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Was ist der Sinn des Lebens? Kann uns die Biologie Aufschluss geben? Über biologische Relativität und teleologische Prinzipien des Lebendigen

Was ist der Sinn des Lebens? Es mutet erstaunlich an, mit einem Buch über Biologie diesem alten Rätsel näher kommen zu wollen. Aber das extrem lesenswerte, allerdings äußerst dicht geschriebene und für Laien daher nicht ganz leicht verdauliche Buch Dance to the Tune of Life. Biological Relativity des Oxford-Physiologen Denis Noble hat mich genau auf diesen Trichter gebracht. In seinem Buch wendet sich Noble gegen die auf DNA fokussierte Sicht des zeitgenössischen neo-darwinistischen Biologie-Mainstreams und argumentiert für eine Erweiterung des in der Physik geltenden Relativitätsparadigmas auf die Biologie.

In diesem Artikel möchte ich zunächst meinem Bildungsauftrag nachgehen und darlegen, was Noble unter biologischer Relativität genau versteht. Dazu sind einige einführende Vorbemerkungen über Relativität im physikalischen Sinne nötig. Im Anschluss daran lässt sich biologische Relativität nach Noble in vier griffige Postulate zusammenfassen. Das letzte dieser Postulate besteht in einer Wiederbelebung teleologischer Prinzipien in der Biologie – und führt uns damit direkt zur Frage nach dem Sinn des Lebens, die über das herausragende Buch Nobles hinausweist. Bock drauf? Dann koch dir einen Kaffee und schnall dich an – jetzt geht’s los!

Das physikalische Relativitätsprinzip im Sinne Einsteins

Um zu klären, was Noble unter Relativität versteht, ist es zunächst wichtig zu erläutern, wie er das Relativität im physikalischen Sinne auffasst. Die naheliegende Deutung des Begriffs geht auf Einstein zurück. In ganz knapper Kurzform folgt Einsteins spezielle Relativitätstheorie aus der Verbindung zweier Postulate. Für das Folgende beruhe ich auf der Darstellung der Relativitätstheorie in David Mermans Buch „Es ist an der Zeit“ – alle etwaigen Fehler beruhen auf meinem Unvermögen der korrekten Wiedergabe. (Klärende Hinweise in diese Richtung sehr gerne in die Kommentare!)

Das erste Postulat besagt, dass man mit keinem Experiment der Welt herausfinden kann, ob man sich in einem Zustand der Ruhe oder in einem Zustand der konstanten, gleichförmigen Bewegung in eine Richtung befindet. Anders ausgedrückt: Wenn wir unsere physikalischen Gleichungen aufstellen, ist es egal, ob wir uns dabei als gleichförmig bewegt modellieren oder als am selben Ort ruhend: Die Berechnungen müssen für uns in jedem Fall zu den gleichen beobachtbaren Ergebnissen führen. Dies ist das physikalische Relativitätsprinzip im engeren Sinne. Die Formulierung dieses Prinzips wurde bereits von Galilei geleistet.

Einsteins allgemeine Relativitätstheorie folgt im Prinzip aus einer Erweiterung dieses Relativitätsprinzips auf beschleunigte Objekte. Man muss dabei allerdings mehr Sorgfalt auf die Frage verwenden, wie man das Relativitätsprinzip genau formuliert. So wie ich es oben formuliert habe, gilt es für beschleunigte Objekte nämlich offensichtlich nicht: Wir spüren es beispielsweise am ganzen Körper, wenn wir in einer Rakete sitzen und ins Weltall geschossen werden. Aber ich möchte mich mit diesen Detailfragen nicht aufhalten. Für diesen Artikel möge der Hinweis, dass Einstein Galileis Relativitätsprinzip entscheidend erweitert hat, vollends genügen.

Der Vollständigkeit halber sei aber auch das zweite Postulat der speziellen Relativitätstheorie erwähnt: Dieses besagt, dass die gemessene Lichtgeschwindigkeit im Vakuum immer (ca.) 300.000 km/s beträgt – egal, ob man selbst (oder die Lichtquelle) sich in Ruhe befindet oder sich gleichförmig in eine Richtung bewegt! Zusammen mit dem ersten Postulat ergeben sich haarsträubende und völlig unplausibel klingende Konsequenzen für das Wesen von Raum und Zeit. Das Dumme ist nur, dass alle Experimente dafürsprechen, dass sich die Natur exakt so verhält, wie Einsteins Theorien es vorhersagen. Der gesunde Menschenverstand mag das für ähnlich absurd halten wie die Quantenmechanik – aber darüber kann die Natur nur herzhaft lachen!

