In einem meiner letzten Blogeinträge habe ich versucht, mein Verlangen nach herausragenden und bedeutsamen Leistungen unter die argumentative Lupe zu nehmen. Ein befreundeter Kommentator hat zwei Anschlussfragen formuliert: 1. Worin besteht im Allgemeinen eine bedeutende Leistung? 2. Was für eine bedeutende Leistung strebe ich konkret an? Eine weitere offene Frage, die ich mir selbst gestellt habe, lautete: 3. Wozu will ich überhaupt etwas Bedeutendes leisten? In diesem Blogeintrag beginne ich mit einer Untersuchung der ersten Frage, genauer mit einem Lösungsvorschlag derselben: Ist eine bedeutende Leistung gleichzusetzen mit einer berühmten Leistung?
Bedeutsamkeit = Ruhm?
Was macht eine Leistung bedeutend? Mein Freund bot im Kommentarbereich folgende Definition an: Eine Leistung ist dann bedeutend, wenn möglichst viele das so sehen. Er gab aber gleich zu bedenken, dass diese Form des Ruhmes möglicherweise weder notwendig noch hinreichend für eine bedeutende Leistung ist. Ich werde diesen Verdacht sogleich mit konkreten Beispielen unterfüttern:
Ruhm ist nicht notwendig für eine bedeutende Leistung
Es gibt bedeutende Leistungen, die von den meisten Menschen völlig unbeachtet geblieben sind. Ich möchte ein Beispiel nennen: Ich halte Ulrich Blaus Hauptwerk Die Logik der Unbestimmtheiten und Paradoxien für ein meisterhaft geschriebenes Glanzstück, in dem eine ganze Reihe kopfzerbrechender Paradoxien eine befriedigende Auflösung erfahren. Seinen Namen kennt aber fast niemand. Und seine Lösungsansätze ebenso wenig. Weshalb es mir vorbehalten blieb, auf Basis seiner Arbeit eine epistemische Lösung des Kahlkopfparadoxes vorzuschlagen. Meine diesbezügliche Abhandlung findet man in der Zeitschrift für philosophische Forschung, Jahrgang 2022, Heft 1.
Ruhm ist nicht hinreichend für eine bedeutende Leistung
Dass Ruhm ganz allgemein nicht hinreichend für eine bedeutende Leistung ist, sollte jedem klar sein, der etwas mit dem Begriff „Influencer“ anfangen kann. Unsere Behauptung ist aber, dass selbst dann, wenn viele Leute ein Werk für bedeutend halten, dieses Werk mitnichten bedeutend sein muss. Lässt sich das überhaupt zeigen?
Nun, was wir brauchen, ist ein Gegenbeispiel. Dieses muss notwendig von der Art sein, dass es von vielen für bedeutend gehalten wird – diese vielen Menschen werden also abstreiten, dass das Werk ein Beispiel der gewünschten Art ist. Man kann also kein Beispiel wählen, das auf allgemeinen Zuspruch hoffen kann.
Beispiel 1: Das Neue Testament
Und doch werde ich mich in dieser Weise exponieren: Ich halte das Neue Testament für kein bedeutendes Werk. Ich werde das nur sehr kurz begründen.
Die vier Evangelien sind zum größten Teil Märchengeschichten, die als wahr aufgetischt werden und daher einen unappetitlichen Beigeschmack an sich tragen. Selbst von den Jesusworten kann man sich kaum sicher sein, ob sie auf Jesus oder Paulus oder sonst wen zurückzuführen sind. Ich persönlich glaube, dass nur weniges auf Jesus zurückgeht – ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass sich der historische Jesus für manche der auf ihn zurückgehenden Aussprüche bis heute im Grabe herumdreht.
Die Paulusbriefe sind Werke eines Geisteskranken, der sich bisweilen innerhalb einzelner Kapitel selbst widerspricht – so man denn auch aus Paulusbriefen regelmäßig das herauslesen kann, was man herauslesen will. Zu allem Übel kommt noch hinzu, dass immer wieder zwischen den Zeilen aufscheint, was für ein unangenehmer Zeitgenosse Paulus gewesen sein muss. Es ist mir völlig schleierhaft, wie aus diesem Mann das Christentum als Weltmacht hervorgehen konnte – aber so ist es nun einmal gewesen. Die restlichen Briefe sind ziemlich dünn und auch nicht viel besser.
Die Apostelgeschichte ist insofern bedeutend, als es das einzige Schriftstück ist, das uns die frühe Kirche überhaupt näherbringen kann. Aber auch hier liegen Wahrheit und Dichtung zumeist so eng beieinander, dass man nicht von einem historischen Schriftstück sprechen kann. Auch hier ist also fraglich, was man mit der Apostelgeschichte überhaupt anfangen kann.
Bleibt noch das Buch der Offenbarung. Auch hier konnte sich so ziemlich jeder herausziehen, was ihm gerade passte – und das prophezeite Ende der Welt ist auch jetzt, knapp zweitausend Jahre später, immer noch nicht eingetreten. Vermutlich ist es daher wertlos.
