Im Moment unternehme ich meinen vierten Anlauf, die Phänomenologie des Geistes von Georg Wilhelm Friedrich Hegel zu lesen. Da dies der erste Anlauf ist, in dem ich es bis ins Geist-Kapitel geschafft habe, bin ich relativ zuversichtlich, dass ich diesmal bis zum Ende durchhalte. Leider ist die Lektüre äußerst zeitintensiv und bringt nur langsame Erträge, die sich nicht zu einem Blogeintrag fügen wollen. Daher gibt es heute nur eine kleine Lesehilfe für alle, die die Hegelsche „Anstrengung des Begriffs“ selbst einmal auf sich nehmen wollen: Ich möchte versuchen, ein wenig Licht in das der Phänomenologie zugrunde gelegte Subjekt-Objekt-Modell der Erkenntnis zu bringen.
Einige Vorbemerkungen
Bevor ich mich ans Werk mache, vielleicht einige Voranmerkungen. Erstens: Ich bin kein Hegel-Experte. Ich habe nicht mein Leben der Hegel-Exegese gewidmet, sondern lediglich einige (vermutlich hunderte) Stunden. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Daraus folgt zweitens: Dieser Blogeintrag richtet sich offensichtlich nicht an Hegel-Experten, sondern an arglose Hegel-Laien, die von Hegels eigener Terminologie erschlagen und überfordert werden.
Diese Hegel-Laien sollten allerdings drittens meine Erläuterungen nicht unmittelbar für bare Münze nehmen: Ich hoffe zwar inständig, dass meine Erläuterungen auch für den interessierten Laien Sinn ergeben – aber ob Hegel mit seiner Terminologie wirklich das gemeint hat, was ich in diesem Blogeintrag entfalten werde, kann ich als Hegel-Laie schlicht nicht beurteilen. Ich verstehe meine eigenen Erläuterungen eher wie Stützräder: Am Anfang der Hegel-Lektüre können sie durchaus nützlich sein, aber ab einem gewissen Punkt kann und sollte man sie einfach wegwerfen und alleine denken.
Drei Elemente des Wissensbegriffs
Kommen wir nach diesen Vorbemerkungen nun zur Sache. Das Ziel der Phänomenologie des Geistes – und ich möchte vermuten, der Hegelschen Philosophie im Allgemeinen – hat Hegel selbst in der Vorrede seiner Schrift wie folgt formuliert:
„Daran mitzuarbeiten, daß die Philosophie der Form der Wissenschaft näher komme, – dem Ziele, ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein, – ist es, was ich mir vorgesetzt.“ (Phänomenologie des Geistes, S. 11)
Ich kann mir die Nebenbemerkung nicht verkneifen, dass es äußerst seltsam ist, dass Hegel den griechischen Ausdruck für Weisheit einfach so mit Wissen gleichsetzt. Zumindest in meinen Augen ist ein weiser Mensch nicht unbedingt jemand, der viel weiß – und umgekehrt sind Menschen, die viel wissen, nicht unbedingt weise. Aber schweifen wir nicht ab: Es geht Hegel jedenfalls darum, dass die Philosophie auf einen Stand gebracht wird, dass man bei ihr von „wirklichem Wissen“ sprechen kann. Aber was verstehen wir überhaupt unter Wissen?
Eine eigene Annäherung
Um dem Hegelschen Ausgangsverständnis von Wissen näher zu kommen, betrachten wir einen ganz einfachen und ganz abstrakt gehaltenen Satz, den man mit dem Verb wissen bilden kann: Jemand weiß etwas über etwas. In diesem Satz habe ich durch Kursivierung drei Elemente des Wissensbegriffs hervorgehoben, denen wir uns im Folgenden kurz widmen werden.
1. Die Subjektgebundenheit des Wissens
Erstens ist Wissen immer Wissen von jemandem. Bezeichnen wir diesen Jemand, der etwas weiß, als das Subjekt des Wissens, so können wir dieses erste Element die Subjektgebundenheit des Wissens nennen: Ohne Subjekt kein Wissen.
