In meinem letzten Blogeintrag gab ich meinem Perfektionismus die Schuld dafür, mein Leben verkorkst zu haben, und versprach eine umfassende argumentative Attacke gegen meinen Wunsch nach Perfektion. Perfektionistisch wie ich bin habe ich mir zu diesem Behuf einen Ratgeber gegen Perfektionismus durchgelesen, nämlich das Buch Perfektionismus des Psychiaters Raphael M. Bonelli. Darüber bin ich sehr froh – denn es hat mich vor einigem Schaden bewahrt.
Warum das Streben nach Perfektion nicht (unbedingt) ein Problem ist
Zu meiner großen Überraschung verteufelt Bonelli das Streben nach Perfektion keineswegs – im Gegenteil: Schon in der Antike wird die These vertreten, dass der Mensch nach der arete streben sollte, was gemeinhin als Tugend übersetzt wird, aber auch mit dem Wort Bestform übersetzt werden kann. Gemäß der Tugendethik gehört also das Streben nach Perfektion zu einem wünschenswerten Charakterzug, da er den Menschen veredelt und zur Verwirklichung seiner inneren Natur führt.
Wir können aber auch ganz banal unseren Alltag betrachten und feststellen, dass wir von anderen Menschen mitunter Perfektion erwarten. Wir wollen beispielsweise nicht, dass ein Chirurg oder ein Automechaniker schlampig arbeitet, sondern erwarten von ihnen eine perfekt durchgeführte Operation bzw. ein perfekt gewartetes und repariertes Auto. Bei jedem anderen Anspruch an seine Arbeit hätten Chirurg oder Mechaniker ihren Beruf verfehlt. Die Liste für solche Berufe, in denen Perfektion erwartet wird, ließe sich problemlos fortsetzen.
Das Paretoprinzip
Bonelli wendet sich damit explizit gegen den manchmal vorgebrachten Rat, alle seine Tätigkeiten nach dem sogenannten Paretoprinzip auszuführen. Das Paretoprinzip besagt, dass man für die Bewältigung einer Aufgabe 20% der Zeit aufwendet, um die Aufgabe zu 80% zu erledigen, während man 80% der Zeit benötigt, um die letzten 20% der Aufgabe zu erledigen.
Das Paretoprinzip ist sehr eingängig, auch wenn unklar ist, ob es überhaupt stimmt. Im Einzelfall hat wohl niemand je den Versuch gewagt, das Paretoprinzip einer empirischen Prüfung zu unterziehen. Aber das soll uns hier nicht weiter bekümmern.
Veranschaulichen wir das Prinzip lieber an einem Beispiel. Angenommen, das Paretoprinzip ist im Falle des Laubharkens gültig. Dann werde ich nach einem Harkdurchgang 80% des Laubs beseitigt haben. Wenn ich den Rasen aber wirklich frei von jeglichem Laub bekommen will, muss ich noch vier weitere Harkdurchgänge investieren, um das gesamte Laub vom Rasen zu beseitigen.
Lohnt sich das? Das muss jeder selbst entscheiden – das Paretoprinzip besagt nur, dass der Aufwand für Perfektion deutlich größer ist als der Aufwand für ein okayes Ergebnis. Und intuitiv ist da für viele Aktivitäten durchaus etwas dran, auch wenn das Paretoprinzip einer empirischen Grundlage entbehrt. Mit Münchhausen gesprochen: Für eine 80%-ige Faustregel ist das Paretoprinzip gar nicht schlecht – und der Aufwand für das Auffinden und Belegen einer besseren Faustregel lohnt sich nicht.
Die Grenzen des Paretoprinzips
Nun gibt es durchaus einige Tätigkeiten, bei denen man meines Erachtens mit der Ausrichtung nach dem Paretoprinzip gut fährt. Ein Beispiel ist das Aufräumen mit Kindern im Haus: Wenn man jeden Tag ein perfekt aufgeräumtes Haus erwartet, räumt man sich dumm und dämlich, weil die Kinder die schöne Ordnung jeden Tag aufs Neue durcheinanderbringen. Ein bisschen aufräumen ist zwar gut und nötig – aber für mich persönlich reicht es meistens aus, wenn man nur 80% aufgeräumt hat und sich das 100%-ige Aufräumen beispielsweise nur fürs Wochenende vornimmt.
Manche Hausarbeiten lassen sich allerdings gar nicht nach dem Paretoprinzip erledigen: Das Ein- und Ausräumen der Spülmaschine oder das Spülen des Geschirrs lassen sich nicht unter großer Zeitersparnis nur okay erledigen. Und wenn sich das Geschirr stapelt, muss man irgendwann einfach noch mehr Arbeit investieren – Aufschieben bringt also auch nichts. In Fällen wie diesen gilt die Faustregel: Ganz oder gar nicht.
Bonellis Einwand gegen das Paretoprinzip
Während man in manchen Fällen wie dem Laubharken also darüber streiten kann, ob ein 80%-ig geharkter Rasen nicht ausreicht, gibt es andere Bereiche, in denen wir zu Recht ein perfektes Ergebnis erwarten – wie im Falle des Chirurgs oder des Automechanikers. Dabei können wir von der Frage absehen, ob das Paretoprinzip in Berufsfeldern wie diesen überhaupt greift: Selbst wenn es gültig wäre, würden wir zu Recht auf ein 100%-iges Ergebnis pochen. Das Paretoprinzip hat also seine Grenzen – und das Streben nach Perfektion ist in manchen Bereichen eine berufsbedingte Anforderung.
Unsere Bewunderung für Perfektion in Sport und Kultur
Dass Perfektionsstreben nicht immer eine Schwäche sein muss, sieht man auch daran, dass wir Höchstleistungen unsere Bewunderung aussprechen, beispielsweise im Sport. Auch Sportler hätten ihren Beruf verfehlt, wenn sie glauben würden, eine 80%-ige Leistung wäre schon in Ordnung. Wir wollen Sportler in Bestform sehen, also mit verwirklichter arete. Und ohne Perfektionsstreben würden wir solche Sportler nie zu sehen bekommen.
Oder stellen Sie sich vor, Sie würden ins Theater gehen, und ein Schauspieler erinnert sich nur an 80% seines Textes und improvisiert den Rest. Oder Musiker im Orchester würden nur 80% der Noten treffen. Das Ergebnis wäre keine okaye Aufführung, sondern ein völliges Debakel. Daran sehen wir, dass wir auch im kulturellen Bereich wie selbstverständlich einen Maßstab anlegen, der sich eher an Perfektion als am Paretoprinzip orientiert.
Fazit
Wir sehen also: Das Streben nach Perfektion ist nicht unbedingt ein Makel, sondern im Gegenteil ein durch und durch menschlicher Zug, der uns zu Höchstleistungen anspornt und Bewunderung verdient. Aber was ist dann falsch am Perfektionismus? Und was verstehen wir überhaupt darunter, wenn es nicht das Streben nach Perfektion per se ist? Darum wird es im nächsten Blogeintrag gehen.