Hannah Arendt und die Demontage der Philosophie
In ihrem letzten, unvollendet gebliebenen Werk Vom Leben des Geistes widmet sich Hannah Arendt drei zentralen geistigen Tätigkeiten: Dem Denken, dem Wollen und dem Urteilen. Arendt wollte nie als Philosophin bezeichnet werden, wie man beispielsweise an ihrer Reaktion auf die Einstiegsfrage dieses äußerst sehenswerten Interviews ermessen kann. Mit ihrem eigentlichen Metier, der politischen Theorie, hat das Leben des Geistes allerdings erst einmal herzlich wenig zu tun. Und so fragt man sich, wie Hannah Arendt dazu kommt, sich am Ende ihres Lebens ausführlich mit dem Denken zu beschäftigen, obwohl sie sich selbst nicht als Philosophin verstanden wissen will. Eine Erklärung dieser vermeintlichen Paradoxie findet sich am Ende des Abschnitts über das Denken, wo es heißt:
„[… I]ch bin eindeutig denen beigetreten, die jetzt schon einige Zeit versuchen, die Metaphysik und die Philosophie mit all ihren Kategorien, wie wir sie seit ihren Anfängen in Griechenland bis auf den heutigen Tag kennen, zu demontieren. Eine solche Demontage ist nur möglich, wenn man davon ausgeht, daß der Faden der Tradition gerissen sei und wir ihn nicht erneuern können. [… D]ie Demontage selbst ist nicht destruktiv; sie zieht nur Konsequenzen aus einem Verlust, der eine Tatsache ist und als solche nicht mehr Bestandteil der ‚Ideengeschichte‘, sondern unserer politischen Geschichte, der Geschichte unserer Welt.“
Vom Leben des Geistes, S. 207.
Ist der Traditionsfaden der Philosophie gerissen?
Nun ist die Demontage der überkommenen Philosophie und Metaphysik selbst ein Topos, der nicht erst mit modernen Philosophen wie Nietzsche, Heidegger oder Derrida die philosophische Bühne betreten hat, sondern dessen Ursprünge bereits in der vorchristlichen Antike zu finden sind – man denke nur an die Kyniker oder die pyrrhonischen Skeptiker.
Und eigentlich ist es auch kein Wunder, dass es immer wieder Philosophen gegeben hat, die die Philosophie auf philosophischem Wege prinzipiell in Frage gestellt haben, wenn man bedenkt, dass der Urknall der (westlichen) Philosophie in ebenjenem Sokrates zu finden ist, der angetreten war, sämtliche Weltweisheit zu demontieren, um seine eigene Weisheit unter Beweis zu stellen.
Das Besondere an Arendts Diagnose und Vorgehen ist, dass sie die Philosophie gewissermaßen gar nicht von innen heraus kritisieren will: Ihre Demontage beruht ihr zufolge ja nicht auf einer ideengeschichtlichen Tatsache, sondern auf einer politischen Tatsache, nämlich einem irreversiblen Riss des Traditionsfadens.
Aber warum ist es eine politische Tatsache, dass der Traditionsfaden irreversibel gerissen ist? Warum können heutige politische Akteure nach Arendt nicht mehr an die philosophische Tradition anknüpfen? Es mangelt doch offenbar nicht an den überlieferten Schriften der Philosophietradition; und auch die Tradition des Philosophierens, verstanden als Tätigkeit, scheint doch zumindest an den Universitäten oder auf obskuren Splitterblogs weiterhin gepflegt zu werden. Was ist Arendt zufolge also genau gerissen? Im darauffolgenden Absatz wird Arendt etwas konkreter:
„Verlorengegangen ist die Kontinuität der Vergangenheit, wie sie von einer Generation auf die andere überzugehen und dabei eine Eigenständigkeit zu entwickeln schien. […] Man hat dann immer noch die Vergangenheit, aber eine zerstückelte Vergangenheit, die ihre Bewertungsgewißheit verloren hat.“
Vom Leben des Geistes, S. 208.
Adorno und die Zerrüttung der gegenwärtigen Zeiterfahrung
Das ist – wiederum politisch gesprochen – doch auf den ersten Blick einigermaßen krude: Denken wir wieder daran, dass die Philosophietradition ihrem Gehalt nach, das heißt in Form ihrer herausragenden Werke, von Generation zu Generation bis heute weitergegeben wird, und dass das Philosophieren als Tätigkeit bis heute an Hochschulen gelehrt und vermittelt wird, so ist nicht unmittelbar ersichtlich, inwiefern Hannah Arendt meinen konnte, dass der Traditionsfaden der Philosophie in einem politischen Sinne irreversibel gerissen sei.
Wir können allerdings versuchen, dem Arendtschen Gedanken auf die Schliche zu kommen, indem wir den Blick weiten und einen anderen Philosophen zurate zu ziehen, nämlich Theodor Adorno. Adorno und Arendt haben sich gegenseitig offenbar so gar nicht geschätzt: Während Arendt die Frankfurter Schule als eine „abscheuliche Gesellschaft“ bezeichnete, nannte Adorno Arendt ein „altes Waschweib“. Umso bemerkenswerter ist es da, wenn beide zu einer ähnlichen Zeitdiagnose (im doppelten Wortsinn) kommen. Man vergleiche Arendts obiges Zitat zur zerstückelten Vergangenheit mit Adornos folgender Einlassung über die Zeiterfahrung seiner Generation, wie er sie in seiner Vorlesung zur Metaphysik auseinandersetzt:
„Es kann schwer ein Zweifel daran sein, daß das Zeitbewusstsein der Menschen, überhaupt die Möglichkeit einer kontinuierlichen Erfahrung von Zeit, aufs tiefste zerrüttet ist. […] Ich habe seinerzeit in meiner Einleitung zu den ‚Schriften‘ Walter Benjamins versucht auszudrücken, daß so etwas wie der Begriff des Lebenswerks heute problematisch ist deshalb, weil unser Dasein längst nicht mehr nach einem ihm immanenten, quasi organischen Gesetz verläuft, sondern derart bestimmt wird von allen möglichen Mächten, die eine solche immanente Entfaltung ihm versagen; daß das Vertrauen auf eine solche Ganzheit des Lebens, der dann als ein Sinnvolles der Tod soll antworten können, bereits den Charakter einer Chimäre hat.
