Heute beginne ich mit einer Serie über den Geist des Kapitalismus. In dieser Serie erfährst du, was der Geist des Kapitalismus überhaupt ist, wie er entstanden ist, und wie er sich im Laufe des letzten Jahrhunderts entwickelt hat. Im heutigen Blogpost widme ich mich der Frage nach dem Wesen und der Entstehung des ersten kapitalistischen Geistes. Hierbei wird es vor allem um die Entstehung der Arbeitsmoral gehen. Grundlage des Blogposts ist Max Webers bahnbrechende Arbeit „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ aus dem Jahre 1905.
Was ist der Geist des Kapitalismus?
Der Geist des Kapitalismus – oder allgemeiner der Geist einer jeden gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Ordnung – besteht in einer Art gesellschaftlich geteilter Lebenseinstellung oder Weltsicht, die sich vor allem in ethisch gefärbten Maximen der Lebensführung äußern. Wichtig hierbei ist, dass diese Maximen nicht bloße Ratschläge zur Lebensklugheit darstellen, sondern moralische Anforderungen, die an das Individuum im Kapitalismus gestellt werden. (Hier soll noch nichts darüber gesagt werden, ob diese Anforderungen tatsächlich moralischer Art sind – es geht nur darum, dass sie von den Individuen als moralische Anforderungen verstanden werden.)
Beispiel: Die Berufspflicht oder Arbeitsmoral
Ein charakteristisches Merkmal des kapitalistischen Geistes nach Weber ist die sogenannte Berufspflicht, oder wie man heute eher sagen würde: Die Arbeitsmoral. Man soll in unserer Gesellschaft nicht nur eine bezahlte Lohnarbeit ausüben, sondern man soll sich dabei auch anstrengen und produktiv sein. Dabei spielt es moralisch gesehen gar keine Rolle, was für einen Beruf man ausübt. Die Hauptsache ist, dass man arbeiten geht und in seinem Beruf fleißig ist.
Meinen wir Arbeitsmoral tatsächlich in einem moralischen Sinn?
Durch die kapitalistische Wirtschaftsweise wird diese Arbeitsmoral auch durch wirtschaftliche Gesetze erzwungen: Wer nicht tüchtig in seinem Beruf ist, wird ausgesondert und aufs ökonomische Abstellgleis gestellt. Umgekehrt haben Arbeitslose oft mit dem moralisierenden Vorwurf zu kämpfen, dass sie sich eben nicht genügend angestrengt haben, was beweist, dass das Thema Arbeitslosigkeit eben kein rein wirtschaftswissenschaftliches Feld ist, sondern auch zu moralischen (bzw. als moralisch verstandenen) Diskursen Anlass gibt.
Warum die Arbeitsmoral charakteristisch für den kapitalistischen Geist ist
Im präkapitalistischen Mittelalter herrschte die Vorstellung einer Berufspflicht oder Arbeitsmoral noch nicht: Man hat einfach so viel verdient, wie man zum Lebensunterhalt brauchte. „Der Mensch will ‚von Natur‘ nicht Geld und mehr Geld verdienen, sondern einfach leben, so leben, wie er zu leben gewohnt ist, und soviel erwerben, wie dazu erforderlich ist.“ (Weber) Umgekehrt waren allzu fleißige Arbeiter oder Unternehmer sogar moralisch suspekt, da übermäßiger Arbeitseifer auf Ruhm- und Geltungssucht oder bloße Gier hindeuten konnte. Solche moralischen Vorstellungen zur Arbeitswelt stellen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die auf stetiger Steigerung der Arbeitsproduktivität basiert, offensichtlich einen großen Widerstand entgegen.
Wie ist der kapitalistische Geist entstanden?
Webers Frage ist vor diesem Hintergrund mehr als berechtigt: Wie konnte der kapitalistische Geist in einer präkapitalistischen, mittelalterlichen Welt überhaupt entstehen? Anders gefragt: Welche ideengeschichtliche Wurzeln hat der Geist des Kapitalismus in einer präkapitalistischen Welt gehabt?
Der Beruf als Berufung durch Gott
Der Begriff des „Berufs“ kommt aus dem Protestantismus, genauer aus den protestantischen Bibelübersetzungen. Die Vorstellung ist, dass die Welt ein nach komplizierten, für das Individuum nicht durchschaubaren Regeln geordneter Kosmos ist, in dem jeder Mensch seine von Gott vorherbestimmte Aufgabe zu erledigen hat. Diese Aufgabe kristallisiert sich in seinem Beruf.
Warum immer mehr und mehr arbeiten?
Nun leitet sich aus dieser Berufsbestimmung noch nicht her, dass man immer mehr und mehr arbeiten muss, um Gott zu gefallen. Man könnte auch einfach das tun, was einem von Gott auferlegt wurde, und dann nach getaner Arbeit seine Füße hochlegen. Woher kommt also der Drang nach Produktivitätssteigerung?
Die Prädestinationslehre des Calvinismus
Max Weber sieht die Ursprünge im Calvinismus angelegt, und zwar genauer in der Prädestinationslehre des Calvinismus. Laut der Prädestinationslehre des Calvinismus hat der Mensch durch den Sündenfall jede Möglichkeit verspielt, aus eigener Kraft ein gutes und gottgefälliges Leben zu führen. Gott hat daher vorherbestimmt, welche Menschen er kraft seiner Gnade zum ewigen Leben ins Paradies führen wird, und auf welche Menschen nach ihrem Tod die ewige Verdammnis wartet. An diesem Urteil Gottes ist nicht zu rütteln: Der Mensch kann weder durch Glaube noch durch Werke Einfluss darauf nehmen, ob er nach dem Tod ins Paradies oder in die Hölle kommt.