Für das Verständnis Hegels ist es wichtig festzuhalten, dass dieses Subjekt des Wissens nicht nur ein einzelnes menschliches Individuum sein kann. Vielmehr kann auch der sogenannte Geist eines Volkes, einer Nation, einer Kultur oder gar der Weltgeist als Subjekt des Wissens auftreten. Heutzutage erscheint eine solche Redeweise von Geist und Geistern etwas verstaubt. Damit wir dabei nicht an Gespenster oder sonstige Albernheiten denken, ist es vielleicht ratsam, sich das Gemeinte mithilfe noch heute gebräuchlicher Begriffe wie Zeitgeist zu vergegenwärtigen.
Aber gibt es solche Dinge, schlimmer noch: Solche Subjekte wie Volksgeister oder den Weltgeist überhaupt? Ich möchte diese Frage hier nicht entscheiden und gebe nur folgendes zu bedenken: Eine solche Redeweise bzw. ein solches Denken, wie es Hegel an den Tag legt, steht zum heutigen Zeitgeist, der in unserer westlichen Welt vom Geist des Individualismus beseelt ist,vollständig quer. Etwas überspitzt könnte man sogar sagen, dass der Zeitgeist es uns verbietet, Hegels Redeweise auch nur im Ansatz wörtlich zu verstehen. Insofern wir meinen letzten beiden Sätzen aber trotzdem einen guten Sinn abgewinnen können, ist die Zumutung des Hegelschen Denkens vielleicht nicht ganz so groß, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag.
2. Die Objektgebundenheit des Wissens
Zweitens ist Wissen immer Wissen über etwas. Natürlich gibt es im umgangssprachlichen Kontext auch andere Formen des Wissens, die man mit dem englischen Begriff Know-how überschreiben kann: Ich weiß beispielsweise wie man kocht, wie man einen Laptop bedient, und vielleicht sogar wie man philosophiert. (Über letzteres darf man allerdings auch anderer Ansicht sein.) Dieses Know-how lässt sich nicht einfach auf Können reduzieren, denn ich weiß selbst dann noch wie man kocht, wenn ich aufgrund zwei gebrochener Arme temporär nicht kochen kann.
Aber um solche Formen des Wissens – selbst um das Wissen, wie man philosophiert – ist es Hegel schlichtweg nicht zu tun: Ihm geht es nicht um praktisches Wissen im Sinne von Know-how, sondern um theoretisches Wissen, das immer Wissen über etwas ist. Wenn wir dieses etwas als das Objekt des Wissens bezeichnen, so können wir diesen zweiten Aspekt die Objektgebundenheit des Wissens nennen.
3. Die sprachliche Ausdrückbarkeit des Wissens
Drittens weiß man über etwas immer etwas. Welcher Art dieses letztere Etwas ist, das man weiß, erfährt man durch eine Antwort auf die Frage: Was weißt du denn? Eine Antwort auf diese Frage lässt sich immer in der Form eines Dass-Satzes geben: Ich weiß beispielsweise über Schnee, dass er weiß ist; ich weiß über die Sonne, dass sie heiß ist; und ich weiß über die Erde, dass sie (annähernd) rund ist. Was man weiß lässt sich also (zumindest prinzipiell) in Form von Dass-Sätzen ausdrücken; es ist mithin sprachlich ausdrückbar.