Ich möchte aber darüber noch hinausgehen. […] Es ist nämlich die Frage, ob es jene Art der epischen Ganzheit des Lebens, also das Biblische, daß Abraham alt und lebenssatt gestorben sei, ob es dieses Wunschbild eines in der Zeit sich erstreckenden, zu erzählenden Lebens, das dann in seinem eigenen Tod sich rundet, — ob das nicht selber immer nur etwas Verklärendes gewesen ist. […] [S]o daß also mit dieser Auffassung von dem epischen Tod auch die Vorstellung, daß je ein ganzheitliches, das heißt: in sich sinnvolles Leben gewesen sei, daß das wohl hinab muss.“
Metaphysik. Begriff und Probleme, S. 207-209.
Exkurs über den Sinn des Lebens in der Bibel
Bevor wir untersuchen, inwiefern Adorno und Arendt hier unabhängig voneinander auf ein gemeinsames Phänomen gestoßen sein könnten, möchte ich, wie eigentlich immer, wenn sich mir die Gelegenheit bietet, ein wenig bei der Bibel verweilen. Es ist nämlich in meinen Augen so, dass es ein Missverständnis der Bibel wäre, wenn man davon ausgeht, dass das Leben Abrahams im Buch Genesis als in sich sinnvoll dargestellt wird.
Der Lebenssinn Abrahams liegt jenseits seines Lebens
Wenn wir das Narrativ Abrahams in der Bibel betrachten, so werden wir feststellen, dass in seinem Leben sein Kinderwunsch eine herausragende Priorität hat. Gott verspricht nun dem Abraham, seine Nachkommen so zahlreich zu machen wie die Sterne am Himmel oder den Sand in der Wüste, also so zahlreich, dass man sie praktisch gar nicht zählen kann. Die dramatische Spannung des gesamten Narrativs ergibt sich aus der Frage, ob Abraham dem Versprechen Gottes glaubt, obwohl es in seinen Augen einigermaßen unsinnig ist, oder ob er auf eigenem Wege und ohne Gottes Hilfe versucht, sich seinen Kinderwunsch zu erfüllen.
Falls die Spannung noch nicht ersichtlich sein sollte, können wir sie wie folgt handgreiflicher machen. Abraham wünscht sich Kinder. Gott verspricht ihm Kinder – und zwar auf die denkbar unwahrscheinlichste Weise, nämlich mit seiner offenbar unfruchtbaren und hochbetagten Frau. Die Frage ist nun: Glaubt Abraham diesem Versprechen? Kann Abraham diesem Versprechen glauben? Könntest du diesem Versprechen glauben? Abraham jedenfalls verlässt sich nicht durchgängig auf Gottes Wort allein und probiert im Laufe des Narrativs eigene Wege aus, um sich seinen langgehegten Kinderwunsch zu erfüllen – aber im Nachhinein erweisen sie sich zumeist als suboptimal, um es mal vorsichtig auszudrücken.
Abraham ist lebenssatt durch seinen Glauben an Gottes Verheißung
Wenn Abraham jedenfalls „alt und lebenssatt“ stirbt, so muss man in Rechnung stellen, dass er am Ende seines Lebens Gottes Versprechen erfüllt sieht, obwohl er nur einen einzigen Nachkommen mit Sarah hat, nämlich Isaak. Der von Gott versprochene Sinn seines Daseins, nämlich praktisch unzählbar viele Nachkommen mit Sarah ins Leben zu rufen, hat sich in Abrahams Leben nicht erfüllt – aber Abrahams Glaube war am Ende seines Lebens so groß, dass ihn das nicht weiter gestört zu haben scheint.
Anders ausgedrückt: Durch seinen Glauben erschien ihm Gottes Wort vielleicht als etwas bereits Erfülltes – und insofern war er alt und lebenssatt, weil ihm der eine Nachkomme mit Sarah in Verbund mit Gottes Versprechen vollauf genügte, um auf ein gerundetes Leben zurückzublicken. Für diesen Rückblick projiziert er sich selbst allerdings in die von Gott verheißene Zukunft: Erst vor dem Hintergrund Gottes erfüllter Prophezeiung ergibt sein Leben einen gerundeten Sinn.
Um damit wieder auf Adorno zurückzukommen: In sich ist Abrahams Leben nicht sinnvoll; erst durch die Erfüllung der Verheißung ergibt sein Leben einen Sinn – und die Erfüllung dieser Verheißung ist etwas, das sich erst jenseits von Abrahams Leben vollzieht.
Wo liegt der Sinn des Lebens? Der Bibel zufolge jedenfalls nicht hier!
Moses sieht das gelobte Land nur aus der Ferne
Ich möchte kurz auf vier weitere biblische Personen hinweisen, für die es problematisch wäre, von einem in sich sinnvollen Leben zu sprechen. Erstens haben wir den Mose, dessen Lebenssinn es doch offenbar ist, sein Volk Israel aus der Sklaverei in Ägypten zu befreien – und dem es am Ende selbst versagt bleibt, das gelobte Land zu betreten. Gott gewährt ihm lediglich einen Blick von ferne: Die Verheißung soll sich erfüllen, aber nicht in seinem Leben.
Der weise Prediger kann in diesem Leben keinen Sinn finden
Zweitens haben wir den Prediger (Kohelet), der mit dem König Salomon identifiziert wird, und der von sich behauptet, alle möglichen Sinnangebote des Lebens durchprobiert zu haben: Reichtum, Macht, Ruhm, Weisheit – aber alles erweist sich ihm bei näherer Betrachtung spätestens dann als sinnlos, wenn er den eigenen sicheren Tod in Rechnung stellt. Seine letzte Empfehlung ist es daher, sich einfach über die täglichen Mahlzeiten und damit den bloßen Fortgang des Lebens zu freuen – jede Sinnsuche in diesem Leben ist aus seiner Sicht hoffnungslos, oder wie man deshalb auch sagen könnte: sinnlos.
