Mit diesem Blogeintrag starte ich eine Serie über mein Leben mit Schizophrenie. Die Schizophrenie ist eine der am meisten erforschten psychischen Krankheiten, die gleichwohl immer noch ein ziemliches Rätsel darstellt. Als Betroffener habe ich das seltene Privileg, die Krankheit aus der Ich-Perspektive beschreiben zu können. Meine Hoffnung ist, dass ich dadurch anderen Betroffenen eine Stütze sein kann – und vielleicht den Angehörigen eine Hilfe, diese äußerst schwerwiegende Erkrankung ihres Liebsten besser zu verstehen.
Das Krankheitsbild
Schizophrenie = gespaltene Persönlichkeit?
Ein weit verbreiteter Irrglaube über die Schizophrenie besteht darin, die Wortbedeutung der Krankheit – „gespaltener Geist“ – wörtlich zu nehmen. Demnach wäre die Schizophrenie eine Form der multiplen Persönlichkeitsstörung, bei der sozusagen mehrere Personen in einem Körper wohnen. (Die multiple Persönlichkeitsstörung heißt heute dissoziative Identitätsstörung; ich bleibe aber beim alten Begriff, weil er geläufiger ist.)
So sagt man im Volksmund beispielsweise, eine Äußerung eines Politikers sei „schizophren“, wenn sie nicht mit den sonstigen Ansichten dieses Politikers übereinstimmt – mithin angenommen werden muss, dass der Politiker eine gespaltene Persönlichkeit hat, um diese widersprüchlichen Ansichten unter einen Hut zu bekommen. Ein weiteres Beispiel für diese Vorstellung ist ein spaßiges Scherz-T-Shirt mit der Frontaufschrift „Ich bin schizophren!“ und der Rückenaufschrift „Ich auch!“
Schizophrenie = wiederkehrende Psychosen!
In Wahrheit hat die Schizophrenie mit dieser Vorstellung nichts zu tun. Eine multiple Persönlichkeitsstörung ist eine multiple Persönlichkeitsstörung – und keine Schizophrenie. Kennzeichnend für eine Schizophrenie ist keine gespaltene Persönlichkeit, sondern das wiederholte Auftreten sogenannter Psychosen. Dieser Begriff ist schon etwas weniger geläufig als multiple Persönlichkeitsstörung oder gar Depression. Was ist also eine Psychose?
Psychose = Normales Erleben + Positivsymptomatik
Psychosen können sehr unterschiedlich sein, weshalb es schwierig ist, eine klare Definition zu geben. Eine Psychose erkennt man im Allgemeinen an einer sogenannten Positivsymptomatik. Das klingt erstmal gut – ist es aber nicht. Positiv ist hier nämlich nicht im Sinne von „gut“ gemeint, sondern im Sinne von „plus“ – will sagen: Im Vergleich zum normalen Erleben gibt es Symptome, die über das normale Erleben hinaus schießen – man erlebt also „mehr“, als es normale Menschen tun. Man kann also folgende Gleichung aufstellen: Psychotisches Erleben = Normales Erleben + Positivsymptomatik. Daher der Name.
Beispiele für Positivsymptome
Halluzinationen
Die bekannteste Art von Positivsymptomen sind Halluzinationen: Man hört oder sieht Dinge oder Personen, die von anderen Personen nicht gesehen werden – die mithin also nicht da sind. Ich persönlich habe beispielsweise eine innere Stimme gehört, die ich als die Stimme Gottes identifiziert habe und mit der ich sprechen konnte. Ich habe diese Stimme allerdings nicht wirklich im Raum verortet, sondern eher in meinem Hinterkopf. Bei anderen Schizophrenen können die Stimmen auch so laut werden, als würde jemand neben ihnen stehen und sie anschreien. Muss schrecklich sein.