Das physikalische Relativitätsprinzip im Sinne Nobles

Es ist nun wichtig zu sehen, dass Noble nicht dieses enge Verständnis von Relativität mitbringt, wenn er an eine Ausdehnung des Relativitätsprinzips auf den Bereich der Biologie denkt. Noble sieht vielmehr in der Geschichte der Physik eine stetige Relativierung dessen am Werk, was man einen absoluten Bezugspunkt nennen könnte. Für unsere antiken Vorfahren, die beispielsweise die Bibel geschrieben haben, war es absolut selbstverständlich, dass sich die Erde in Ruhe befindet, und dass sich die Sonne und die Planeten um die Erde bewegen. Die Erde bildet gewissermaßen einen absoluten, unveränderlichen Bezugspunkt, und alles dreht sich um diesen Bezugspunkt – im wahrsten Sinne des Wortes.

In einem nächsten Schritt kann man sagen, dass das derartige geozentrische Weltbild von einem heliozentrischen Weltbild abgelöst wurde, in welchem Erde und Sonne die Plätze tauschen: Nun bilden nicht mehr wir auf der Erde den absoluten Bezugspunkt, sondern die Sonne am Himmel – was eine deutliche Relativierung unserer Perspektive mit sich bringt.

Aber damit ist das Spiel nicht vorbei. Heute würde niemand mehr davon reden, dass unsere Sonneeinen absoluten Bezugspunkt im Raum kennzeichnen würde: Vielmehr wird unser gesamtes Sonnensystem bis heute durch das weite All geschleudert. Trotzdem liegt aber selbst in diesem Bild noch ein anderer absoluter Bezugspunkt nahe, nämlich das, was Newton den absoluten Raum genannt hat: Gott hat gewissermaßen ein Koordinatengitter über das Universum gelegt, und dieses Koordinatengitter bleibt ein fester und unwandelbarer Bezugsrahmen, an dem wir uns ausrichten können.

Womit wir schließlich dann doch wieder bei der Relativitätstheorie angelangt sind: Denn einen solchen eindeutig bestimmten, festen und unwandelbaren Bezugsrahmen für Raum und Zeit gibt es nicht. Bewegte Materie krümmt die sie umgebende Raumzeit – und diese Krümmung der Raumzeit beeinflusst wiederum die Art, wie sich die Materie im Raum bewegt. Dabei ist Raumzeit aber wiederum nur ein Wort für dasjenige vierdimensionale Koordinatengitter, welches der angewandte Physiker über das (zeitliche ausgedehnte) Universum legen möchte:

Solange sie gewisse Spielregeln einhalten, können Physiker mit verschiedenen Koordinatengittern zu denselben beobachtbaren Ergebnissen kommen. Eine Entscheidung zwischen den Koordinatengittern ist anhand von Experimenten nicht zu treffen – und vermutlich ist das so, weil es nicht das richtige, absolute Koordinatengitter gibt. Man kann deshalb (innerhalb der physikalischen Spielregeln) einfach dasjenige Gitter nehmen, mit dem man am einfachsten rechnen kann. Das gilt in weit stärkerem Maße noch für die Stringtheorie – jedenfalls falls ich das, was ich darüber gelesen habe, richtig verstanden habe. Raum und Zeit sind möglicherweise nicht nur relativ: Wenn manche Stringtheoretiker Recht haben, sind sie sogar dem Untergang geweiht.

Man könnte das physikalische Relativitätsprinzip, wie es Noble im Sinn hat, also vielleicht so zusammenfassen: Es gibt keinen absoluten, gewissermaßen göttlichen Standpunkt, der in irgendeiner Weise als privilegiert aufzufassen ist. Wir können die Natur (unter Einhaltung gewisser Regeln) unter ganz unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten und sie mit letztlich selbst gewählten Koordinatensystemen überziehen – aber wenn wir dies wissenschaftlich tun, garantieren uns die Naturgesetze, dass wir durch die verschiedenen Blickwinkel nicht zu widersprüchlichen Ergebnissen kommen. Die Ergebnisse sind vielmehr komplementär und ergänzen sich: Erst in der Zusammenschau ergibt sich ein kohärentes Bild dessen, was wir Realität nennen – auch wenn wir beim Zusammenlegen der Perspektiven von einigen liebgewonnenen Konzepten wie dem absoluten Raum oder der absoluten Zeit wohl oder übel Abschied nehmen müssen.