Der denkwürdige Fall des großen Königs Chiskijahu
Drittens haben wir den (von den biblischen Autoren in den höchsten Tönen gelobten) König Chiskijahu, der quasi schon im Sterbebett liegend zu Gott fleht, noch einige Zeit länger am Leben bleiben zu dürfen, und dem Gott daraufhin fünfzehn weitere Lebensjahre gewährt. In dieser Zeit lässt Chiskijahu allerdings zu, dass sein Reich von babylonischen Gesandten inspiziert wird, und Gott prophezeit ihm daraufhin die babylonische Gefangennahme seines Volkes nach seinem Tod. Und Chiskijahu denkt sich daraufhin sinngemäß: Schon okay, Gott – wenigstens zu meinen Lebzeiten herrscht Friede und Ordnung! (Vergleiche für diese Geschichte 2. Könige, 20.)
Der Fall von Chiskijahu ist nicht parallel zu den ersten beiden Fällen Abraham und Mose, aber dadurch noch instruktiver, denn er ist gewissermaßen das Negativ: Chiskijahu wünscht sich die Erfüllung seines Lebenssinns in diesem Leben; was nach seinem Leben geschieht, ist ihm gleichgültig. Dabei zeigt sich für den unparteiischen Leser, vor allem im Vergleich mit den ersten beiden Fällen, dass es vielleicht doch besser ist, wenn man darauf vertraut, dass das Leben sich erst nach dem eigenen Tod rundet, statt die Früchte des eigenen Handelns schon in diesem Leben ernten zu wollen. Denn will man wirklich als der König in die Annalen eingehen, der für die Gefangennahme seines Volkes durch die Babylonier mitverantwortlich ist?
Der sinnlose Kreuzestod Jesu
Viertens weise ich auf die letzte und vielleicht wirkmächtigste Persönlichkeit der Bibel hin, nämlich Jesus. Fassen wir sein Leben zusammen, wie es sich für uns darstellt: Über die ersten 30 Jahre wissen wir eigentlich nichts. Dann kommen einige wenige Jahre als Wanderprediger – und für das, was er in dieser Zeit getan hat, wird er hingerichtet. Ergibt das ein in sich sinnvolles Leben? Wohl kaum! Hatte sein Leben aber, rückblickend betrachtet, einen Sinn? Ich will es mal so ausdrücken: Wenn die Stiftung einer Weltreligion nicht dazu führt, dass man ein Leben als sinnvoll bezeichnen kann, dann wird man schwerlich irgendeinem Leben einen Sinn abgewinnen können.
Fazit: Die Suche nach Lebenssinn im Diesseits scheint einigermaßen aussichtslos
Aus diesen vier Fällen leite ich ab, dass die Bibel in Bezug auf die Erkenntnis des eigenen Lebenssinns keine allzu großen Hoffnungen weckt: Der Sinn des eigenen Lebens liegt regelmäßig jenseits des eigenen Lebens. Im besten Fall können wir ihn in Umrissen am Horizont wahrnehmen wie Moses das gelobte Land. Im schlechtesten Fall erscheint das eigene Leben so sinnlos, dass man sich am Ende von Gott verlassen wähnt (wie Jesus), oder das eigene Leben sieht zu Lebzeiten super aus, entpuppt sich aber nach dem Tod (wenigstens zum Teil) als Rohrkrepierer (wie bei Chiskijahu). Nicht gerade der Stoff für erbauliche Sonntagspredigten, nicht wahr? Für mich nur ein Grund mehr, die Bibel ernster zu nehmen als gemeinhin getan wird.
Von der Zeitdiagnose zur Sinnkrise: Was heute zu fehlen scheint ist ein sinnstiftendes Narrativ.
Kommen wir nach diesem ausgedehnten Exkurs zurück zu den Zeitdiagnosen von Adorno und Arendt, so ist ihnen gemeinsam, dass sie von einem Verlust der Kontinuität sprechen. Wir haben schon gesagt, dass schwer zu sehen ist, wie Arendt auf die Idee kommt, einen Bruch der Kontinuität der Vergangenheit zu konstatieren, aber es ist interessant, dass Arendt das Überbleibsel eine zerstückelte Vergangenheit nennt.
Es scheint also darum zu gehen, dass uns die Vergangenheit nur noch in Bruchstücken überliefert ist: Ein bisschen Platon hier, ein bisschen Aristoteles da, dort die Scholastiker, hüben Descartes, drüben Hume, außerdem Kant, vielleicht noch Hegel, und so weiter – aber was fehlt, ist ein übergreifendes Narrativ: Inwiefern kann man von dem, was uns aus der Vergangenheit überliefert ist, von einer Gedankenentwicklung sprechen? Hegel hat sich an einer systematischen Entwicklung des Gedankens noch versucht – aber wer vertraut noch darauf, dass Hegel uns in diesem Punkt etwas Triftiges zu sagen hätte?
Hier würde sich Arendt mit Adorno berühren, wenn auch auf verschiedenen Ebenen. Denn was Arendt gewissermaßen auf ideengeschichtlicher bzw. gesellschaftlich-politischer Ebene diagnostizieren würde, nämlich ein fehlendes, sinnstiftendes Narrativ, konstatiert Adorno auf einer je individuellen Ebene: Ein fehlendes, sinnstiftendes Narrativ für das Leben jedes einzelnen Menschen, was sich in der Unmöglichkeit äußert, die Vergangenheit als kontinuierlich zu erfahren.
Was also verloren gegangen ist, so könnte man sagen, ist ein allgemein akzeptiertes, sinnstiftendes Narrativ, in das sich die Geschehnisse in der Zeit einfügen lassen. Ohne ein solches Narrativ bleiben die Geschehnisse unverbunden, zerstückelt und damit letztlich sinnlos – wenn wir unterstellen, dass sich der Sinn eines Ereignisses nur innerhalb eines größeren Zusammenhangs zeigt, also in einem sinnstiftenden Narrativ, in das dieses Ereignis eingebunden ist.
Warum gibt es keine sinnstiftenden Narrative mehr?
Der Prozess der sozialen Beschleunigung zerstört die Grundlage für jedes sinnstiftende Narrativ
Die erste Erklärungsmöglichkeit liefert uns die Beschleunigungstheorie von Hartmut Rosa. Rosa zufolge hat sich die moderne Gesellschaft mit dem kapitalistischen Steigerungsimperativ in einen sozialen Beschleunigungskreislauf begeben, dessen gegenwärtiges Resultat ein Zeitempfinden des rasenden Stillstands ist: Um überhaupt mit dem gesellschaftlichen Tempo Schritt halten zu können, muss man seine eigenen Handlungsabläufe so sehr flexibilisieren, dass man jederzeit gerade das erledigt, was in diesem Augenblick am dringlichsten zu erledigen ist. Die Folge sind Zeitnot und Stress einerseits – das rasende Element – sowie ein fehlendes, sinnstiftendes Narrativ, in das die einzelnen Handlungen eingebunden sind – das Element des Stillstands.