Rekonstruktion der drei Wissenselemente in Hegels Phänomenologie
Wir wollen nun sehen, ob wir diese drei Elemente des Wissensbegriffs bei Hegel wiederfinden können, und was sie mit seiner Terminologie von „an sich“ und „für anderes“ zu tun haben. In der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes „erinnert“ Hegel an die Unterscheidung zwischen Wissen und Wahrheit:
„Dieses [d. i. das Bewusstsein] unterscheidet nämlich etwas von sich, worauf es sich zugleich bezieht; oder wie dies ausgedrückt wird, es ist etwas für dasselbe; und die bestimmte Seite dieses Beziehens, oder des Seins von Etwas für ein Bewußtsein ist das Wissen. Von diesem Sein für ein anderes unterscheiden wir aber das an sich Sein; das auf das Wissen Bezogene wird eben so von ihm unterschieden, und gesetzt als seiend auch außer dieser Beziehung; die Seite dieses an sich heißt Wahrheit.“ (Phänomenologie des Geistes, S. 58)
Das ist alles nicht nur höchst abstrakt, sondern dazu noch grauenerregend formuliert. Versuchen wir das, was Hegel in diese wenigen Zeilen gepresst hat, in einer Art Geschichte zu entfalten. Der Akteur dieser Geschichte ist das Bewusstsein, das wir guten Gewissens mit unserem obigen Subjekt des Wissens identifizieren können. Wie kommt das Bewusstsein zum Wissen? Nun, als erstes unterscheidet es etwas von sich und bezieht sich darauf – dieses Etwas können wir wiederum getrost das Objekt nennen. Und diese Beziehung zwischen dem Objekt und dem Subjekt nennt Hegel auch das Sein des Objekts für das Subjekt – oder Für-anderes-Sein oder Sein-für-anderes, und so weiter.
Aber die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt alleine genügt noch nicht, um nach Hegel von Wissen sprechen zu können: Wissen besteht vielmehr in der bestimmten Seite des Seins-für-anderes. Das Subjekt muss also seine Beziehung zum Objekt bestimmen, um zu Wissen zu gelangen – und diese sprachlich verfassten Bestimmungen machen das aus, was wir Wissen nennen. Wir sehen also alle drei Elemente des Wissensbegriffs in Hegels Begriffsbestimmung wiederkehren: Subjektgebundenheit, Objektgebundenheit und sprachliche Ausdrückbarkeit.
Wir fassen die Geschichte noch einmal zusammen: Wir haben ein Subjekt, welches sich auf ein von ihm unterschiedenes Objekt bezieht, das damit für das Subjekt ist. Weiter haben wir die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt beziehungsweise das Sein des Objekts für das Subjekt sprachlich artikuliert und damit intersubjektiv nachvollziehbar gemacht: Indem wir verstehen, wie das Subjekt das Objekt bestimmt hat, erkennen wir, wie das Objekt für das Subjekt ist. Damit hätten wir den ersten Satz des Hegel-Zitats rekonstruiert.
Das epistemische Grundproblem: Wie gelangen wir zur Wahrheit?
Ich denke, es ist durchaus Absicht von Hegel, dass der nächste Satz nicht mit einer weiteren Unterscheidung des Bewusstseins beginnt, sondern mit einer Unterscheidung von uns. Denn stellen wir uns vor, wir würden diese sprachlich artikulierte Bestimmung der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt lesen und nachvollziehen: Wären wir der Ansicht, dass wir tatsächlich Wissen über das Objekt erlangt haben?
Wohl kaum! Wir wüssten lediglich, wie das Objekt für das Subjekt ist – anders ausgedrückt: Wir wüssten, wie das Objekt dem Subjekt erscheint. Wir aber wollen die Wahrheit wissen: Wir wollen wissen, wie das Objekt an sich ist, losgelöst von seiner Beziehung zum Subjekt! Wenn wir aber so reden, dann setzen wir, dass das Objekt außerhalb seiner Beziehung zum Subjekt überhaupt existiert, und erhalten dadurch sozusagen zwei Seinsweisen des Objekts: Einmal, wie es für das Subjekt ist und dann, wie es an sich, also unabhängig vom Subjekt, ist.
Aber wie gelangen wir denn zu Wissen darüber, wie das Objekt an sich beschaffen ist? Wenn wir selbst in Beziehung zu dem Objekt treten, so können wir zwar sprachlich bestimmen, wie das Objekt für uns beschaffen ist. Aber dann haben wir wiederum kein Wissen darüber, wie das Objekt in Wahrheit, also an sich beschaffen ist. Und es wird noch schlimmer: Woher wissen wir überhaupt, dass unser Objekt an sich identisch ist mit dem Objekt an sich, auf welches sich das Subjekt bezieht?