Das biologische Relativitätsprinzip im Sinne Nobles

Ebenen und Skalen

Bevor wir das biologische Relativitätsprinzip im Sinne Nobles formulieren können, müssen wir den fundamentalen Unterschied zwischen Ebenen (levels) und Skalen (scales) klären. Skalenunterschiede betreffen die reinen Größenunterschiede von Naturphänomenen. Subatomare Prozesse wie Interaktionen von Quarks spielen sich räumlich gesehen in einer Größenordnung von Femtometern ab. Atome wechselwirken miteinander in einer gröberen Skala von Nanometern. Wenn wir einzellige Organismen betrachten wollen, werden wir in die Skala von Mikrometern wechseln müssen. In unserem üblichen Mesokosmos sind Skalen wie Millimeter, Zentimeter und Meter relevant. Und wenn wir in die Sterne schweifen, messen wir die relevanten Entfernungen in Lichtminuten oder gar Lichtjahren.

Der Begriff der Ebene (level) unterscheidet Objekte nun nicht (nur) nach ihrem Größenunterschied, sondern nach ihrem Grad der Organisation. Atome setzen sich zu Molekülen zusammen. Moleküle wiederum verbinden sich in Zellen zu Organellen – also zu Miniorganen innerhalb der Zelle. Einen Verbund von Zellen wiederum bezeichnen wir als Gewebe – und solches Gewebe setzt sich innerhalb eines Organismus zu einem Organ zusammen. Solche Organe bilden im Verbund ein Organsystem, und ein Organismus ist wiederum ein System von Organsystemen.

Aber dort hören die Ebenen noch nicht auf, denn menschliche Organismen bilden Familien und andere soziale Gruppen aus, die sich im Verbund zu Gemeinden zusammenschließen. Eine Gemeinde ist jedenfalls heutzutage und hierzulande innerhalb eines Bundeslandes situiert, die Bundesländer zusammen ergeben einen Bundesstaat, und die Bundesstaaten zusammen haben sich in der UNO zu einem Staatenbündnis zusammengeschlossen. Dieses Bündnis selbst ist wiederum nur ein Teil des gesamten Ökosystems, das wir Erde nennen – und dieses Ökosystem befindet sich im glücklicherweise gut geölten Sonnensystem, welches ziel- und führerlos durch das expandierende Weltall fliegt.

Das reduktionistische Paradigma

Das Weltbild, gegen das Noble sich wendet, lässt sich am einfachsten unter dem Schlagwort des Reduktionismus verbuchen – auch wenn im Detail längst nicht klar ist, was Reduktionismus genau bedeutet oder bezeichnet. Die Grundidee des Reduktionismus besteht jedenfalls darin, dass Vorgänge innerhalb einer Skala oder einer Ebene dadurch erklärt werden, dass sie auf Vorgänge innerhalb einer feineren Skala oder tieferen Ebene zurückgeführt werden.

Ein Beispiel hierfür wäre etwa die (von mir zum Zwecke der Illustration frei erfundene) These, dass Kinder von Rauchern deshalb häufiger selbst Raucher werden, weil sie genetisch dafür prädisponiert sind. Vielleicht würde es eines Tages gelingen, innerhalb der DNA eine sogenannte Rauchersequenz zu finden, die im Organismus dafür sorgt, dass Nikotinzufuhr zu einem höheren Dopaminausschuss führt, als dies bei vergleichbaren Organismen ohne dieses Rauchergen der Fall ist. Der Mensch raucht also, weil Rauchen bei ihm einen ausgeprägten Dopaminschub verursacht, und dieser Dopaminschub wiederum erklärt sich entscheidend aus gewissen Sequenzen in seiner DNA – also aus einem Phänomen auf einer niedrigeren Ebene.

Das erste biologische Relativitätspostulat: Kausalität auf und zwischen allen Ebenen!