Eine detaillierte Darstellung der Beschleunigungstheorie Rosas würde hier zu weit führen, auch wenn es durchaus lohnenswert wäre. Festzuhalten bleibt für unsere Zwecke, dass sie ein äußerst plausibles, zeitsoziologisches Narrativ bereitstellt, mit dem sich insbesondere der Verlust jeglicher sinnstiftenden Narrative – individuell wie politisch-gesellschaftlich – sinnvoll erklären lässt. Gleichwohl ist das Narrativ, das die Beschleunigungstheorie uns darbietet, nur in der Weise sinnstiftend, dass uns der gegenwärtige Zustand des rasenden Stillstands als ein sinnvolles Resultat von Entwicklungen aus der Vergangenheit erscheint.
Anders ausgedrückt: Wir können zwar eine Geschichte erzählen, wie wir aus der Vergangenheit in die Gegenwart gekommen sind – aber ebendiese Geschichte in Verbund mit einer genauen Gegenwartsanalyse führt dazu, dass wir diese Geschichte nicht mehr weitererzählen können.
Man kann es mit einer Analogie verdeutlichen. Angenommen, wir würden im Kino sitzen und uns einen Film ansehen, der langsam und fast unmerklich immer schneller abgespielt wird. Am Anfang können wir dem Narrativ noch problemlos folgen. Nach einer Weile spielen sich die Handlungen im Zeitraffer ab, sodass wir langsam Schwierigkeiten bekommen, mit der Geschichte kognitiv Schritt zu halten. Und irgendwann spult der Film so schnell ab, dass wir nicht einmal mehr die Akteure klar erkennen können. Alles verschwimmt. Der Film als nachvollziehbares Narrativ ist vorbei. Und doch geht er weiter – und zwar immer schneller und schneller. Wir können ihn nur nicht mehr verstehen.
Wir haben den Glauben an die früheren sinnstiftenden Narrative verloren
Vielleicht ist es aber gar nicht so, dass es keine sinnstiftenden Narrative mehr gibt. Vielleicht ist es nur so, dass wir keinem sinnstiftenden Narrativ mehr Glauben schenken können. Wie ist es dazu gekommen?
Der Niedergang der Religion und der Aufstieg der Wissenschaft
Lange Zeit waren religiöse Dogmen und Praktiken fester Bestandteil der kulturellen und individuellen Selbstverständigung des Westens. Im Zuge der Aufklärung traten dann aber Entwicklungstendenzen hervor, die letztlich zu einer Erosion der Religion als sinnstiftender Instanz geführt hat.
Erstens beschäftigte man sich zunehmend mit der Frage, was wir eigentlich wissen können. Dabei ist und bleibt das Werk Immanuel Kants ein herausragender Referenzpunkt: Denn er hat für viele überzeugend argumentiert, dass es in Bezug auf die existenziell drängenden religiösen Fragen schlechterdings nichts zu wissen gibt, sondern nur zu glauben. Während er aber noch der Ansicht war, dass er durch seine Untersuchungen dem Glauben einen eigenen, festen Platz gesichert hat, führten Kants Einsichten de facto zu einer kollektiven Abwertung von Glaubensfragen.
Und das hat wiederum mehrere Gründe. Zum einen stellt sich die Frage, wie man überhaupt sinnvoll über religiöse Fragen sprechen oder diskutieren kann, wenn in Bezug auf diese Fragen sowieso nichts gewusst werden kann. Haben die Buddhisten Recht? Oder die Juden? Oder die Christen? Oder die Muslime? Oder die Hinduisten? Oder gar – Gott bewahre! – irgendeine Splittersekte? Für die Beantwortung solcher Fragen kann es offenbar keine erkenntnisleitende Methode geben, wenn religiöse Fragen ohnehin reine Glaubensfragen sind. Damit kann es aber auch keine produktiven Gespräche über religiöse Fragen geben, jedenfalls in dem Sinne, dass man in Bezug auf religiöse Dinge durch Gespräch mit anderen irgendwelche Einsichten gewinnen könnte – denn Einsicht ist eine Form von Wissen, und in Bezug auf religiöse Fragen gibt es nichts zu wissen, wie Kant (vermeintlich) gezeigt hat.
Hand in Hand mit dieser Überzeugung von der Nutzlosigkeit religiöser Diskussionen schritt zum anderen der Säkularisierungsprozess des Westens voran, wodurch Staat und Kirche stärker voneinander getrennt und die religiösen Belange aus dem politischen Bereich in den privaten Bereich verdrängt wurden. Das führte letztlich dazu, dass religiöse Diskussionen im öffentlichen Raum nichts mehr zu suchen haben und damit auch nicht mehr stattfinden. Mit anderen Worten: Religiöse Angelegenheiten sind zur Privatsache geworden – und damit zur ganz privaten Sache jedes einzelnen Individuums, denn mit wem sollte er über diese Dinge sprechen, und warum bzw. genauer: wozu? Es würde ja doch zu nichts führen, wie Kant (vermeintlich) gezeigt hat!
Während nun die religiösen Belange in den privaten, für die Mitmenschen einigermaßen unsichtbaren Bereich abgedrängt wurden, wurde im Gegenzug der so frei gewordene Platz im öffentlichen Diskurs von den Wissenschaften belegt. Manche sprechen auch davon, dass die Wissenschaft für viele zur Ersatzreligion geworden ist. Ich denke aber, dass diese Redeweise nicht ganz zutreffend ist: Was dem Wissenschaftsskeptiker als Wissenschaftsgläubigkeit erscheint, ist meines Erachtens viel besser mit dem Terminus der Fortschrittsgläubigkeit umschrieben.
