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Autobiographisches

Wie der Perfektionismus mein Leben zerstört

Eines meiner größten Probleme ist mein Perfektionismus. Was ist Perfektionismus? Perfektionismus besteht darin, die Dinge in der Welt im Vergleich mit einem perfekten Ideal zu bewerten und daran zu verzweifeln, dass die Welt diesen Idealvorstellungen nicht genügt. Sehen wir uns einige Beispiele aus meinem Leben an.

Wie ich mir eine Karriere als Mathematiker verbaut habe

In meinem Mathematikstudium gehörte ich zu den besseren Absolventen: Ich habe regelmäßig meine Übungszettel gemacht und 50-Stunden-Wochen hingelegt, um den krassen Anforderungen des trockenen Mathematikstudiums zu genügen. Das hat mir am Ende eine Diplom-Abschlussnote von 1,1 beschert. (Der Perfektionist in mir ärgert sich übrigens ein wenig, dass es keine 1,0 war. Aber das liegt an einer 1,7 in Angewandter Mathematik, von der ich nie ein Fan war.) Nach einem etwas holprigen Anfangsstart war es meiner Leistung gemäß mein Ziel, in der mathematischen Grundlagenforschung zu bleiben. Daraus ist nichts geworden. Was ist passiert?

Nun, mein Diplomarbeitsthema ist passiert: Mein Professor hat mir einen Beweis skizziert, den ich ausarbeiten sollte. Den Satz, der zu beweisen war, fand ich allerdings unendlich langweilig. Ich wusste nicht, wer sich dafür interessieren sollte. Und mich beschlich die Sorge, dass in der mathematischen Grundlagenforschung die wirklich interessanten Gedanken bereits ausgearbeitet und bewiesen wurden. Die Beschäftigung mit meinem Beweis ließ in mir immer wieder den Gedanken aufkommen, dass mathematische Grundlagenforschung ein bisschen wie ultraharte Sudokus sind: Man kann sie mit einigem Aufwand lösen, aber wo ist der intellektuelle Ertrag?

Ich fiel dadurch in eine tiefe Sinnkrise, die auch depressive Züge hatte. Das hatte zur Folge, dass ich für die Niederschrift des Beweises etwa 13 Monate brauchte, obwohl es gemessen an meinen Fähigkeiten problemlos in vier Monaten hätte über die Bühne laufen können. Am Ende des Prozesses war mir klar, dass ich für die mathematische Grundlagenforschung nicht gemacht war: Ich wollte eine Tätigkeit ausführen, die mir sinnvoll erschien – und das tat die Grundlagenforschung nicht mehr.

Hier ist aber schon mein erster Denkfehler passiert: Ich habe an mein eigenes Leben einen viel anspruchsvolleren Maßstab angelegt als an das Leben anderer Menschen. Ich zweifle beispielsweise nicht daran, dass andere Mathematiker in der Forschung einem sinnvollen Tun nachgehen. Ich finde es gut, dass es mathematische Grundlagenforschung gibt. Ich finde sie interessant. Aber ich suchte eine Tätigkeit, die nicht nur für mich, sondern für alle interessant ist.

Das ist die mathematische Grundlagenforschung natürlich nicht. Aber was ist schon für alle interessant? Mich persönlich interessieren die meisten Themen nicht die Bohne. Aber das heißt nicht, dass sich andere nicht dafür begeistern können. Die Welt ist nun mal spezialisiert. Und mit meiner Diplomarbeit sollte ich auch nicht die Welt bewegen – ich sollte nur zeigen, dass ich zu mathematischem Arbeiten und Beweisen in der Lage bin. Nicht mehr und nicht weniger. Das habe ich damals nicht gesehen. Und ein langweiliges Thema zu einer Sinnkrise auswachsen lassen.

Wie ich mir ein Leben als Lehrer verbaut habe

Nach dem Abschluss des Mathediploms reifte in mir der Plan, Mathematiklehrer an der Schule zu werden. An der Uni habe ich häufig Übungsgruppen geleitet, und das war insgesamt gesehen sogar das, was mir im Studium am meisten Spaß gemacht hat. Daher dachte ich, dass ein Berufsweg als Lehrer durchaus im Rahmen des Möglichen liegt. Ich habe zwar kleinere Zweifel gehabt, ob mir als Gymnasiallehrer der Stoff nicht fachlich zu anspruchslos ist. Aber die habe ich beiseite geschoben, nach dem Motto: Einen perfekten Beruf wird es eh nicht geben, und Lehrer ist wenigstens ein sinnvoller Beruf.

Nachdem ich auch den Master of Education mit einer sehr guten Note (1,24) abgeschlossen hatte, ging es dann ins Referendariat. Dort prallten aber Ideal und Wirklichkeit der Schule von Heute in krasser Weise aufeinander: Ich kam an eine Brennpunktschule, die uns der vielleicht einzige zufrieden wirkende Lehrer dort mit folgenden Worten schmackhaft machte: „Hier könnt ihr euch frei ausprobieren – nach einer Woche haben die Schüler eh alles vergessen, was ihr mit ihnen gemacht habt.“

Abgesehen von einer völligen Chaotenklasse, die man niemals einem Referendar hätte geben dürfen, war mein Hauptproblem aber gar nicht so sehr die Schülerschaft. Ich kam mit den meisten Schülern ganz gut klar. Mein Problem war, dass man mit den Schülern keinen Unterricht so gestalten konnte, wie es vom Seminar gefordert wurde. Oder anders gesagt: Ich konnte es nicht. Und ich habe zu allem Überfluss an der Schule auch keinen Unterricht beobachten können, der so konzipiert wurde, wie es das Seminar von uns Referendaren verlangt hat.