Es sieht nun so aus, als würden wir vor einem ernsten epistemischen Problem stehen, denn niemand scheint aus seiner eigenen kleinen Vorstellungswelt herauskommen zu können: Das Subjekt unterscheidet von sich ein Objekt und kann nur darüber sprechen, wie das Objekt für ihn erscheint, und analog können auch wir nur sagen, wie gewisse Objekte für uns erscheinen – aber schon die Frage, ob wir und das Subjekt überhauptüber dasselbe Objekt an sich sprechen, scheint nicht beantwortbar. Um mit Kant zu sprechen: Das Ding an sich ist unerkennbar.
Hegels dialektische Lösung des Problems
Hegels Weg aus dieser Misere beruht nun auf einer genialen Pointe. Es mag zwar sein, dass das Subjekt nur darüber sprechen kann, wie das Objekt für ihn ist. Aber indem das Subjekt sich Wissen zuschreibt, erhebt es für seine sprachlich verfasste Bestimmung des Objekts einen Wahrheitsanspruch: Das Subjekt behauptet mithin, dass sein Wissen, also seine sprachlich verfasste Bestimmung des Objekts, das Objekt so bestimmt, wie es an sich beschaffen ist.
Wir können daher sagen, dass die vom Subjekt sprachlich verfasste Bestimmung des Objekts eben nicht beschreiben soll, wie das Objekt für das Subjekt ist – es soll vielmehr beschreiben, wie das Objekt an sich ist. Das ist jedenfalls der Anspruch, den das Subjekt erhebt.
Daraus folgt nun nicht sofort, dass das Subjekt tatsächlich beschreibt, wie das Objekt an sich beschaffen ist. Aber es folgt zumindest, dass das Subjekt eine Beschreibung dessen liefert, wie das Objekt an sich für das Subjekt ist. Mit anderen Worten: Wenn das Subjekt behauptet, etwas über ein Objekt zu wissen, dann erhebt es einen Wahrheitsanspruch – und aus diesem erhobenen Wahrheitsanspruch können wir schlussfolgern, wie sich das Subjekt das Objekt an sich vorstellt.
Hegels Kernidee besteht nun darin, das behauptete Wissen des Subjekts an seinem eigenen Wahrheitsanspruch zu messen; wir prüfen also, ob das Objekt, wie es für das Subjekt an sich ist, tatsächlich so beschaffen ist, wie es das Subjekt sprachlich bestimmt hat. Wenn wir auf einen Widerspruch stoßen, kann der erhobene Wahrheitsanspruch vom Subjekt nicht eingelöst werden: Es muss sich einen neuen Begriff vom Objekt an sich machen, den wir wiederum derselben Prüfung unterziehen, und so weiter.
Dadurch, dass sich das Subjekt einen neuen Begriff vom Objekt macht, ändert sich für ihn aber auch das Objekt an sich sowie seine Beziehung zu ihm. Und da das Subjekt außerdem die Erfahrung macht (bzw. machen wird), dass das Objekt an sich bereits durch das Subjekt – beziehungsweise durch die Sprache, derer sich das Subjekt bedient, und die das Medium des inter- bzw. übersubjektiven Geistes ist – selbst gewissermaßen vorgeformt sein muss, gerät im Laufe der Untersuchung auch das Subjekt selbst – sowie die Vernunft beziehungsweise der Geist – in die Untersuchung und wird sich selbst als Objekt Thema.