Der Fortschrittsglaube des aufgeklärten Menschen
Das Narrativ des wissenschaftlichen Fortschritts dürfte seine Ursprünge ebenfalls in der Zeit der Aufklärung bzw. der Industrialisierung haben und scheint auf den ersten Blick überaus sinnfällig zu sein. Denn wenn wir den Wandel der Lebensbedingungen in den vergangenen Jahrhunderten betrachten, so ist ein wissenschaftlich-technologischer Fortschritt kaum von der Hand zu weisen:
Wir können in immer kürzerer Zeit mit immer weniger menschlicher Arbeit immer größere Mengen produzieren und damit auch immer mehr Menschen ernähren; weite Teile der Haushaltsführung bedürfen keiner Bediensteter mehr und lassen sich durch allgemein erschwingliche Geräte erledigen; und dank des Internets können wir uns gewissermaßen auf Knopfdruck ganze Welten ins Haus holen: Die Welt der Musik, die Welt des Films, die Welt des Wissens, und so weiter.
Erste Risse im Fortschrittsglauben
Bei näherer Betrachtung wird aber auch dieses Narrativ des wissenschaftlich-technischen Fortschritts brüchig, denn Fortschritt ist eine Metapher mit eingebautem teleologischen Sinngehalt: Sobald wir von Fortschritt sprechen, unterstellen wir stets implizit, dass wir zum Besseren fortschreiten – denn anderenfalls hätten wir es ja nicht mit Fortschritt zu tun, sondern mit Rückschritt oder Niedergang.
Ist die Welt überhaupt eine bessere geworden?
Erstens lässt sich nun die Frage stellen, ob die Welt in den letzten Jahrhunderten denn wirklich eine bessere geworden ist. Man kann nämlich zugestehen, dass die Menschheit insgesamt durch den wissenschaftlich-technologischen Fortschritt ohne Zweifel mächtiger geworden ist, in dem Sinne, dass dem modernen Menschen leistungsfähigere Mittel zur Erreichung seiner Ziele zur Verfügung stehen. Das Problem ist jedoch, dass dieser Machtzuwachs an sich die Welt nicht zu einem besseren Ort macht.
Zum einen wird die Welt unzweifelhaft zu einem schlechteren Ort, wenn das Ziel einer mächtigen Gesellschaft darin besteht, eine andere Gruppe von Menschen völlig zu vernichten – die nationalsozialistischen Todesfabriken mit ihrer durchbürokratisierten Verwaltung des Massenmordes sind in dieser Hinsicht ein bleibendes Mahnmal des verhängnisvollen Potentials wissenschaftlich-technologischen Fortschritts.
Zum anderen, und das ist im vorigen Punkt bereits angedeutet, erstreckt sich der Machtzuwachs des Menschen nicht nur auf die ihn umgebende Natur und auf andere Menschen, sondern auch auf seine eigene innere Natur. Es wäre einigermaßen naiv zu glauben, dass sich der wissenschaftliche Fortschritt im Bereich der Psychologie nicht auch auf den Bereich der Massenpsychologie, Propaganda und – heute vielleicht wichtiger denn je –: der Werbung auswirken würde.
Da die erfolgreichsten Geschäftsmodelle der Gegenwart offenbar im Silicon Valley ausgeheckt werden und fast vollständig darauf beruhen, das Verhalten ihrer Nutzer durch geschickt platzierte, individualisierte Werbung zu manipulieren, zeichnet sich nicht erst am Horizont die grauenerregende Dystopie des gedankenlosen Konsumzombies ab, der sich im niemals endenden Strom virtueller Medien treiben lässt und sich nur für geschickt orchestrierte Momente aus diesem Strom herausbewegt, um durch den Strom geweckte Begehrlichkeiten durch einen gezielten Klick auf „Kaufen“ zu befriedigen.
All dies ist, so viel intellektuelle Redlichkeit muss sein, nicht viel mehr als die Vergegenwärtigung eines Gedankens, den Adorno in seinem Hauptwerk in seiner unnachahmlichen intellektuellen Sprachgewalt formuliert hat und für den geneigten Konsumzombie von heute vermutlich ähnlich unverständlich ist wie Raketenwissenschaft:
„Die Behauptung eines in der Geschichte sich manifestierenden und sie zusammenfassenden Weltplans zum Besseren wäre nach den Katastrophen und im Angesicht der künftigen zynisch. Nicht aber ist darum die Einheit zu verleugnen, welche die diskontinuierlichen, chaotisch zersplitterten Momente und Phasen der Geschichte zusammenschweißt, die von Naturbeherrschung, fortschreitend in die Herrschaft über Menschen und schließlich die über inwendige Natur. Keine Universalgeschichte führt vom Wilden zur Humanität, sehr wohl eine von der Steinschleuder zur Megabombe. Sie endet in der totalen Drohung der organisierten Menschheit gegen die organisierten Menschen, im Inbegriff von Diskontinuität.“
Negative Dialektik, S. 314.
Führt uns der Fortschritt in den Untergang der Biosphäre?
Ein zweites Problem für die Fortschrittsgeschichte besteht darin, dass ausgerechnet die Wissenschaft, die der Menschheit ihren ungeheuren Machtzuwachs beschert hat, uns heute darüber aufklärt, dass die Naturbeherrschung möglicherweise nur ein vorübergehendes Stadium der Menschheitsgeschichte gewesen ist.
Denn die vermeintliche Naturbeherrschung, die durch die Industrialisierung zu einem exponentiellen Wachstumsschub der menschlichen Weltbevölkerung geführt hat, bringt uns in allen Zukunftsprognosen der Klimaforschung an den Rand des ökologischen Kollapses. Der Mensch scheint die Natur also nur insoweit zu beherrschen, als er sie als Lebensraum für sich und zahllose andere Arten vernichtet. Zum aktuellen Zeitpunkt sieht es jedenfalls nicht so aus, als wäre die Menschheit in der Lage, diesen von ihr selbst herbeigeführten Niedergang ihres eigenen Biotops noch aufhalten zu können.
Den Optimismus derjenigen Zeitgenossen, die den Niedergang der Erde durch wissenschaftlich-technologischen Fortschritt aufzuhalten gedenken, kann der Verfasser dieser Zeilen jedenfalls nicht teilen. Ihn stimmen eher Geschichten wie jene optimistisch, wonach um den ehemaligen Kernreaktor Tschernobyl das Leben zurückkehrt: Selbst größte anzunehmende Unfälle scheinen dem Leben als Naturphänomen nicht völlig den Garaus machen zu können. Aber die Zuversicht, dass der Mensch nicht mächtig genug sein wird, die gesamte Natur mit sich in den Untergang zu reißen, ist selbstredend ein überaus schwacher Trost angesichts der globalen Ökokatastrophe – man könnte es auch zynische Resignation nennen.
