Dieser Blogpost beschließt meine Serie über den Geist des Kapitalismus. Im ersten Teil der Serie habe ich ausgeführt, dass die Arbeitsmoral zu Beginn des Kapitalismus im Wesentlichen darin bestand, dass man seinen (von Gott vorherbestimmten) Beruf fleißig auszuüben hat. Im zweiten Teil habe ich erläutert, dass sich die Arbeitsmoral dahingehend gewandelt hat, dass es nunmehr nicht darum geht, einen festen Beruf auszuüben, sondern sich vielmehr anpassungsfähig an den Arbeitsmarkt zu halten. In diesem dritten und letzten Teil möchte ich – lose basierend auf dem Buch „Das unternehmerische Selbst“ von Ulrich Bröckling – genauer ausführen, welche moralisch verstandenen Anforderungen an das Individuum gegenwärtig gestellt werden.
Der Abbau des Wohlfahrtsstaates am Ende des 20. Jahrhunderts
In den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts wurden unter Margaret Thatcher in England sowie Ronald Reagon in den USA die wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssysteme abgebaut und durch einen Verweis auf die individuelle Selbstverantwortung für das eigene Leben ersetzt. Mit einiger Verzögerung wurden diese Maßnahmen als Agenda 2010 unter rot-grüner Federführung auch in Deutschland umgesetzt. Unter dem Motto „Fordern und Fördern“ sollten Arbeitslose nicht mehr bloß alimentiert, sondern zu einem selbstbestimmten Leben aktiviert werden – was natürlich nicht ohne Paradoxie zu haben ist, da eine bei Fehlverhalten sanktionsbewehrte Aktivierung zunächst einmal eine Form der Fremdbestimmung darstellt.
Vom Beruf zum Job zum Projekt
Sei es, wie es sei: Das Schlüsselwort der Arbeitsmoral der Gegenwart lautet Aktivität, und die Form, die diese Aktivität anzunehmen hat, ist im Allgemeinen ein Projekt. Ein Projekt wiederum ergibt sich aus einer Zielvorstellung in Verbindung mit einem Plan, wie dieses Ziel zu erreichen ist. Mit Erreichen des Ziels erlischt das Projekt. Ob man ein neues Projekt ins Leben ruft oder sich einem Projekt anderer Menschen anschließt, ist moralisch gesehen irrelevant – die Hauptsache ist, dass man in einem (oder besser noch: mehreren) Projekt(en) aktiv ist.
Die Arbeitsmoral greift über auf die Freizeit
Was ist nun neu an dieser Arbeitsmoral, die sich nicht mehr am Begriff des Berufs, sondern am Begriff des Projekts orientiert? Wie wir im ersten Teil gesehen haben, bestand der erste Geist des Kapitalismus darin, in seinem Beruf eine rastlose Betriebsamkeit an den Tag zu legen. Die rastlose Betriebsamkeit konnte nun natürlich gesteigert werden, so dass man immer mehr Zeit für seinen Beruf aufwendet und immer weniger Freizeit zur Verfügung hat – und im Prinzip war der protestantischen Arbeitsmoral dieser Hang zum Aufgehen im Beruf auch eingeschrieben. Dennoch bilden Arbeit und Freizeit zwei voneinander getrennte Sphären: Die Arbeitsmoral griff nicht über auf den Rest des Lebens.
Der erste neue Aspekt der projektförmigen Aktivität ist nun, dass die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit durch den Projektbegriff aufgehoben wird: Ob ein Projekt während der Arbeit oder während der Freizeit verfolgt wird, spielt für den Projektbegriff überhaupt keine Rolle. Das bedeutet aber, dass der arbeitsmoralische Imperativ „Sei aktiv!“ automatisch auf die gesamte Lebenszeit übergreift. Das gilt auch für die Oasen der Ruhe und Entspannung – können diese doch nur noch dadurch gerechtfertigt werden, dass man anschließend wieder erfrischt ans Werk gehen kann. Pointiert gefragt: Döst du noch, oder meditierst du schon?