Dabei werden sich aber auch die Begriffe des Wissens und der Wahrheit ändern, und die gesamte Sprache gerät in einen flüssigen, dynamischen, dialektischen Strudel, bis am Ende des Weges der absolute Geist sowohl als Subjekt als auch als Objekt auftritt, der das Wahre ist und sich selbst als das Wahre weiß – denn das Wahre ist bei Hegel nicht nur Objekt, sondern eben sowohl Subjekt, worauf er schon in der Vorrede hinweist:
„Es kömmt nach meiner Einsicht, welche sich durch die Darstellung des Systems selbst rechtfertigen muß, alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken.“ (Phänomenologie des Geistes, S. 18)
Ob diese Verwandlungen von Subjekt und Objekt, Wissen und Wahrheit, sich wirklich so notwendig ergeben, wie Hegel es behauptet, scheint mir beim bisherigen Lesen äußerst fragwürdig zu sein. Aber die gegenseitige Verwiesenheit von Subjekt, Objekt und Intersubjektivität (in Form von Sprache und, durch diese vermittelt, von Denken) in jedem Erkenntnisakt ist in derart durchreflektierter Form leider bei kaum einem anderen Philosophen zu finden. In seinem wunderbaren Hegel-Buch bringt Sebastian Ostritsch meine eigene gegenwärtige Stellung zu Hegel herrlich auf den Punkt:
„Seinen Hörern gibt Hegel das Gefühl, dass der mühevolle Gang durch das Tal des Zuerst-Nichtverstehens durch die rarsten geistigen Kostbarkeiten aufgewogen wird, die allein er, Hegel, zutage zu fördern imstande ist.“ (Sebastian Ostritsch, Hegel. Der Weltphilosoph, S. 201)
Schnädelbachs Kritik am Subjekt-Objekt-Modell
In seinem Buch Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann unterzieht der deutsche Philosoph Herbert Schnädelbach das Subjekt-Objekt-Modell der Erkenntnis einer fundamentalen Kritik, die im Klappentext in der Feststellung mündet, dass „in der modernen erkenntnistheoretischen Diskussion niemand ernstgenommen wird, der immer noch mit den Modellen „Subjekt – Objekt“ oder „Bewusstsein – Gegenstand“ operiert“. Da Schnädelbach einer der renommiertesten deutschen analytischen Philosophen ist, der zudem in der Frankfurter Schule und damit mit Hegel philosophisch sozialisiert wurde, erscheint es lohnenswert, sich mit seinen Einwänden auseinanderzusetzen.
1. Wer ist das Subjekt der Erkenntnis?
Schnädelbachs erste Kritik besteht in der Frage, wer denn das Subjekt sein soll, das im Subjekt-Objekt-Modell der Erkenntnistheorie auftritt:
„Nehmen wir an, im Erkennen beziehe sich das Subjekt auf ein Objekt oder das Bewusstsein auf einen Gegenstand, dann ist zunächst zu fragen, wer denn dieses Subjekt sei und um wessen Bewusstsein es sich dabei handle: Ist es jeder einzelne Mensch mit seinem je eigenen Bewusstsein oder ein kollektives Subjekt wie die Menschheit, eine bestimmte Kultur oder die Forschergemeinschaft, die den Stand der Erkenntnis repräsentiert?“ (Was Philosophen wissen, S. 104)
Dieser Einwand verkennt aber meines Erachtens das Modell als Modell. Wenn ich eine in der Realität auftretende Beziehung mathematisch mithilfe von Variablen wie x und y modelliere, dann ist es kein Einwand gegen mein Modell, dass x und y in meinem Modell unbestimmt bleiben. Im Gegenteil ist es eine Stärke meines Modells, dass ich beliebige Werte für x und y einsetzen kann. Analog sehe ich es gerade als Stärke des Subjekt-Objekt-Modells, dass prinzipiell verschiedene Entitäten als Subjekt fungieren können. Dieser Einwand läuft daher meines Erachtens ins Leere.