Wie alle Geschichten wird sich jedenfalls auch die Geschichte des wissenschaftlich-technologischen Fortschritts der Menschheiterst von ihrem Ende her völlig verstehen lassen. Und zur Zeit sieht es zumindest aus wissenschaftlicher Sicht nicht gerade nach einem Happy End aus.
Die Erosion der Narrative durch die Wissenschaft selbst
Wir haben bisher zu zeigen versucht, dass im Zuge der letzten Jahrhunderte die Religionen vom Marktplatz der Ideen verdrängt wurden und dass weithin die Wissenschaften ihre Rolle übernommen haben, wobei es der wissenschaftlich-technologische Fortschrittsglaube ist, in dem sich der alte religiöse Wunsch nach Erlösung widerspiegelt: Die Erlösung liegt zwar immer noch in der Zukunft, aber der Erlösungszustand liegt – anders als in den Weltreligionen – im Diesseits, und es ist die Menschheit selbst, die das Projekt ihrer eigenen Erlösung unternimmt.
Wir haben bereits gesehen, dass es gute Gründe gibt, dem Fortschrittsglauben als Fortschrittserzählung einigermaßen skeptisch gegenüber zu stehen. Wir wollen nun sehen, wie die Wissenschaft selbst, an den sich der Fortschrittsglaube heftet, eigentlich der Idee einer Fortschrittserzählung völlig entgegensteht, insofern sie jeder nachvollziehbaren Erzählung den Garaus gemacht hat.
Physik
Die Physik könnte man grob definieren als die Wissenschaft von der unbelebten Materie. Die klassische Physik, so könnte man sagen, ist entstanden aus dem Wunsch, den Gang der Sterne vorherbestimmen zu können. Im Laufe der Geschichte, spätestens seit Galileis Fallgesetzen, wurde mehr und mehr versucht, das Verhalten von unbelebten Objekten allgemein vorherzusagen.
Durch den großen Erfolg der Physik auf diesem Gebiet entstand dabei das mechanistische Bild vom Universum als einem gigantischen Uhrwerk: Alle Objekte, selbst die belebten, sind letztlich aus unbelebten Objekten zusammengesetzt, deren Bewegung ihrerseits in geregelten Bahnen verläuft, welche durch die Gesetze der Physik beschrieben werden. Wenn wir nur klug genug wären, sämtliche mathematischen Gleichungen zu kennen, die diese Bahnen beschreiben, dann könnten wir die Zukunft vollständig vorhersagen.
Es ist dieses Weltbild der klassischen Physik, welches damals wie heute die meisten Angriffe auf die These der menschlichen Willensfreiheit befeuert: Denn wenn man das Verhalten jedes einzelnen Menschen vollständig vorhersagen könnte, sofern man nur die entsprechenden mathematischen Gleichungen jedes einzelnen Atoms kennen würde, scheint es keinen Sinn zu ergeben, von der Freiheit des Menschen zu sprechen. In unserem Zusammenhang ist jedoch noch wichtiger, dass sich aus dem mechanistischen Weltbild letztlich ein statisches Verständnis des Universums ergibt, insofern die beschreibenden mathematischen Gleichungen der Teilchenbewegungen stets dieselben sind.
Vor dem Hintergrund des mechanistischen Weltbildes scheint daher jedes Narrativ, mit dem wir den Vorgängen in der Welt einen Sinn abzugewinnen versuchen, in letzter Konsequenz nicht die Wahrheit abzubilden. Die vollständige Wahrheit über die Veränderungen im Universum findet sich einzig und allein in den immergleichen mathematischen Gleichungen, in denen so etwas wie Sinn, Werte oder Absichten schlicht nicht zu finden sind. Jedes Narrativ kann daher höchstens so etwas wie eine komplexitätsreduzierende Heuristik sein, mit der wir uns vielleicht in der Welt orientieren können – die Wahrheit erkennen wir durch solche Narrative allerdings nicht, und insofern die Wissenschaft allein der Wahrheit auf der Spur ist, sind solche Narrative aus Sicht der klassischen Physik zurückzuweisen.
Die Quantenphysik hat insofern eine Änderung der Lage gebracht, als sie gezeigt hat, dass die kleinsten Teilchen sich eben nicht, wie die klassische Physik angenommen hat, auf gesetzmäßigen Bahnen bewegen. Wir können nur angeben, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Teilchen, das wir aus einer Teilchenkanone schießen, auf einer bestimmten Region einer Detektorwand aufprallt – auf die Frage, wo sich das Teilchen im Zeitintervall zwischen Abschuss und Aufprall befindet, gibt es keine richtige Antwort, die im Weltbild der klassischen Physik Sinn ergeben würde.
Aber wie die Antwort der Quantenphysik zu interpretieren ist, sodass sie für uns einen nachvollziehbaren Sinnergibt, ist bis heute eine offene Frage. Die beliebteste Antwort scheint immer noch in folgendem Ausweichmanöver zu bestehen: Die Frage, wo sich das Teilchen zwischen Abschuss und Aufprall befindet, lässt sich mit physikalischen Methoden – also durch Experiment – nicht beantworten, denn wenn wir das experimentelle Design so ändern, dass wir die Frage beantworten können, ändern wir auch die Aufprallwahrscheinlichkeiten und damit das Verhalten des Teilchens.
Wir wollen hier in Sachen Quantenphysik nicht zu weit ins Detail gehen. Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass die Physik letztlich keine allgemein akzeptierten Narrative hat und der physikalische Mainstream der Auffassung zu sein scheint, dass solche Narrative letztlich unphysikalisch sind, insofern die Wahrheit dieser Narrative nicht durch Experimente entschieden werden kann. Von der Physik werden wir daher keinen Zuspruch für irgendein Narrativ erwarten können, mit dem wir uns einen Reim auf die uns umgebende Welt machen. Bis heute prognostiziert die Physik die Vorgänge in der Welt, aber sie erklärt sie nicht.