Arbeit als Vergrößerung der Ehre Gottes
Aber wenn die Menschen gar keinen Einfluss auf Gottes Urteil nehmen können: Warum sollten sie dann überhaupt so viel Energie in die Arbeit stecken? Hier nennt Weber vor allem zwei Triebkräfte. Zum einen wird die Arbeit protestantisch als Möglichkeit verstanden, die Ehre Gottes zu vergrößern. Wir erinnern uns: Die Welt ist ein durch Gott wohl geordneter Kosmos, und indem der Einzelne sich in seinen Platz im Kosmos fügt, vergrößert er die Ordnung und damit die Ehre Gottes, weil Gott die Welt so gut geordnet hat.
Wie überwindet man die Furcht vor dem Hölle?
Dies alleine wird die Menschen allerdings nicht unbedingt zu mehr Arbeit motivieren, und gerade die Seelsorger hatten alle Hände voll zu tun, die individuellen psychischen Folgen der nachgerade menschenfeindlichen, fatalistischen Glaubensinhalte des Calvinismus abzufedern. Denn wenn sowieso schon feststeht, ob ich in den Himmel oder in die Hölle komme, und wenn ich dieses Urteil durch keinerlei Taten abändern kann: Wie kann ich dann überhaupt meine Furcht vor der Hölle überwinden?
Die erste Antwort: Leben in Selbstgewissheit
Die Seelsorger hatten auf diese Frage vor allem zwei Antworten zur Hand. Zum einen gaben sie den Rat, dass man stets so leben sollte, als würde man zu Gottes Auserwählten gehören – umgekehrt sollte man jeden Zweifel daran als Anfechtung des Teufels verstehen, der die Reinheit des Menschen prüfen möchte, um sie vom rechten Pfad abzubringen.
Die zweite Antwort: Selbstgewissheit durch rastlose Berufsarbeit
Aber woher sollte man diese Selbstgewissheit nehmen? Hier kam die zweite Antwort ins Spiel: Die Seelsorger empfahlen zur Erlangung der Selbstgewissheit eine rastlose Berufsausübung, denn Zweifel und Ängste kommen nur in den müßigen, ruhigen Stunden, während rastlose Tätigkeit alle Sorgen und Ängste zu vertreiben vermag.
Der arbeitende Mensch als Werkzeug Gottes
Und das nicht nur in psychologischer Hinsicht, sondern auch in religiöser Hinsicht: Denn die eigenen Werke vermögen zwar Gottes Urteil nicht zu ändern, aber wenn man sich völlig seiner von Gott auferlegten Rolle hingibt, so lässt man Gott gewissermaßen durch sich hindurch an seiner eigenen Ordnung wirken. Anders ausgedrückt: Durch die Berufsausübung wird man gewissermaßen das Werkzeug in der Hand Gottes, sodass man sagen kann, dass fleißige Berufsarbeit ein Zeichen dafür ist, dass man zu Gottes Auserwählten gehört.
Der asketische Zug des Protestantismus erzeugt Arbeitsamkeit um ihrer selbst Willen
Aus diesem Gedanken folgt aber auch, dass man sich auf seinen durch Arbeit verdienten Reichtümern niemals ausruhen darf: Denn gerade das Ausruhen, das müßige Genießen seines Luxus, ja auch nur das ruhige Nachdenken über Gott und die Welt, sorgen dafür, dass man nicht mehr an der Ordnung der Welt mitwirkt. Dies wiederum lässt sich als Zeichen dafür deuten, dass man nicht mehr Gottes Werkzeug ist – also besteht die Gefahr, dass man doch zu Gottes verworfenen Kreaturen gehört. Wir sehen daher, wie dieses protestantische Gedankengebäude gerade den Typus des rastlosen Arbeiters erzeugt, den der Kapitalismus in seinem stetigen Drang zur Produktivitätssteigerung um ihrer selbst Willen bestens gebrauchen kann.
Das absurde Ergebnis in areligiösen Zeiten: Man lebt, um zu arbeiten
Zu Webers Zeiten waren die durch und durch kapitalistischen Persönlichkeiten bereits areligiös. Würde man sie nach ihren Beweggründen fragen, warum sie überhaupt so hart arbeiten, würden sie nach Weber entweder sagen, dass sie es für ihre Kinder und Enkel tun, oder aber, dass ihnen die Arbeit zum Leben unentbehrlich geworden ist. Hier zeigt sich nach Weber aber bereits das dem unbefangenen Beobachter irrationale Moment des kapitalistischen Geistes: Die Arbeit ist nicht mehr dazu da, den Lebensunterhalt zu bestreiten, sondern man lebt vielmehr, um zu arbeiten. Und das, wie man aus heutiger Sicht hinzufügen möchte, offenbar auch auf Kosten der kommenden Generationen – siehe Fridays for Future.
Ausblick
In den kommenden Blogposts der Serie zum kapitalistischen Geist werde ich mich mit der Weiterentwicklung des kapitalistischen Geistes beschäftigen. Grundlage werden die Arbeiten von Boltanski und Chiapello zum „neuen Geist des Kapitalismus“, sowie von Bröckling zum „unternehmerischen Selbst“ sein. Dort werden wir vor allem nachverfolgen, welche moralischen Anforderungen an das Individuum durch den Siegeszug des Kapitalismus hinzugekommen sind.