Man könnte noch viel mehr über das Neue Testament schreiben, aber mein Psychiater hat mir krankheitsbedingt davon abgeraten, mich in das Studium religiöser Texte zu vertiefen. Daher mache ich das auch nicht (mehr). Aber was ich vom Neuen Testament gelesen habe reicht mir auch, um es aus tiefster Überzeugung abzulehnen. Nebenbei bemerkt: Das Alte Testament halte ich durchaus für bedeutend, und beim Koran bin ich mir zumindest nicht ganz sicher. Insofern spricht hier keine allgemein ablehnende Haltung gegenüber Religion aus mir.
Beispiel 2: John Rawls‘ Eine Theorie der Gerechtigkeit
Wem das gewählte Beispiel zu anstößig ist, hier ein weniger spektakuläres: Eine Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls zählt gemeinhin als das bedeutendste Werk der Politischen Philosophie im zwanzigsten Jahrhundert, und sein Gedankenexperiment vom Schleier des Nichtwissens, hinter den sich die Bürger eines Staates begeben sollten, um ein gerechtes Staatswesen auszukungeln, findet sich in jedem Schulbuch der höheren Philosophie-Jahrgänge.
Und doch halte ich sein Werk nicht für bedeutend. Zum einen ist das Gedankenexperiment vom Schleier des Nichtwissens in der Tat das einzig bemerkenswerte Stück in dem hunderte Seiten dicken Wälzer – ohne den Schleier des Nichtwissens hätte sein Werk wohl gar keine Aufmerksamkeit erhalten. Zum anderen ist aber gerade dieses Gedankenexperiment für mich nicht überzeugend.
Mein wesentlicher Punkt ist, dass der Schleier des Nichtwissens nicht hinreichend ist, um eine gerechte Gesellschaftsordnung ausfindig zu machen. Rawls setzt einfach voraus, dass die Bürger hinter dem Schleier des Nichtwissens risikoavers sind: Sie würden den Wohlstand der wohlhabenden Klasse zumindest so weit reduzieren und umverteilen, dass die größten Härten für den ärmsten Teil der Bevölkerung geglättet werden.
Aber warum sollte das so sein? Man könnte auch risikofreudig sein und sich sagen: Ich spiele Hopp oder Topp! Ich würde mir gerne eine Luxusyacht und Traumvilla leisten – und wenn das nur im Turbokapitalismus geht, gehe ich das Risiko ein: Entweder ich kann mir im Turbokapitalismus eine Luxusyacht und Traumvilla leisten, oder ich gehe vor die Hunde – letzteres ist mir aber relativ egal, weil ich mich im schlimmsten Fall immer noch umbringen kann.
Umgekehrt könnte man hingegen auch derart risikoavers sein, dass man nur einen völlig egalitären Quasi-Sozialismus als gerechte Staatsform ansieht: Ich möchte weder eine Luxusyacht noch eine Traumvilla, sondern einfach nur in Ruhe ein gemütliches Leben auf Sparflamme führen – ich brauche nicht viel, um glücklich zu sein. Deshalb möchte ich, dass alle möglichst gleich und möglichst viel verdienen, damit ich mit der höchsten Sicherheit mein eigenes bescheidenes Auskommen erhalte.
Ich sehe nicht, wie man diesen Streitpunkt hinter dem Schleier des Nichtwissens beilegen könnte. Manche sind sehr risikofreudig, manche sind sehr risikoavers, und alle anderen landen irgendwo im übrigen Spektrum. Also komme ich zu keinem konsensualen Schluss: Die Diskussion hinter dem Schleier des Nichtwissens endet in einem „Let‘s agree to disagree“ – wie übrigens jede politische Diskussion ohne Schleier des Nichtwissens auch…
Das ist mein Hauptargument gegen den Schleier des Nichtwissens. Es gibt noch mehr Punkte, die man vorbringen könnte, aber ich möchte Rawls‘ Werk nicht durch eingehende Beschäftigung damit bedeutender erscheinen lassen als es ist… 😉
Fazit: Ruhm und Bedeutsamkeit sind zwei Paar Schuhe
Wir können also festhalten: Im Allgemeinen ist eine Leistung, die von möglichst vielen Menschen für bedeutend gehalten wird, nicht unbedingt eine bedeutende Leistung – und umgekehrt gibt es bedeutende Leistungen, die von kaum jemandem für bedeutend gehalten werden.
Das Problem der ersten Frage stellt sich also in verschärfter Form: Wenn Bedeutsamkeit nicht am Beifall der Mitmenschen gemessen wird, woran denn dann? Mit dieser Frage werde ich mich in diesem Blogeintrag nicht mehr beschäftigen – sie wird (vielleicht) Thema eines weiteren Blogeintrags.
Wer weitere Beispiele hat, in denen Ruhm und Bedeutsamkeit auseinanderklaffen, kann sie gerne im Kommentarbereich nennen: Als Mathematiker sind mir Gegenbeispiele meine liebsten Beispiele!