Das einzige Narrativ, das die moderne Quantenphysik dem unbedarften Zuschauer anbieten kann, ist ein völlig zerschossenes Nicht-Narrativ: Die Welt ist nicht mehr ein gigantisches Uhrwerk, das Gott zu Beginn seiner Schöpfung aufgezogen hätte und wie am Schnürchen vor sich hin rattert, sondern ein einziges, gewaltiges Zufallsprodukt. Das Universum startet aus einer punktförmigen Singularität und explodiert in einer gewaltigen Kaskade zufälliger Ereignisse, in denen sich – zum Glück für uns! – gewisse Regularitäten einstellen, die uns das Leben auf der Erde ermöglichen. Aber auf fundamentaler Ebene ist eigentlich alles Zufall.
Evolutionsbiologie
Womit wir bei der nächsten naturwissenschaftlichen Erfolgsgeschichte der letzten Jahrhunderte sind, nämlich der Biologie, oder konkreter: der Evolutionsbiologie. Seit Darwin hat sich ein weit verbreiteter Konsens hergestellt, dass alles Leben letztlich Resultat aus zufälligen Mutationen und Selektionsdruck ist: Das Leben pflanzt sich fort und variiert dabei zufällig seine Baupläne, wobei sich dann im weiteren Verlauf des Lebens zeigt, ob der zu diesem Bauplan gehörende Organismus an seine ökologische Nische angepasst ist oder nicht.
Wenn der Organismus nicht angepasst ist, stirbt der Organismus, ohne sich fortpflanzen zu können. Er nimmt dann also seinen unangepassten Bauplan mit ins Grab. Wenn der Organismus gut angepasst ist, pflanzt er sich mit anderen Organismen fort, sodass der variierte Bauplan die Grundlage für die nächste Variation ist. Und so geht es immer weiter: Durch zufällige Variation seiner Baupläne gelingt es dem Leben im Ganzen, also über Arten und Generationen hinweg betrachtet, auf Änderungen des Biotops reagieren zu können, sodass es sich über Generationen hinweg – nun ja: am Leben erhält.
Dieses Narrativ ist insofern sinnlos, als die Frage, warum sich das Leben überhaupt am Leben erhält, von der Biologie nicht beantwortet wird. Das Leben erhält sich durch Fortpflanzung (oder Zellteilung) am Leben; warum es das tut, wissen wir nicht. Wir wissen nur, wie es dem Leben gelingt, auch auf widrige Umstände wie Biotopveränderungen „reagieren“ zu können: Es variiert zufällig seine Baupläne und sorgt so dank Zufall und Gesetz der großen Zahl dafür, dass es immer Organismen gibt, die an die veränderten Lebensbedingungen angepasst sind.
Um das Narrativ vollends seines Sinnes zu entleeren, bedarf es aber noch eines letzten Schritts: Was ich hier getan habe, nämlich das Leben als einen Akteur darzustellen, der sich gewissermaßen durch die Zeit hindurch am Leben erhält und auf Umwelteinflüsse reagiert, ist vollständig unbiologisch! Wirklich wissenschaftlich ist die Biologie erst dann, wenn jeder metaphorische Rekurs auf handelnde Akteure aus ihrer Sprache getilgt ist – und der wissenschaftliche Fortschritt, den die Biologie seit Darwin gemacht hat, besteht gerade darin, die Teleologie, also jeden Verweis auf Ziele, Zwecke oder Absichten, aus ihrer Sprache verbannt zu haben. Das Treiben des Lebens auf dieser Erde ist faszinierend – aber aus Sicht der heutigen Biologie auch völlig zweck- und sinnlos. Ein Narrativ dürfen wir also auch von ihr nicht erwarten.
Psychologie
Auch von der Psychologie dürfen wir uns nicht allzu viel erhoffen, wenn es um sinnstiftende Narrative geht. Das hat allerdings eher damit zu tun, dass der weitaus tonangebende Zweig der heutigen wissenschaftlichen (im Unterschied zur therapeutischen) Psychologie die Neurowissenschaften sind, die zum einen versuchen, das persönliche Seelenleben des Menschen auf unpersönliche Gehirnprozesse zurückzuführen, und die sich zum anderen im Allgemeinen dem oben diskutierten mechanistischen Weltbild insofern verpflichtet fühlen, als sie das Gehirn für einen gigantisch komplexen Computer halten, dessen Mechanismen es aufzudecken gilt.
Was wir oben für die klassische Physik sagten, gilt also auch für die heutigen Neurowissenschaften: Was uns als Willensfreiheit, Ziel, Zweck oder Absicht erscheint, ist in Wahrheit ein gesetzmäßig ablaufender Rechenvorgang im Gehirn; und jedes Narrativ über handelnde Personen ist letztlich nur eine komplexitätsreduzierende Heuristik für in Wahrheit automatisch ablaufende Gehirnvorgänge bzw. über miteinander interagierende Gehirnprozesse. Was in letzter Konsequenz bedeutet, dass du oder ich in einer letzten wissenschaftlichen Beschreibung der Welt nicht vorkommen würden. Wie sangen Metallica so schön: Sad but true.
Zwischenfazit
Auch wenn ich nicht für jede einzelne Wissenschaft den Nachweis geführt habe, möchte ich doch sagen, dass die moderne Wissenschaft sich gewissermaßen dadurch auszeichnet, jedes sinnstiftende Narrativ aus ihren Theorien verbannt zu haben: In der Physik regieren mathematische Gleichungen oder der Zufall; in der Biologie regiert der Zufall zusammen mit dem Selektionsdruck, in der Neurowissenschaft regieren unpersönliche Hirnströme, die wiederum prinzipiell durch Gleichungen oder Schaltpläne beschrieben werden können sollten. Wenn es also ein Narrativ gibt, mit dem sich die Entwicklung der neuzeitlichen Wissenschaft zusammenfassen lässt, dann ist es die Zerstörung aller sinnstiftenden Narrative.
Der finale Kopfschuss: Die wissenschaftliche Einsicht in die Komplexität der Welt.
Es fehlt nur noch ein letzter Schritt, um sämtliche Narrative zu zerstören – denn in diesem Text wimmelt es nur so von Narrativen, deren größtes Problem es ist, dass sie viel zu unterkomplex, fast schon holzschnittartig sind! Wer auch nur ein wenig Ahnung von Wissenschaft mitbringt, der weiß, dass fast alles, was ich in diesem Text präsentiert habe, die Wirklichkeit einfach nicht wahrheitsgetreu abbildet, ja, gar nicht abbilden kann, weil die Wirklichkeit viel komplizierter und verwickelter ist, als es uns all unsere schönen Narrative glauben machen.