Wahnvorstellungen
Eine weitere sehr gängige Art von Positivsymptomen sind Wahnvorstellungen: Man ist felsenfest von einer irrigen Vorstellung der Wirklichkeit ergriffen und lässt sich auch nicht durch Gegenargumente oder widersprechende Evidenz vom Gegenteil überzeugen. Während meiner ersten Psychose hatte ich beispielsweise den Wahn, ich wäre die erleuchtete Wiedergeburt von Jesus Christus. Während meiner zweiten Psychose war ich hingegen davon überzeugt, dass mein Klinikaufenthalt wie bei der Truman Show aufgezeichnet und im Fernsehen gesendet wird.
Es ist schwer verständlich, warum Erkrankte überhaupt einen solchen Wahn ausbilden. Woher die Wahnidee kommt, kann ich auch nicht sagen. Ich vermute, sie kann sich ganz zufällig ergeben. Aus der Innenperspektive kann ich aber sagen, wie sich der Wahn bei mir gehalten hat: Es war nämlich so, dass mir alle möglichen Zufälle und Begebenheiten als überaus sinnvoll erschienen – als würde ich die Realität erst jetzt wirklich verstehen und durchschauen.
Man könnte es auch so ausdrücken: Ganz gleich, was um mich herum passierte, es fühlte sich ganz oft so an, als würde wieder einmal der Groschen fallen. Und weil sich die Wahnidee bereits als fixe Idee in meinem Kopf festgesetzt hatte, wurde jeder fallende Groschen auf das Konto der Wahnidee geschlagen: Heureka, wieder eine Bestätigung meiner These!
Positivsymptome als Folge eines Dopaminüberschusses im Gehirn?
Der gängigste Erklärungsansatz für das Auftreten von Positivsymptomen besteht in der Theorie, dass es im Gehirn einen Dopaminüberschuss gibt. Ein solcher Dopaminüberschuss führt dazu, dass viele Neuronen im Gehirn deutlich häufiger feuern, als sie es normalerweise tun würden. Das würde erklären, warum zum normalen Erleben bei einer Psychose etwas hinzukommt – die Positivsymptome sind demnach das Ergebnis des übermäßigen Feuerns der dopaminergen Gehirnareale.
Die Theorie des Dopaminüberschusses würde auch erklären, warum in vielen Fällen die Gabe eines Antipsychotikums wie Olanzapin, welches die Dopaminrezeptoren im Gehirn blockiert, zu einer Linderung der Positivsymptomatik führt. Aber wie gesagt: So wirklich verstanden hat man die Krankheit Schizophrenie noch nicht, und es sieht so aus, als wäre die Wahrheit doch etwas komplexer und vielschichtiger, als es die Theorie des Dopaminüberschusses allein vermuten lässt.
Die Positivsymptomatik: Mitunter subjektiv durchaus „positiv“
Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Auch wenn die Positivsymptomatik für die Umwelt sehr irritierend ist und viel Aufsehen erregt, war für mich persönlich der Leidensdruck durch die Positivsymptome nicht sonderlich hoch. Klar, ich musste ins Krankenhaus, und ja, ich konnte nicht am normalen Leben teilnehmen – aber subjektiv habe ich die Zeit ganz anders empfunden.
Die Zeit meiner ersten Psychose habe ich alles in allem als sehr glückliche Zeit in Erinnerung – kein Wunder, ich war ja erleuchtet. Und auch während meiner zweiten Psychose hatte ich ja ständig das Gefühl, ich hätte den vollen Durchblick und alles verstanden – warum sollte es mir also schlecht gehen?
Man kann das natürlich nicht auf alle Schizophrenen verallgemeinern – gerade wenn man ständig Stimmen hört, die einen beschimpfen und beleidigen, ist das überhaupt nicht toll. Aber dass es immer einen Leidensdruck durch die Positivsymptomatik gibt, kann man eben auch nicht sagen. Jede Schizophrenie ist anders – und manchmal ist die Positivsymptomatik für den Betroffenen durchaus positiv im allgemeinen Sinn des Wortes.