Wieder prallten also ein Ideal – so sollte Unterricht aussehen – mit der Wirklichkeit – so ist Unterricht möglich – aufeinander. Diesmal war das Ideal aber von außen vorgegeben, was meinen Fehler nur zu verständlich erscheinen lässt: Ich habe das Ideal verinnerlicht und versucht, ihm zu genügen. Das konnte nicht funktionieren. Die Folgen waren eine mittelschwere Depression und mein Aussscheiden aus dem Referendarsdienst.

Es hätte allerdings einen Weg gegeben, durch das Referendariat zu kommen: Ich hätte meinen Anspruch aufgeben können, einen Abschluss mit Topnote zu machen. In Philosophie lief es vergleichsweise gut, in Mathe nicht so sehr – am Ende wäre wahrscheinlich ein Befriedigend daraus geworden.

Aber mit so einer Note konnte und wollte ich mich nicht zufrieden geben. Nicht nur die guten Schulen wären mir dadurch als Arbeitgeber verbaut worden – auch mit meinem Selbstbild als hochbegabter Überflieger war eine solche Note nicht vereinbar. Es galt das Prinzip „Ganz oder gar nicht“ – und da „Ganz“ nicht möglich war, blieb mir nur „Gar nicht“. Wie das mit meinem Selbstbild als hochbegabter Überflieger vereinbar sein sollte, blieb allerdings ein vor mir selbst verborgenes Geheimnis.

Man kann hier zwei interessante Nebenaspekte des Perfektionismus gut beobachten. Erstens: Es ist eng verwandt mit einem Schwarz-Weiß-Denken, oder wie es oben hieß: „Ganz oder gar nicht.“ Stufen von Grau kommen beim Perfektionisten selten vor. Entweder der Perfektionist genügt höchsten Ansprüchen – oder seine Leistung ist mangelhaft. Es ist ein bisschen so, als würde es in der Schule nur die Noten 1 und 5 geben. Ein Alptraum, der für Perfektionisten das tägliche Brot ist.

Zweitens: Der Perfektionist kann sich mit seinem eigenen Perfektionismus so sehr ein Bein stellen, dass er anstelle einer befriedigenden Leistung überhaupt keine Leistung erbringt. Die ganze Tragikomik lässt sich in Anlehnung an den vorigen Punkt wie folgt ausdrücken: Befriedigend ist mangelhaft, also mache ich gar nichts und kassiere de facto ein ungenügend – bin also noch schlechter, als ich mit meiner normalen Leistung gewesen wäre.

Wie ich mir mein Leben immer noch schwer mache

Nach dem Ausstieg aus dem Referendariat beschloss ich, nur noch das zu machen, was mir Spaß macht – und das war mein Zweitfach Philosophie. Ich schrieb mich daher in meinen dritten Studiengang ein: Master of Arts Philosophie. Das habe ich sehr gerne gemacht und konnte es trotz zweier Psychosen schlussendlich mit 1,0 abschließen.

Das lag vor allem daran, dass mir in einer Hausarbeit etwas geglückt ist, was nicht vielen vor mir gelungen ist: Eine befriedigende Lösung des Kahlkopfparadoxes. Das Paradox ist jahrtausendealt und es haben sich schon andere vor mir daran die Zähne ausgebissen. Mein Lösungsvorschlag hat es bis in die Zeitschrift für Philosophische Forschung geschafft, was mir letztlich als bestandene Masterarbeit angerechnet wurde. Man findet meine Abhandlung hier in Heft 1.

Aber die Lösung eines Jahrtausende alten Rätsels reicht mir noch nicht. Das ist nicht genug für ein erfülltes Leben in meinem Sinne. Ich will noch mehr erreichen. Und das mit Schizophrenie. Wie soll das gehen? Ich weiß es nicht. Aber ich fühle, dass es nicht genug ist. Und das liegt an meinem Perfektionismus. Was ich erschaffe muss bedeutend sein. Und zwar so bedeutend, dass ich immer wieder versucht bin, diesen Text hier abzubrechen, weil er nicht bedeutend genug ist. Und so mache ich mich selbst unglücklich.

Als ersten Schritt zur Überwindung meines Perfektionismus lade ich deswegen diesen Text hier hoch, auch wenn ich nicht völlig mit ihm zufrieden bin. Vielleicht dient er ja manch anderem Perfektionisten als Mahnmal für sein Leben. Vermutlich liest ihn aber eh keiner. In den folgenden Einträgen möchte ich versuchen, den Perfektionismus argumentativ in die Knie zu zwingen und so zu seiner Überwindung beizutragen. Zumindest für mich selbst.

Wenn ich denn die Zeit dazu finde. Denn das Familienleben als Hausmann und Vater ist für einen Schizophrenen eigentlich schon Anstrengung genug. Und sollte Erfüllung genug sein. Ist es aber nicht. Wegen – man ahnt es – meinem Perfektionismus. Ich muss also Zeit dafür finden. Mir zuliebe. Wenn es noch jemanden interessiert – um so besser. Aber ich mache das hier primär nur noch für mich. Das ist zumindest meine Kampfansage an den Perfektionismus. Mal sehen, wer die Oberhand behält.

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