Dieser Blogpost ist der zweite in meiner Serie über den Geist des Kapitalismus. Im ersten Teil der Serie habe ich mit Bezug auf Max Weber dargelegt, was der Geist des Kapitalismus ist und wie aus protestantischen Wurzeln eine Arbeitsmoral entstanden ist, die für die Entstehung des Kapitalismus förderlich war. In diesem Teil soll es darum gehen, wie und inwiefern sich die Arbeitsmoral in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts gewandelt hat. Genauer soll es darum gehen, die Ursprünge neuer Arbeitsanforderungen an das Individuum im Kapitalismus nachzuzeichnen. Lose Grundlage für diesen Blogpost ist das Buch „Der neue Geist des Kapitalismus“ von Luc Boltanski und Ève Chiapello aus dem Jahr 1999.
Der alte Geist des Kapitalismus
Wir erinnern uns: Der erste Geist des Kapitalismus beinhaltete unter anderem, dass jeder Mensch (von Gott) zu einer Aufgabe berufen wurde, deren Vollzug der gesellschaftlichen Ordnung zuträglich und damit gottgewollt ist. Der Mensch hatte sich innerhalb dieser Logik also in den Beruf zu fügen, den ihm das Schicksal auferlegt hat, und in diesem Beruf fleißig seine Arbeit zu verrichten, um die Ehre Gottes zu erhöhen und sich seines Status als Auserwählter Gottes zu vergewissern.
Nun kam es im Laufe der Zeit zwar im Zuge der Säkularisierung zu einer Delegitimierung religiöser Begründungsstrukturen, aber im Kern ist das Argument erhalten geblieben: Der Mensch hat zu arbeiten, weil es der Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung und damit dem Allgemeinwohl dient. Es ist interessant, dass dieses Argument wiederum so allgemein gehalten ist, dass es für jede Art von Beruf Gültigkeit beansprucht – implizit wird also unterstellt, dass jede Berufsausübung dem Allgemeinwohl dient. Es scheint mir offensichtlich, dass das nicht der Fall ist, aber ich möchte darauf hier nicht näher eingehen.
Warum hält sich die Arbeitsmoral in areligiösen Zeiten?
Es stellt sich nämlich prima facie die Frage, warum der Mensch innerhalb einer gottlosen Logik mit Leib und Seele für seinen Beruf einsetzen sollte. Innerhalb der protestantischen Denkweise gibt es in Form der Angst vor ewiger Verdammnis handfeste psychologische Triebfedern, die zu rastloser Betriebsamkeit anregen. Aber wodurch wurden diese Triebfedern in einer säkularisierten Zeit ersetzt?
Der Betrieb als familiäre Struktur zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts herrschte in den Unternehmen noch eine am Familienleben orientierte Bewährungsstruktur des Arbeitslebens vor. Das liegt nicht nur daran, dass viele Unternehmen von Familien besessen und betrieben wurden: Auch innerhalb der Unternehmen kam es beispielsweise zur automatischen Beförderung oder Lohnerhöhung von langgedienten Mitarbeitern, was mit ihrer Treue und Loyalität für das Unternehmen begründet wurde.
Der Siegeszug des Leistungsprinzips in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Dies änderte sich etwa in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als die familiären Strukturen der Unternehmen in der Managementliteratur zunehmend als veraltet charakterisiert und mit den Feudalstrukturen im Mittelalter verglichen wurden. Demgegenüber wurde das Leistungsprinzip hervorgehoben: Es sei doch ungerecht, wenn vergleichsweise unproduktive Mitarbeiter bloß aufgrund ihrer Treue befördert werden, wohingegen fleißige junge Arbeitskräfte auf ihren kleinen Posten versauern.
In dieser moralisch durchaus begründeten Kritik steckt bereits der Keim für die geforderte rastlose Betriebsamkeit: Denn wenn wir das Leistungsprinzip mit dem allgegenwärtigen Wettbewerbsdruck und einer arbeitslosen Reservearmee koppeln, ergibt sich der moralische Befund: Wenn du nicht hart genug arbeitest, dann hast du deinen Beruf gar nicht verdient – also ist es nur fair, wenn ein anderer deinen Platz einnimmt, der härter arbeitet als du. Damit ist der erste Geist des Kapitalismus erfolgreich säkularisiert.
Der neue Geist des Kapitalismus
Der zentrale Befund von Boltanskis und Ciapellos Arbeit ist allerdings nicht die Säkularisierung des ersten Geist des Kapitalismus, sondern eine durch Kritik am Kapitalismus gespeiste Veränderung des kapitalistischen Geistes, die zu neuen Anforderungen an die Arbeitnehmer geführt hat.