Die Negativsymptomatik: Die böse Schwester der Positivsymptomatik
Allerdings hat die Krankheit Schizophrenie einen gewaltigen Haken – und der besteht darin, dass es die meisten Schizophrenen nach einer überstandenen Psychose mit den sogenannten Negativsymptomen zu tun bekommen. Und die sind – wenn auch nicht dem Wortsinn nach – durch und durch negativ im allgemeinen Sinn des Wortes.
Postpsychotische Depression = Normales Erleben – Negativsymptomatik
Die sogenannten Negativsymptome heißen so, weil sie etwas bezeichnen, was im Vergleich zum normalen Erleben fehlt. Gibt es also während einer Psychose einen Überschuss an Erleben, fällt nach einer Psychose etwas weg. Das kann der Antrieb sein, das können Emotionen sein, das kann Denkfähigkeit sein, das kann so ziemlich alles sein – vor allem alles, was das Leben lebenswert macht.
Für einen Außenstehenden ist eine ausgeprägte Negativsymptomatik von einer Depression praktisch nicht zu unterscheiden – weshalb sich auch der Begriff der postpsychotischen Depression eingebürgert hat. Aber als jemand, der beides kennt, meine ich doch, gewisse Unterschiede festgestellt zu haben.
Während meiner mittelschweren Depression nach dem Referendariat war es beispielsweise so, dass ich mich in einer ausweglosen Situation gesehen habe und viel gegrübelt habe, wie ich da wieder rauskommen soll. Es gab also negative Gedankenspiralen, die immer wieder um das gleiche Thema gekreist haben und mich runtergezogen haben.
Solche Gedankenspiralen gab es bei meiner postpsychotischen Depression nicht. Mein Kopf war vielmehr ziemlich leer. Was gleich war, war allerdings das Gefühl der absoluten Leere und Depression – es fällt schwer, für dieses Gefühl Worte zu finden. Es ist ein Gefühl der absoluten Überforderung mit allem, das dich ins Bett zwingt und dich wünschen lässt, du wärest tot. Das gibt vielleicht in einem Satz am ehesten einen Einblick, wie es sich anfühlt, schwer depressiv zu sein.
Negativsymptomatik: Eine Quasi-Depression, nur noch schlimmer
Das wirklich Schlimme an der Negativsymptomatik ist, dass aus meiner Sicht wenig hilft als Zeit, Zeit und nochmal Zeit. Man verstehe mich nicht falsch: Ich empfehle ausdrücklich für diese Zeit eine Begleitung durch Psychiater, Psychologe, Freunde, Verwandte, und allem, was man sonst noch an Unterstützung bekommen kann.
Man sollte allerdings von dieser Unterstützung nicht mehr erwarten als dieses: Dass sie einem hilft, durch die schwere Zeit zu kommen – dass man also den schweren Weg durch die Negativsymptomatik nicht alleine gehen muss.
Der Psychiater wird eine mehr oder weniger hohe Dosis an Antidepressiva verschreiben – und ein bisschen mögen sie helfen. Aber aus eigener Erfahrung kann ich nicht behaupten, dass die Antidepressiva mein Leben wirklich verbessert haben. Es fühlte sich alles immer noch gewaltig scheiße an.
Die Psychologin wird den Prozess durch Psychotherapie begleiten. Ich habe mich hier für eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie entschieden, weil ich persönlich angesichts des Krankheitsbildes wenig Sinn in einer Verhaltenstherapie gesehen habe. Und ich bin auch zufrieden mit meiner Therapeutin – das liegt aber vor allem daran, dass wir über alles reden können, also an der Beziehungsqualität. Sie begleitet mich durch den Prozess – das reicht mir auch schon.
An dieser Stelle sollte ich noch erwähnen, dass es die Möglichkeit gibt, während der akuten Phase bei der Krankenkasse eine Haushaltshilfe zu beantragen. Mir hat dabei die Sozialarbeiterin der Klinik geholfen. Ich kann das nur wärmstens empfehlen – man wird nämlich gerade zu Beginn zu Hausarbeit de facto nicht in der Lage sein. Ich hatte darüber hinaus das große Glück, dass ich ein gutes familiäres Netz habe, das meinen Absturz komplett aufgefangen hat.