Um hierfür nur ein Beispiel zu nennen: Während ich den Säkularisierungsprozess der westlichen Welt in wenigen Zeilen abzuhandeln versuche, ist das moderne Standardwerk zu diesem Prozess, Charles Taylors Ein säkulares Zeitalter, ein 1200 Seiten dickes Mammutwerk, das ein so verästeltes, vielschichtiges und komplexes Bild dieses Prozesses zeichnet, dass es meiner kurzen Zusammenfassung geradezu spottet.
Und ähnliches wird auch für meine anderen hilflosen Versuche gelten, gewisse narrative Entwicklungslinien der jüngeren Geschichte zu skizzieren: Will man diesen Entwicklungen wirklich im Detail nachgehen, so wird man feststellen, dass die Sache längst nicht so einfach liegt, wie ich sie dargestellt habe. Kurzum: Meine angebotenen Narrative vom Ende aller Narrative mögen zwar oberflächlich sinnvoll erscheinen, aber sie sind einfach nicht wahr. Und insofern dieser Einwand gegen meine Narrative schlagend ist, fällt auch der letzte narrative Sinn dem wissenschaftlichen Streben nach Wahrheit zum Opfer: Die Wissenschaft zerstört jedes sinnstiftende Narrativ – selbst das Narrativ ihres eigenen narrativzerstörenden Werks!
Der Kampf zwischen Verstand und Vernunft
Kehren wir zurück zu Hannah Arendts Text über das Denken. In der Einleitung zu ihrer Arbeit unterscheidet sie die Geistesvermögen Verstand und Vernunft hinsichtlich ihrer jeweiligen Interessen: Während der Verstand darauf ausgerichtet ist, die Wahrheit einzusehen und damit Erkenntnis zu generieren, geht es der Vernunft darum, den Vorgängen in der Welt einen Sinn abzugewinnen – und Arendt besteht darauf, dass das Streben nach Wahrheit und das Bedürfnis nach Sinn zwei völlig unterschiedliche Dinge sind, die in der Philosophiegeschichte häufig zu Unrecht miteinander vermengt wurden. (Vgl. Vom Leben des Geistes, S. 23-25.)
Meines Erachtens ist die von Arendt konstatierte Vermengung von Wahrheit und Sinn darauf zurückzuführen, dass das Denken nicht, wie Arendt zu glauben scheint, eine ausschließliche Domäne der Vernunft ist, sondern dass beim Denken Verstand und Vernunft zugleich involviert sind. Wir werden an ein sinnvolles Narrativ nur dann glauben können, wenn wir es auch für (wenigstens annähernd) wahr halten – und umgekehrt werde ich (hoffentlich) nicht alleine mit der Auffassung dastehen, dass eine Wahrheit, die so komplex ist, dass ich sie nicht mehr als sinnvoll durchschauen kann, mich nicht im Geringsten interessiert.
(Eine beliebte Polemik meinerseits gegen allzu filigrane begriffliche Detailunterscheidungen in der analytischen Philosophie lautet: Wenn das die Wahrheit ist, will ich die Wahrheit gar nicht kennen!)
Unsere heutige Gesellschaft: Ein Schlachtfeld zwischen Verstand und Vernunft? Eine letzte narrative Fingerübung
Um nun zum Abschluss meiner Überlegungen ein letztes Narrativ zu bemühen: Mir scheint, als hätten sich in der heutigen Gesellschaft zwei große Lager gebildet, die den entsprechenden Denkvermögen Verstand und Vernunft bei Hannah Arendt entsprechen. In dem einen Lager hat der Verstand den Sieg über die Vernunft davongetragen: Die Welt ist so komplex, dass wir sie nicht mehr als sinnvoll durchschauen können; was bleibt ist die Skepsis vor allzu leichten Erklärungen und ein Plädoyer für ein pragmatisches, gegenwartsorientiertes Lösen der Probleme, die uns das Leben gerade zufällig vor die Füße wirft.
In dem anderen Lager hat die Vernunft den Sieg über den Verstand davongetragen: Die Welt erscheint uns so komplex, weil die Mächtigen dieser Gesellschaft wollen, dass wir ihre Pläne nicht durchschauen! Durch die Flüchtlingsströme wird das Gemeinwesen ausgehöhlt, durch Corona werden den Bürgern ihre Grundrechte entzogen, und währenddessen werden die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer – wenn das mal nicht das Ergebnis absichtsvollen Handelns ist…
Und zwischen diesen Lagern, so scheint mir, kommt kein richtiger Diskurs mehr zustande: Denn das Lager des Verstandes hält das Lager der Vernunft schlichtweg für zu dumm um die Wahrheit zu erkennen. Meines Erachtens ist es hier aber nicht der dumme Pöbel, der sich aus schierer Blödheit seine einfach gestrickten Verschwörungsnarrative zurechtbastelt, sondern es zeigt sich das allgemeine Bedürfnis der Vernunft nach einem sinnstiftenden Narrativ: Früher schöpfte sie aus dem Fundus des Aberglaubens, des Mythos und der Religion; heute erfindet sie Pizzagate, QAnon und esoterische Schwurbelei, weil die Wissenschaft ihr zwar die alten Quellen madig gemacht hat, selbst aber einfach nichts Sinnvolles anzubieten hat.
Das Bedürfnis der Vernunft zu ignorieren oder gering zu achten, wie es das Lager des Verstandes im Allgemeinen tut, bedeutet, ein allgemeines menschliches Bedürfnis zu ignorieren oder gering zu achten. Und wenn das Lager des Verstandes nicht bereit oder nicht in der Lage ist, dem Lager der Vernunft ein sinnstiftendes Narrativ anzubieten, dann wird das Lager der Vernunft eben andere Mittel und Wege finden, sich mit dem Stoff zu versorgen, den es so sehr braucht wie die Luft zum Atmen. Und Philosophie täte in diesem Spannungsfeld zwischen Verstand und Vernunft gut daran, sich nicht vorab auf eine der beiden Seiten zu schlagen, sondern sich Verstand und Vernunft so lange aneinander reiben und abarbeiten zu lassen, bis urplötzlich ein sinnstiftender Erkenntnisfunke überspringt. Viel mehr lässt sich in unserer Zeit des Endes der Geschichte(n) nicht von ihr verlangen.