Die antihierarchische Künstlerkritik und die Verschlankung der Unternehmen
Die von Boltanski und Chiapello so genannte Künstlerkritik wendete sich Ende der 60er Jahre gegen hierarchische Strukturen aller Art, die die Freiheit, Autonomie und Kreativität der Arbeitnehmer untergraben würde. Man kann aus heutiger Sicht sagen, dass diese Kritik durchschlagenden Erfolg hatte: Zahlreiche Umstrukturierungen in vielen Unternehmen dienten vor allem dazu, das mittlere Management zu entlassen und so Hierarchieebenen abzubauen. Die Kontrolle über die Arbeitnehmer wurde nun nicht mehr vom mittleren Management geleistet, sondern entweder durch die Arbeitnehmer selbst (Selbstkontrolle), durch andere Mitarbeiter auf der gleichen Hierarchieebene (Teamwork), oder durch den Kunden („Der Kunde ist König.“).
Des Weiteren wurden Unternehmen verschlankt, was bedeutet, dass ehemals in den Unternehmen inkorporierte Abteilungen externalisiert wurden – mit anderen Worten bildeten sich Subunternehmen oder beispielsweise eigenständige Zuliefererbetriebe, deren Kunde das nunmehr verschlanke Unternehmen wurde.
Die Rückkehr der Hierarchien durch die Hintertür
Diese Subunternehmen oder selbständigen Zuliefererbetriebe waren nun natürlich freier und autonomer als zuvor, da sie auf eigene Tasche arbeiten mussten und keiner direkten Hierarchieebene mehr unterstellt waren. Ironischerweise sind es aber nun gerade die schlanken Unternehmen selbst, die zum Kunden der Subunternehmen werden – und da der Kunde König ist, bleibt es indirekt bei der Herrschaft des schlanken Unternehmens, auch wenn es keine formale Hierarchie mehr zwischen den Unternehmen geben sollte.
Man kann also sagen, dass vordergründig eine größere Freiheit und Autonomie der Subunternehmer herrscht – aber diese Freiheit betrifft vor allem die Form der Unternehmensstruktur. Tatsächlich herrscht durch den intensiven Konkurrenzdruck der Subunternehmer untereinander – und zwar nicht nur national, sondern global – faktisch ein Handlungsimperativ zugunsten der schnellsten und kostengünstigsten Handlungsalternative vor, da es genau diese ist, die der Unternehmenskunde wünscht.
Das Ende der familiären Unternehmensstruktur und der Siegeszug der unternehmerischen Amoral
Insgesamt hat es also eine äußerst interessante Volte gegeben: Gab es für den Familienunternehmer zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts noch so etwas wie ein Verantwortungsgefühl für seine Mitarbeiter, so hat sich der schlanke Unternehmer von heute die ökonomische Amoral des Kunden zu eigen gemacht: Von einem Kunden wird gar keine Loyalität oder sonstiges moralisches Handeln erwartet, sondern bloßes ökonomisches Kalkül – und entsprechend kann sich das schlanke Unternehmen von heute ganz einfach darauf zurückziehen, dass es ja nur noch ein Kunde seiner Subunternehmer ist, sodass an ihn gar keine moralischen Maßstäbe anzulegen sind.
Diese Amoralität des Kunden, die jeder einzelne Konsument im Kapitalismus vollständig akzeptiert, da er sie doch auch für sich selbst reklamiert, führt im Verbund mit dem kategorischen Imperativ der heutigen Ökonomie („Der Kunde ist König!“) dazu, dass sich der ökonomische Raum heute gewissermaßen in einem Naturzustand befindet. Die globale Konkurrenz aller gegen alle um die Gunst der amoralischen Kunden sorgt für einen immensen Selektionsdruck, sodass für alle Beteiligten die Regeln des Darwinismus gelten: Passe dich an oder gehe unter.
Vom lebenslangen Beruf zur Kette von Jobs
Das führt letztlich dazu, dass der Begriff des Berufs heutzutage eigentlich schon nicht mehr zeitgemäß ist: Denn so chaotisch wie die spontanen, impulsiven Wünsche eines Kunden ist die darauf basierende gesellschaftliche Ordnung – vor diesem Hintergrund klingt es beinahe anachronistisch, von einem Beruf oder gar einer Berufung zu sprechen. Statt eines Berufs hat man heute einen oder mehrere Jobs: Zeitlich befristete oder jedenfalls endliche Gelegenheitsarbeiten, mit denen man sich so lange es eben geht über Wasser hält.
Die heutige Arbeitsmoral als sozialdarwinistischer Imperativ zur Anpassungsfähigkeit
Dazu passt auch, dass die heutige Arbeitsmoral eben nicht mehr darauf abzielt, einen einmal erlernten Beruf so fleißig wie möglich auszuüben. Die heutige Arbeitsmoral steht ganz im Zeichen der Anpassungsfähigkeit, und das bedeutet: Sei flexibel – passe dich den ökonomischen Realitäten an, orientiere dich gegebenenfalls um, lerne dein Leben lang. Sei mobil – bleibe nicht an einem Ort kleben, sondern suche dir die Arbeit dort, wo sie angeboten wird. Sei kreativ – starte dein eigenes Unternehmen, oder besser noch: Sei dein eigener Unternehmer! Im dritten und letzten Teil der Serie möchte ich diesen Punkt weiter vertiefen, indem ich mir auf der Grundlage von Ulrich Bröcklings Buch „Das unternehmerische Selbst“ ansehe, welche Anforderungen an die moderne Ich-AG von heute gestellt werden.