2. Was ist das Objekt der Erkenntnis?
Schnädelbachs zweiter Einwand besteht darin, dass wir oftmals das Objektder Erkenntnis gar nicht angeben können, und dies sei ein Indiz dafür, dass wir uns nicht für Gegenstände interessieren, sondern für Sachverhalte, die diese Gegenstände betreffen:
„Nehmen wir an, die Gravitationstheorie gehöre zu unseren Erkenntnissen. Was ist dabei der Gegenstand der Erkenntnis – die Gravitation? Tatsächlich interessieren wir uns nicht einfach für Gegenstände, sondern wir wollen etwas über sie herausbringen, also Sachverhalte, die sie betreffen, die wir dann, wenn sie sich so verhalten, wie wir vermuten, ‚Tatsachen‘ nennen. Dass gleichwohl in der traditionellen Erkenntnistheorie so hartnäckig von Objekten oder Gegenständen die Rede ist, verkennt die Tatsache, dass unser Wissen immer propositional verfasst ist, also in der Form ganzer Sätze repräsentiert werden muss, wenn es mehr sein soll als eine Menge unklarer Intuitionen.“ (Was Philosophen wissen, S. 105)
Hierzu fällt mir als erstes die Gegenfrage ein, ob Schnädelbach etwa behaupten würde, dass die Gravitationstheorie als Erkenntnis gar keinen Gegenstand habe. Ich möchte einmal unterstellen, dass dem nicht so ist. Was ist dann aber der Gegenstand der Gravitationstheorie?
Nun, mir scheint offensichtlich, dass es die massigen Körper sind, die den Hauptgegenstand der Gravitationstheorie darstellen. Wenn wir die klassische Gravitationstheorie heranziehen, so besteht ihre Auskunft darin, welche Gravitationskraftmassige Körper auf andere massige Körper ausüben. Wenn wir die allgemeine Relativitätstheorie heranziehen, dann besteht die Auskunft darin, inwiefern die Raumzeit durch massige Körper gekrümmt wird. In jedem Fall geht es aber um massige Körper und ihre Wirkung auf das restliche Universum.
Möglicherweise würde Schnädelbach durch meine Auskunft nur seinen eigenen Punkt bestätigt sehen, dass Erkenntnisse stets in Tatsachenwissen bestehen; dass wir also in der Gravitationstheorie gar nicht massige Körper als Gegenstände erkennen, sondern Wissen über massive Körper erhalten. In diesem Fall würde zwischen uns kein Blatt passen – die Frage ist nur, ob seine Kritik noch Hegel (beziehungsweise meine Rekonstruktion Hegels) treffen würde:
Denn wenn wir den Begriff Objekt für ein Etwas verwenden, über das wir propositional verfasstes Wissen erlangen, dann haben wir streng genommen sowieso gar kein Subjekt-Objekt-Modell, sondern ein Subjekt-Objekt-Sprache-Modell – und dort haben auch die von Schnädelbach eingeforderten propositional repräsentierten Sachverhalte beziehungsweise Tatsachen ihren gebührenden Platz.
3. Wir können nicht wissen, ob Wissen wirklich eine Beziehung zwischen Subjekt und Objekt ist.
Ein weiterer Einwand Schnädelbachs zielt auf die Haltlosigkeit der Grundannahme des Subjekt-Objekt-Modells, dass Erkenntnis eine Beziehung zwischen Subjekt und Objekt ist:
„Die Frage ist dann freilich, woher wir wissen, dass es sich bei Erkenntnissen um eine solche Beziehung handelt. Um das feststellen zu können, müssten wir es beobachten können, aber wenn wir es zu beobachten versuchen, geht es uns wieder wie beim Paralogismus: Sollte die Tatsache, dass wir uns in der Erkenntnis mit unserem Bewusstsein auf einen Gegenstand beziehen, eine Erkenntnis sein, wäre diese Beziehung dann selbst der Gegenstand in einer Erkenntnisbeziehung höherer Ordnung, die uns als erkennende Subjekte schon voraussetzte. Das gälte dann auch für diesen ganzen komplexen Sachverhalt selbst, und das Ganze wiederholte sich wieder und wieder, wenn wir weiterhin versuchten, unser eigenes erkennendes Bewusstsein auf die Gegenstandsseite zu bekommen.