Nun würde Noble nicht sagen, dass es solche reduktionistischen Erklärungen nicht geben kann – im Gegenteil gesteht er der Mainstream-Molekularbiologie vollumfänglich zu, dass sie viele interessante und wertvolle Erkenntnisse geliefert hat, die durch zahlreiche Forschungen gut belegt sind. Wogegen er sich wendet ist vielmehr die Vorstellung, dass jede wissenschaftliche Erklärung nach dem reduktionistischen Grundmuster verfahren muss, um überhaupt wissenschaftlich zu sein.

Da es Noble weniger um Wissenschaftlichkeit sondern mehr um das zugrundeliegende Weltbild geht, kann man vielleicht genauer formulieren: Er wendet sich gegen die Vorstellung, dass Kausalität nur von der Mikroebene in Richtung der Makroebene statthat. Denn hierin besteht für ihn das erste und wichtigste biologische Relativitätsprinzip: Es gibt keine ausgezeichnete Kausalitätsrichtung zwischen den verschiedenen Ebenen. Metaphorisch gesprochen gibt es nicht nur Bottom-Up-Kausalität, sondern auch Top-Down-Kausalität – und jedenfalls in komplexen Organismen insgesamt zahllose wechselwirkende Feedbackschleifen zwischen den einzelnen Ebenen.

Da Noble ein Physiologe ist und sich jahrzehntelang mit der Funktionsweise des Herzens beschäftigt hat, wird es nicht überraschen, dass eines seiner Beispiele aus ebendieser Funktionsweise herrührt. Damit das Herz regelmäßig pumpt, gibt es verschiedene Sicherheitsmechanismen, die jeweils für sich genommen hinreichend sind, um das Herz zum Pumpen zu bringen: Falls einer mal ausfällt, greift ein anderer Mechanismus. Man könnte dieses Phänomen die kausale Überdeterminiertheit des Herzschlags nennen.

Aber der Herzschlag ist nicht nur kausal überdeterminiert, sondern greift essenziell auf kausale Feedbackloops zurück. Hier ist der wichtigste dieser Feedbackloops. Grob gesprochen pumpt das Herz analog zur elektrischen Spannung der Herzmuskelzellen: Spannung hoch, Spannung runter, Spannung hoch, Spannung runter. Innerhalb jeder Herzmuskelzelle findet aber ein kausaler Feedbackloop der folgenden Form statt: Die Ionenkonzentration in der Zelle bestimmt die elektrische Spannung der Zelle und damit auch der Zellmembran, und umgekehrt bestimmt die Spannung der Zellmembran, welche Ionenkanäle wie stark geöffnet werden – und damit die weitere Ionenkonzentration und letztlich die elektrische Spannung der Zelle. In einem Satz: Ionenkonzentration bestimmt Zellspannung bestimmt Ionenkonzentration bestimmt Zellspannung bestimmt Ionenkonzentration…

Das zweite biologische Relativitätspostulat: Biologische Systeme sind offene Systeme!

An dieser Stelle lohnt es vielleicht, auf einen weiteren eminenten Unterschied zwischen der Physik und der Biologie hinzuweisen, den auch Noble nicht müde wird zu betonen. In der Physik hat man es vorwiegend mit geschlossenen Systemen zu tun, das heißt mit Systemen, die keinerlei Einflüssen von außen unterliegen. Wer ein physikalisches Experiment plant und durchführt muss stets darauf bedacht sein, dass das zu beobachtende Phänomen nicht durch Umwelteinflüsse verursacht oder gestört wird – anderenfalls ist das ganze experimentelle Unterfangen für die Katz. Man wird also stets bemüht sein, den Versuchsaufbau von allen störenden Umwelteinflüssen abzuschirmen – und streng genommen kann die Physik daher auch nur Aussagen über geschlossene Systeme machen, zumindest wenn die Aussagen mit Laborexperimenten gestützt werden sollen.

Über das Verhalten atomarer Teilchen in geschlossenen Systemen weiß man entsprechend heute sehr gut Bescheid, und auch Phänomene in astronomischen Skalen sind sehr gut von der Physik beschreibbar. Die Phänomene der Biologie überschreiten aber den Grenzbereich der Physik insofern, als es in der Biologie immer um lebende Organismen geht – und alle Organismen, die wir kennen, sind offene Systeme: Sie stehen in einer Stoffwechselbeziehung zu ihrer Umwelt, reagieren in bestimmter Weise auf wahrgenommene Umwelteinflüsse, kreieren sich ihre eigene ökologische Nische, und so weiter.