Die Gestaltung des Selbst als unabschließbares Projekt
Der zweite neue Aspekt der projektförmigen Aktivität besteht darin, dass die marktförmige Gestaltung des eigenen Selbst zum (prinzipiell unabschließbaren) Projekt werden kann. Diese Idee wurde durch den Begriff der Ich-AG treffend auf den Punkt gebracht – ein Jammer, dass dieser Begriff zum Unwort des Jahres 2002 gewählt und damit aus dem Diskurs verbannt wurde. Denn er bringt die Arbeitsmoral der Gegenwart gut auf den Punkt: Es geht bei der Lebensgestaltung vornehmlich darum, seinen eigenen Marktwert zu steigern – und das bedeutet, dass man sich selbst als ein Produkt zu verstehen hat, welches man auf dem Arbeitsmarkt an den Kunden zu bringen hat.
Hierbei ist erneut wichtig zu verstehen, dass wir uns durch die Ökonomisierung der Denkmuster in einen amoralischen Bereich bewegen. Da wir selbst als Kunden keinen moralischen Regeln gehorchen, können wir als Anbieter unserer Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt auch nicht verlangen, dass sich unsere Kunden an moralische Regeln zu halten haben. Vielmehr wird vom Anbieter seiner Arbeitskraft eine Anpassung an die Kundenwünsche verlangt: Wenn du die Kundenwünsche nicht erfüllst, dann erfüllt sie ein anderer – der Kunde ist König, sein Wille ist Gesetz!
Paradoxien der Selbstgestaltung als Sog zur unaufhörlichen Selbstverbesserung
Nun liegt es aber auch im Wesen des Kunden, dass er mitunter die eierlegende Wollmilchsau haben will, oder anders formuliert: Die Anforderungen des Kunden an ein Produkt können durchaus widersprüchlich sein. So forderten Arbeitgeber beispielsweise Bildungsreformen wie Verkürzung der Schulzeit oder die Einführung des Bachelor, damit mehr junge Menschen auf den Arbeitsmarkt kommen – nur um anschließend verblüfft festzustellen, dass diese jungen Menschen in ihrem Alter ja gar nicht die nötige Lebens- und Berufserfahrung mitbringen.
Ein anderes Beispiel für die paradoxen Anforderungen an den heutigen Arbeitnehmer zeigt sich in der geforderten Flexibilität und Widerstandskraft: Einerseits sollen Arbeitnehmer mobil und flexibel einsetzbar sein, andererseits sollen sie aber auch körperlich und psychisch belastbar sein. Dass die geforderte Mobilität und Flexibilität allerdings zwangsläufig zulasten der sozialen Bindungen geht, und damit mittelbar der körperlichen und psychischen Belastbarkeit abträglich ist, ist ein Widerspruch, mit dem letztlich der Arbeitnehmer fertig werden muss, wenn er sich auf dem Arbeitsmarkt behaupten will.
Es lassen sich problemlos weitere Beispiele für paradox anmutende Anforderungsprofile finden. Sehr gefragt ist etwa der kritikfähige Teamplayer, der ein unbeirrbares Selbstvertrauen und Durchsetzungsvermögen mitbringt. Oder der selbstdisziplinierte Spezialist für kreative Problemlösungen. Oder der autonome Individualist, der sich enthusiastisch für die aus der Führungsetage diktierten Firmenziele begeistern lässt.
Diese Paradoxien ergeben sich zum einen schlicht aus der Volte, dass das anstellende Unternehmen zum Kunden seiner Arbeitskräfte geworden ist und der Kunde sich nun einmal wünschen darf, was er will. Zum anderen haben diese Paradoxien aber auch System: Denn paradoxe Anforderungen können niemals erfüllt werden, sodass durch sie im Verbund mit der knallharten Wettbewerbssituation ein stetiger Sog zur Selbstverbesserung und harter Arbeit erzeugt wird.
Last Exit: Burnout
Dieser Sog zu rastloser Aktivität endet bekanntlich immer häufiger in Burnout und Depression – also gerade in einem krankhaften Zustand völliger Passivität. Dies wiederum führt zu der nicht minder paradoxen Aufforderung, sich von den systemisch bedingten Überforderungen des heutigen Arbeitslebens bloß nicht überfordern zu lassen. Daher der Appell: Immer mal wieder raus aus dem Hamsterrad! Doch um es mit Ulrich Bröckling zu sagen: Wer vom Hamsterrad spricht, darf vom Käfig nicht schweigen. Und dass wir alle im selben Käfig sitzen, macht die Stäbe um uns herum nicht weniger real.