Da es sich somit bei der Subjekt-Objekt-Beziehung nicht um etwas direkt Feststellbares handeln kann, ist deren Herkunft auch nicht in der Selbstbeobachtung zu suchen; tatsächlich ist dieses Modell das Resultat einer Deutung im Zuge des reflektierenden Nachdenkens über die Möglichkeit von Erkenntnis, aber unter begrifflichen Voraussetzungen, die hier in die Irre führen und zu phänomenologisch ganz unplausiblen Ergebnissen führen.“ (Was Philosophen wissen, S. 103)
Zuzugeben ist, dass die im Subjekt-Objekt-Modell postulierte Beziehung zwischen Subjekt und Objekt nicht in einer Weise direkt feststellbar ist, wie es beispielsweise meine Zahnschmerzen oder der Laptop auf meinen Knien sind. Und doch ist es offenkundig, dass Wissen durch eine solche Beziehung repräsentiert werden kann und muss: Schließlich weiß immer jemand etwas über etwas – Subjekt, Objekt und sprachliche Repräsentation eines das Objekt betreffenden Sachverhalts hängen stets zusammen.
Dass Wissen also eine Beziehung zwischen Subjekt, Objekt und sprachlicher Repräsentation eines das Objekt betreffenden Sachverhalts ist, ergibt sich schlicht aus unserer Sprache: Wenn es wahr ist, dass immer jemand etwas über etwas weiß, dann muss Wissen in einer dreistelligen Relation aus Subjekt, Objekt und sprachlicher Repräsentation eines das Objekt betreffenden Sachverhalts bestehen. Die Frage kann dann nur noch sein, wie man diese dreistellige Relation theoretisch begreift. Aber dass Subjekt und Objekt auftauchen, scheint mir auf der elementarsten sprachlichen Ebene derart unhintergehbar zu sein, dass ich diesbezüglich in der Tat von Wissen sprechen würde.
4. Das Subjekt-Objekt-Modell ist phänomenologisch unplausibel
Ein weiterer Einwand Schnädelbachs besteht darin, dass das Subjekt-Objekt-Modell auf der Subjektseite von einem leeren Subjekt ausgeht, das sich erst sein Objekt suchen muss – was aber phänomenologisch völlig unplausibel ist, weil Bewusstsein immer Bewusstsein-von-etwas ist:
„Dass das Modell ‚Subjekt-Objekt‘ oder ‚Bewusstsein-Gegenstand‘ auch phänomenologisch ganz unplausibel ist, ihm also gar keine Wirklichkeit entspricht, ist in der an Descartes und Kant orientierten Bewusstseinsphilosophie selbst erkannt worden. Zu nennen ist hier vor allem Franz Brentano (1838-1917), der herausgestellt hat, dass Bewusstsein intentional, also immer Bewusstsein von etwas ist; ein leeres Bewusstsein, das sich nachträglich auf einen Gegenstand oder Sachverhalt bezieht, um dann etwas im Bewusstsein zu haben, ist demzufolge eine schlechte Abstraktion.“ (Was Philosophen wissen, S. 106)
Diese Kritik mag auf einige Subjekt-Objekt-Modellierer zutreffen – aber trifft sie auch unseren alten Freund Hegel? Betrachten wir noch einmal genau den ersten Halbsatz seiner Wissensdefinition, so werden wir eine interessante Doppeldeutigkeit erkennen, die Brentanos Einsicht bereits vorwegzunehmen scheint:
„Dieses [d. i. das Bewusstsein] unterscheidet nämlich etwas von sich, worauf es sich zugleich bezieht […]“
Dieses von mir fettgedruckte „von sich“ lässt sich doppeldeutig auffassen: Einerseits ist das Etwas, was das Bewusstsein von sich unterscheidet, wirklich von sich selbst im Sinne von aus sich selbst genommen; andererseits unterscheidet es diesen Ausschnittaus sich selbst von sichselbst. Wenn wir diese Doppeldeutigkeit in Hegels Formulierung ernst nehmen, ist auch bei Hegel Bewusstsein immer Bewusstsein-von-Etwas – und ein Etwas, das aus diesem zunächst unbestimmten Etwas vom Bewusstsein in bestimmter Weise herausgehoben wird, ist das Objekt in seinem Subjekt-Objekt-Modell. Insofern ist Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes nicht vorzuwerfen, mit phänomenologisch ganz unplausiblen und schlecht abstrahierten Prämissen zu starten.