Aber nicht nur Organismen sind offene biologische Systeme: Die Offenheit zieht sich vielmehr die gesamten biologischen Ebenen rauf und runter! Als Beispiel sei nur das erwähnte zyklische Verhalten der Herzmuskelzellen genannt: Dass die Zellspannung einen Einfluss auf die Ionenkonzentration hat, setzt implizit voraus, dass von außen genügend Ionen in die Zelle eindringen bzw. Ionen von innen nach außen gelangen können: Wenn die Zellen aufgrund der hohen Spannung ihre Membranschleusen öffnen, wird sich die Zellspannung nicht ändern, wenn keine Ionen durch die offenen Schleusen hineingelangen. Die Offenheit des Systems ist also nicht nur schmückendes Beiwerk: Das Funktionieren des Ganzen setzt voraus, dass das Ganze innerhalb eines noch größeren Ganzen situiert ist und mit diesem größeren Ganzen in Austausch steht.

Das dritte biologische Relativitätspostulat: Stochastische Abhängigkeiten überall!

Dem reduktionistischen Weltbild zufolge hängt der Phänotyp eines Organismus entscheidend von seinem Genotyp ab. Platt gesagt: Wie der Organismus aussieht hängt von seinen Genen, also seiner DNA ab. Noble würde dieses Prinzip nicht völlig in Frage stellen – der Einfluss der DNA auf den Phänotyp ist unbestritten. Aber Noble weist darauf hin, dass der Phänotyp nicht nur von der DNA abhängt, sondern auch von den im Organismus tatsächlich auftretenden Mustern von Proteinen in den Zellen, deren Herstellung durch die DNA kodiert wird. Da die DNA in jeder Zelle gleich ist, aber offensichtlich nicht jede Zelle eines Organismus gleich ist, muss dieses tatsächliche Muster von mehr abhängen als nur der DNA – nämlich von einem komplexen, stochastisch kausalen, sich über mehrere Ebenen erstreckenden Systemnetzwerk aus Zellen, Gewebe, Organen, usw.

Das vierte biologische Relativitätspostulat: Teleologie? Ja, bitte!

Das vierte Prinzip ist für viele Biologenohren das vielleicht radikalste Prinzip, weshalb es nicht verwundert, dass es nicht von einem Biologen, sondern von einem Physiologen geäußert wird: Noble ist der Ansicht, dass die zeitgenössische Abneigung gegen teleologisches Denken unberechtigt ist, da sich das Verhalten organischer Systeme nur durch Rückgriff auf die Funktionen oder die Ziele dieser Strukturen vollständig verstehen lässt. Um diesen Gedanken zu veranschaulichen zitiert Noble ein Gedankenspiel des Philosophen Spinoza, welches ich hier in abgewandelter Form wiedergeben möchte.

Aus dem Leben einer Herzzellenorganelle: Ein Gedankenspiel in Gedenken an Spinoza

Stellen wir uns vor, wir wären eine kleine Organelle innerhalb einer Herzzelle und betrachten das rege Treiben um uns herum. Wir sehen, wie sich einige Türen in der Zellmembran öffnen und eine Reihe Plus-Ionen die Zelle betreten. Dann schließen sich die Türen und andere Türen öffnen sich, durch welche eine Reihe Plus-Ionen die Zelle verlassen und andere Minus-Ionen sie betreten. Dann schließen sich die anderen Türen und die ersten Türen öffnen sich wieder, worauf die Plus-Ionen von vorhin wieder den Raum betreten und die Minus-Ionen wieder den Raum verlassen: Und so weiter, und so weiter, immer wieder das gleiche Spiel.

