschäft der Philosophie. Zugleich kann Wittgenstein natürlich auch nicht einfach per Dekret das Erklären und Folgern aus der Philosophie verbannen – man darf sich also wirklich fragen, was ihn bei diesem Satz geritten hat.

Noch schlimmer ist aber vielleicht das folgende Bonmot, mit dem Wittgenstein das Kunststück gelingt, einen so himmelschreiend unwahren Satz aufzuschreiben, dass er sich jeder sinnvollen Interpretation entzieht.

PU 128: „Wollte man Thesen in der Philosophie aufstellen, es könnte nie über sie zur Diskussion kommen, weil Alle mit ihnen einverstanden wären.“

Philosophische Untersuchungen.

Ich habe wirklich keine Ahnung, wie man diesen Satz interpretieren soll, dass er auch nur ansatzweise plausibel wird. Selbstredend stellt man in der Philosophie Thesen auf, und selbstredend wird über diese Thesen diskutiert, weil eben nicht alle mit ihnen einverstanden sind – man muss schon ein Genie sein, um diese Selbstverständlichkeiten lapidar durch Verwendung eines Konjunktivs präsupponierend zu bestreiten. Das ist der Nachteil, wenn man solitär philosophiert: Es gibt niemanden, der dich darauf hinweist, wie sehr du dich gerade verrennst.

Was – Stand Jetzt – leider auch auf mich und meinen Blog zutrifft. Aber wer weiß – vielleicht fängt mich ja noch jemand ein und weist mich freundlich zurecht. Die nötige Kommentarfunktion steht jedenfalls bereit!

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