Aber auch das heißt letztendlich nicht viel mehr, als dass das Leben um dich herum irgendwie weiterläuft – und du selbst alleine durch die Hölle gehen musst. Denn das ist eine ausgewachsene postpsychotische Depression: Die Hölle auf Erden.
Wie lange muss man gehen? Das ist bei jedem unterschiedlich, aber ich sage es mal so: Mein Krankheitsverlauf ist meiner Therapeutin zufolge der wohl beste, den sie je gesehen hat – und auch mein Psychiater ist äußerst zufrieden mit meinen Fortschritten. Aber bis ich an diesem Punkt angelangt bin, hat es gut zwei Jahre gedauert. Und Fortschritte werden nicht in Tagen gemessen, auch nicht in Wochen, sondern eher in Monaten.
Man stelle sich den ganzen Prozess am besten wie einen leeren Eimer vor, der unter einem langsam tropfenden Wasserhahn steht. Ein voller Eimer repräsentiert das volle, normale Erleben; der leere Eimer repräsentiert die durch Negativsymptomatik geprägte Scheißzeit nach einer Psychose; der tropfende Wasserhahn repräsentiert die langsame Besserung – und der Wasserhahn tropft ein Mal am Tag.
Man hat erstmal das Gefühl, dass mit dem Eimer so gut wie gar nichts passiert – nach ein paar Wochen sieht man aber, dass sich immerhin schon eine kleine Pfütze im Eimer gebildet hat. Die ist zwar immer noch scheiße – aber immerhin besser als nichts. Dann dauert es wieder ein paar Monate, und man kann schon mal anfangen, einen kleinen Strich an den Eimer zu machen, um die Füllhöhe anzugeben. Immer noch scheiße – aber besser als ein paar Monate zuvor. Und so geht das in Wochen- und Monatsabständen weiter.
Einschränkend gehört zur vollen Wahrheit aber auch: Wie lange der Wasserhahn tropft, weiß niemand. Will sagen: Ob der Eimer wieder so schön voll wird wie bei anderen, oder ob er nur dreiviertelvoll, oder nur halbvoll wird – das weiß keiner. Will sagen: Es gibt häufig eine sogenannte Residualsymptomatik, also einen Teil der Negativsymptome, der nicht mehr weggeht. Bei mir ist es eine gewisse Gedankenleere, die ich auch nach zweieinhalb Jahren immer noch mit mir trage – ich denke einfach nicht mehr so viel wie zu meinen früheren guten Zeiten. Ich habe keine Einfälle. Und es macht nichts mehr „Klick“. Auch meinen Humor habe ich bis jetzt nicht mehr wieder gefunden, was vielleicht das Bedauerlichste an meinem Zustand ist.
Wieviel davon wiederum eine Nebenwirkung der Tabletten ist, und wieviel einfach ein Restsymptom der Erkrankung, weiß auch niemand zu sagen. Aber eines kann ich aus Erfahrung ebenfalls sagen: Man sollte nie, nie, nie auf die Idee kommen, die Tabletten abzusetzen. Dann befindet man sich nämlich auf dem besten Weg in die nächste Psychose – und die Negativsymptomatik wird erfahrungsgemäß nach jeder Psychose schlimmer. Es hilft alles nichts: Man muss der Krankheit ihre Zeit geben, und mit etwaigen Restsymptomen/Nebenwirkungen leben lernen.
Schluss und Ausblick
Das wäre in aller Kürze, was ich als die Basics über Schizophrenie bezeichnen würde. In späteren Folgen – falls es welche gibt, bei mir weiß man das nie so genau – würde ich etwas autobiographischer aus dem Nähkästchen plaudern. Wem dieser Eintrag eine Hilfe war, und wer mehr über das Leben als Schizophrener erfahren möchte, der kann mir gerne einen Kommentar hier unter dem Eintrag hinterlassen – ich bin eine ausgeprägte Scanner-Persönlichkeit und schliddere gerne von einem Thema zu einem anderen, wenn mich niemand von meinen krummen Wegen abhält… 😉