Ein wenig irritiert stupsen wir eine Nachbarorganelle an: „Hey, sag mal: Warum öffnen sich immer wieder die Türen da vorne?“ Die Nachbarorganelle antwortet: „Die öffnen sich immer, wenn so viele Plus-Ionen da sind.“ – „Und warum schließen sich jetzt die einen Türen und öffnen sich die anderen?“ – „Das passiert immer, wenn so viele Minus-Ionen da sind.“ – „Aber warum öffnen sich jetzt wieder die ersten Türen?“ – „Naja, ist doch klar: Es sind halt wieder so viele Plus-Ionen da!“ – „Aber warum halten wir nicht einfach einen konstanten Pegel an Plus- und Minus-Ionen? Was soll dieses ganze Hin und Her?“ – „Dieses ganze Rein und Raus der Ionen findet statt seit ich denken kann. Ist einfach so.“ – „Aber warum ist das so?“ – „Warum, warum – was für eine bescheuerte Frage! Es ist halt so, und damit hat es sich.“

Was lehrt uns Spinozas Gedankenspiel?

Die Pointe an dem Gedankenspiel ist, dass wir als Außenbetrachter noch mehr zu berichten wissen als unsere kleine Nachbarorganelle: Wir kennen die gesamte Organisation des Organismus sowie die Funktion, die die Herzzelle innerhalb dieses Organismus spielt: Das Herz ist dazu da, um Blut durch den Organismus zu pumpen – und diese Funktion kann es nur ausüben, wenn die Herzzellen eben nicht eine konstante Spannung halten, sondern immer wieder für Spannungsoszillationen sorgen. Das ständige Rein und Raus erklärt sich also nicht nur aus dem, was innerhalb der einzelnen Herzmuskelzelle vor sich geht, sondern auch aus der Situierung der Herzmuskelzelle innerhalb des Herzens und des Herzens innerhalb des gesamten Organismus. Kurz gesagt: Eine vollständige biologische Erklärung greift auf teleologisches Vokabular zurück!

Es ist allerdings wichtig zu beachten, dass die Nachbarorganelle in unserem Minidrama keinem Denkfehler erliegt: Aus ihrer Sicht folgt das ständige Rein und Raus der Ionen in der Tat keinem größeren Plan, und mit ihrer Erzählung der kausalen Gesetzmäßigkeiten ist aus ihrer Sicht alles gesagt, was es zu sagen gibt! Hier kommt der wichtige Begriff der Ebenen wieder zum Tragen: Auf der Ebene der Organellen und der Zellmembran wird kein teleologisches Prinzip verfolgt – und selbst auf der Ebene der Zelle selbst lässt sich über das ständige Rein und Raus nichts weiter als der kausale Feedbackloop angeben. Erst wenn wir die höhere Ebene des Herzens betrachten, wird das ständige Rein und Raus der Ionen teleologisch verständlich: Das Rein und Raus passiert, damit das Herz pumpt.

Aber warum pumpt das Herz? Wenn wir das Herz isoliert betrachten, können wir wiederum nichts anderes angeben als den kausalen Mechanismus: Das Herz pumpt (verkürzt gesagt) aufgrund der Spannungsoszillationen in den einzelnen Herzmuskelzellen – und damit hat es sich. Aber wenn wir das Herz als Organ innerhalb des Organismus situieren, können wir mehr sagen: Das Herz pumpt Blut, damit die anderen Organe mit Sauerstoff versorgt werden, und das wiederum ist eine Grundbedingung für das Überleben des Organismus.

Gibt es teleologische Prinzipien, die über den Organismus hinausweisen?

Zum Abschluss dieses Eintrags zu Nobles Buch „Dance to the Tune of Life“ – zu dem man noch viel mehr sagen könnte, und zu dem ich voraussichtlich auch noch mehr sagen werde! – möchte ich die Frage aufwerfen, die in besagtem Buch nicht gestellt wird, aber vor die sich wohl jeder Mensch in manch stiller Stunde einmal gestellt sieht: Was ist der Sinn meines Lebens? Warum lebe ich überhaupt?

Wir haben vorhin gesehen, dass der kausalreduktionistische Mainstream der Wissenschaft vermutlich nur so etwas sagen kann wie: Deine Eltern haben dich gezeugt, die befruchtete Eizelle ist auf diese und jene Weise zu einem gesunden Baby herangereift, und seitdem funktionieren deine Organe auf diese und jene Weise, die dein Überleben sichert – und damit hat es sich. Einigen wird das als Erklärung völlig ausreichen. Andere werden das Gefühl haben, dass diese Erklärung nicht vollständig ist. Aber können wir überhaupt mehr sagen als das? Ich behaupte: Man kann!