Schnädelbachs Alternative zum Subjekt-Objekt-Modell
Fassen wir die bisherige Diskussion zusammen, so mag Schnädelbach mit seiner Kritik möglicherweise eine gewisse philosophische Strömung getroffen haben, die die Erkenntnis als zweistellige Relation zwischen Subjekt und Objekt aufgefasst hat. Nach meiner Lesart sind Hegel aber diesbezüglich keine Vorwürfe zu machen, da er das Phänomen der Sprache eben nicht ausgeblendet, sondern in seinen phänomenologischen Ansatz integriert hat.
Werfen wir trotzdem einen Blick auf Schnädelbachs Alternative zum Subjekt-Objekt-Modell:
„Der Ort wirklicher Erkenntnis ist also nicht die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, sondern das Verhältnis von Satz und Tatsache. Die neuere sprachanalytische Philosophie hat uns darüber belehrt, dass Einzelsätze immer nur vor dem Hintergrund eines Sprachganzen Sinn machen, seien es Syntax und Semantik einer natürlichen bzw. künstlichen Sprache oder die jeweilige regelgeleitete Sprachverwendung (Pragmatik), die Ludwig Wittgenstein als ‚Sprachspiel‘ bezeichnete. Es liegt auf der Hand, dass nur Deklarativsätze, die im Medium des Behauptens mit Wahrheitsanspruch und nicht etwa auf einer Theaterbühne geäußert werden, Kandidaten für Erkenntnisurteile sind.“ (Was Philosophen wissen, S. 108)
Es scheint zunächst so zu sein, als bestünde Schnädelbachs Alternative zum „Subjekt-Objekt-Modell“ in einem „Satz-Tatsache“-Modell, doch damit wäre Schnädelbach sicher falsch verstanden: Zum einen müssen Erkenntnisurteile „im Medium des Behauptens mit Wahrheitsanspruch“ geäußert werden, und das können ganz offensichtlich nur Subjekte tun. Zum anderen weist er darauf hin, dass wir im „Satz-Tatsache“-Modell stets ein Sprachganzes unterlegen müssen, und ein solches Sprachganzes ist immer ein intersubjektiv geteilter Rahmen.
Auch bei Schnädelbachs Ansatz finden wir also Subjekte, Objekte, sowie sprachliche Repräsentationen von das Objekt betreffenden Sachverhalten. Natürlich kann man die Redeweise von Subjekten und Objekten auch vermeiden, so wie Schnädelbach es offensichtlich tut. Inwieweit das erkenntnisfördernd ist, darf der geneigte Leser selbst beurteilen – und ebenso die Frage, ob Schnädelbach mit der Annahme eines „Sprachganzen“, im Rahmen dessen die Einzelsätze nur Sinn ergeben können, dem Hegelschen Geist nicht durch die Hintertür wieder Einlass in die Erkenntnistheorie verschafft: Denn ist das Sprachganze nicht gewissermaßen eine Manifestation des Geistes einer Sprachgemeinschaft?
Schluss
Tja. Wie also weiter mit Hegel? Mir scheint, der Geist der analytischen Philosophie betrachtet ihn als „ein Bekanntes, ein solches, mit dem der Geist fertig geworden, worin daher seine Tätigkeit und somit sein Interesse nicht mehr ist.“ (PdG, S. 26) Man glaubt, allerlei über ihn und seine Philosophie zu wissen – vor allem, dass sie alles in allem gequirlter Unsinn ist, über den man heute glücklicherweise längst hinweg ist. Nach Hegel ist wirkliches Wissen jedoch „gegen dies Bekanntsein gerichtet, ist das Tun des allgemeinen Selbsts und das Interesse des Denkens“ (ebd.). Insofern könnte sich eine Beschäftigung mit ihm auch heute noch lohnen, denn: „Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt.“ (ebd.)