Antwort 1: Der organismische Zirkel

Die erste Antwort, die man geben könnte, lautet: Du lebst, um deinen Zellen (und den zahllosen Bakterien und Mikroorganismen in deinem Körper) das Überleben zu sichern – und umgekehrt leben deine Zellen (und die zahllosen Bakterien und Mikroorganismen in deinem Körper), um dir das Überleben zu sichern. Du bist gewissermaßen das, was über die Summe deiner biologischen Einzelteile hinausragt – und dir wurde von diesen Einzelteilen die Macht übertragen, sie mit dem zu versorgen, was sie zum Überleben benötigen. Wenn du mich fragst, klingt das nach einer ziemlichen Win-Win-Situation für alle Beteiligten.

Antwort 2: Der familiäre Zirkel

Die zweite Antwort verlässt den nabelschauenden Dunstkreis der ersten Antwort und tut das, was teleologische Antworten ansonsten immer tun: Sie geht auf eine höhere Ebene! Die nächsthöhere Ebene ist vielleicht das enge soziale Umfeld, bestehend aus Familie, Freunden und Verwandten: Du bist dazu da, um deiner Familie, Freunden und Verwandten das Überleben zu sichern – so wie umgekehrt deine Familie, Freunde und Verwandte für dich da sind, wenn es für dein Überleben kritisch wird. Erneut haben wir eine Win-Win-Situation in Form eines teleologischen Zirkels – aber diesmal einen, der über den einzelnen Organismus hinausgeht und andere Menschen miteinschließt. Dies führt uns quasi nahtlos zur Idee der Erweiterung dieses Zirkels. 

Antwort 3: Der politische Zirkel

Diese Antwort besteht darin zu sagen: Du bist dazu da, um deinem politischen Gemeinwesen den Fortbestand zu sichern – so wie umgekehrt das politische Gemeinwesen dazu da ist, seinen Individuen, und damit insbesondere dir, das Überleben zu sichern, soweit es irgendwie in seiner Macht steht. Ganz verwandt mit dieser Idee ist die heute etwas in Verruf geratene Vorstellung, das Staatswesen in Analogie zu einem biologischen Organismus zu verstehen – was eine nicht nur extrem alte Analogie ist, sondern auch in der Geschichte der Biologie bis weit in die Moderne hinein wegweisend gewesen ist. Tatsächlich hat die Analogie „Organismus – Staat“ sich in der Ideengeschichte wechselseitig getragen: Staatswesen wurden als Organismen in Groß erklärt – und Organismen wurden umgekehrt als Staatswesen in Klein erklärt. Aber das ist eine andere Geschichte. Dehnen wir lieber den Zirkel noch weiter aus:

Antwort 4: Der biosphärische Zirkel

Diese Antwort schlägt den ganz großen Bogen: Du bist dazu da, um die Biosphäre der Erde zu erhalten – so wie die Biosphäre im Gegenzug dazu da ist, um dein Überleben zu sichern. Hier greifen wir teleologisch also bis an die Grenzen der biologischen Wissenschaft aus: Der Mensch und das Universum der Biologie sind dazu da, sich wechselseitig am Leben zu erhalten, damit dieses Geschenk des Lebens so lange ausgekostet wird, wie es die Gesetze der Naturwissenschaft erlauben. (In einigen Milliarden Jahren wird die Sonne die Erde verschlucken. Man darf gespannt sein, ob die Menschen rechtzeitig einen Ersatzplaneten finden werden – oder ob sie die Biosphäre bis dahin komplett vernichtet haben werden. Zuzutrauen wäre ihnen beides.) Wenn ich die Schöpfungsgeschichte der Bibel richtig verstehe, entspricht diese Antwort der ursprünglichen Absicht Gottes bei der Erschaffung des Menschen. Wo wir also schonmal bei Religion sind, spannen wir den Bogen doch noch weiter:

Antwort 5: Ein weltreligiös-pessimistischer Rundumschlag

Für diese Antwort verlasse ich den engen Bereich der Wissenschaft und werde sowohl religiös als auch persönlich. Ich werde dich daher direkt ansprechen und mich in meiner letzten Antwort dieses Artikels stark vom Buddhismus inspirieren lassen – aber du wirst merken, dass ich auch einen anderen religiösen Ausgangspunkt hätte wählen können. Ich gehe da wie der Buddha ganz pragmatisch vor: Ich starte einfach von derjenigen Weltanschauung, die ich im gegebenen Kontext für besonders eingängig und zielführend halte. Ob es klappt – man wird sehen! Hier jedenfalls mein kleiner Rundumschlag:

Schaue dich in der Welt um und nimm wahr, was du siehst: Überall Krankheit. Überall Alter. Überall Tod. Überall Leiden. Die Welt ist ein grausamer Ort voller Schmerzen und Entbehrungen. Und nicht einmal der Tod kann uns aus dieser Welt befreien – denn nach dem Tod werden wir nach den karmischen Gesetzen in dieses Scheißloch auch noch wiedergeboren. Frag nur mal die Hinduisten – die sehen das genauso!

Okay, die Christen und die Moslems (und sogar der Buddha selbst, ob du es glaubst oder nicht!) werden dir vielleicht etwas von einer Hölle erzählen – aber ich frage dich: Könnten wir alle nicht vielleicht dasselbe meinen? Stell dir vor du würdest nach deinem Leben als kleiner Säugling in Zentralafrika wiedergeboren. Krank. Hungernd. Leidend. Sterbend. Wäre das nicht Hölle genug? Wieviel schlimmer soll die Hölle denn werden?

Okay, wenn du richtig scheiße gebaut hast, könntest du im Anschluss daran noch als Kriegsflüchtling im Mittelmehr ertrinken. Danach dürftest du als Obdachloser mit einer Flasche billigem Wodka auf einer Parkbank dein Dasein fristen, ohne Heimat, von deinem Umfeld bestohlen, von der Gesellschaft verachtet und geächtet. Reicht immer noch nicht? Ein paar Jahre Waterboarding in einem US-amerikanischen Folterknast sollen ebenfalls eine überaus reinigende Wirkung auf das Karma haben. Und wenn das noch nicht genug ist: Ich habe gehört, in Bangladesch werden weiterhin Näherinnen für H&M gesucht. Möchtest du dich mal bewerben?

Nein, nein, nein: Eine Hölle außerhalb der Erde brauchen wir gar nicht zu suchen. Die Hölle ist mitten unter uns. Und der einzige Ausweg aus dieser Hölle besteht darin, das karmische Gesetz zu brechen. Wenn du das schaffst, gelangst du ins Nirwana. Wenn du Hinduist bist, darfst du auch Moksha sagen. Wenn du Moslem oder Christ bist, kannst du es auch Himmel nennen. Wenn du Mystiker bist, nenn es ruhig Einswerdung mit Gott. Und wenn du Daoist bist, dann sag doch einfach Dao. Das sind doch alles nur Namen für eine mit Worten nicht erfassbare Realität: Warum über solche Kleinigkeiten in Streit geraten? So oder so: Das Leben ist ein Escape-Game, und der Ausweg besteht darin, nicht mehr mitzuspielen – jedenfalls nicht nach den Regeln dieser Welt. Du kannst dich von den religiösen Führern nach draußen geleiten lassen oder nicht, ist mir egal – im Escape-Game bist du aber so oder so. Also mach was du willst – oder eben nicht!

Welche Antwort ist die richtige?

Da haben wir also nun eine ganze Reihe von Antworten auf die Frage, warum du auf dieser Welt bist. Welche ist die richtige? Nun, du kannst dir natürlich einfach die Antwort raussuchen, die dir am besten gefällt. Selbstverständlich kannst du dir alternativ auch ganz andere Antwortmöglichkeiten überlegen – warum sollte ich auf den Stein der Weisen gestoßen sein? Ich habe gehört, dass man auf die Frage nach dem Sinn des Lebens einen ganzen Blumenstrauß an möglichen Antworten präsentieren kann: Bediene dich einfach in der Ideengeschichte! Aber offen gesagt halte ich die Frage bereits für falsch gestellt: Warum sollte es unter den fünf Antworten die richtige Antwort geben? Warum können nicht alle fünf Antworten richtig sein? Mein Vorschlag an dich lautet daher, alle fünf Antworten einmal in Gedanken übereinander zu legen: Wenn du das tust, siehst du die Welt meines Erachtens richtig. Oder, hoffentlich, zumindest richtiger als vorher. Vielleicht muss man die eine oder andere Perspektive noch ergänzen. Aber fünf richtige Antworten wären ja schonmal ein Anfang.

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