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Psychologie

Ist Schizophrenie eine erwartbare Abweichung von der Norm?

Schizophrenie ist ein überaus vielschichtiges und vielgestaltiges psychisches Erkrankungsmuster, welches – anders als etwa die Depression – niemals eine Volkskrankheit ist oder war. Nichtsdestotrotz ist es bemerkenswert, dass sich das Krankheitsbild sowohl durch die Jahrhunderte zurückverfolgen lässt, als auch kulturübergreifend auf einem relativ stabilen niedrigen Niveau zu finden ist (ca. 1% der Gesamtbevölkerung, siehe etwa hier). Dies spricht dafür, dass das Phänomen der Schizophrenie irgendwie zur Gattung des Menschen dazugehört: Die Schizophrenie könnte demnach eine Abweichung von der Norm markieren, die selbst wiederum in einem gewissen Sinne „normal“ ist.

Um zu verstehen, was ich damit meine, betrachten wir folgende Analogie: Wenn 128 Leute sieben Mal hintereinander eine Münze werfen, so werden fast alle sowohl Köpfe als auch Zahlen werfen. Nehmen wir nun an, dass einer von ihnen sieben Mal Kopf wirft. Mit Blick auf die Wurfergebnisse der anderen stellt das eine Abweichung von der Norm dar. Zugleich ist es aber in einem anderen Sinne nicht unnormal, dass jemand tatsächlich einmal sieben Köpfe werfen sollte: In der Tat ist sogar im Gegenteil zu erwarten gewesen, dass das irgendjemandem passiert, wenn 128 Leute sieben Mal hintereinander eine Münze werfen.

Und ganz analog könnte die psychische Abweichung der Schizophrenie bei etwa einem Prozent der Bevölkerung schlichtweg zu erwarten sein – wir können aber (derzeit) nicht genau sagen, warum es gerade diese Betroffenen getroffen hat und nicht andere Menschen. Beim Fall des Münzwurfs wissen wir das jedoch auch nicht – und werden es auch nie erfahren. Denn für die Tatsache, dass einer der 128 Menschen sieben Köpfe wirft, werden wir nie eine kausale Erklärung finden. Wir werden stets nur sagen können, dass sie eine erwartbare Abweichung vom Normalfall darstellt. Ob man bei der Schizophrenie einmal mehr sagen kann als das, muss an dieser Stelle (natürlich) offenbleiben.

Aber können wir überhaupt sagen, dass die Schizophrenie eine erwartbare Abweichung vom Normalfall darstellt? Nun, zunächst einmal können wir nach kulturübergreifenden Studien mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass man qua Geburt ein Risiko von etwa einem Prozent hat, einmal in seinem Leben eine schizophrene Episode zu durchleben. Insofern ist die Schizophrenie a posteriori eine erwartbare Abweichung vom Normalfall: Die Erfahrung in Form von empirischen Studien lehrt uns, dass Schizophrenie eine kulturübergreifende und insofern typisch menschliche Abweichung vom Normalfall ist.

In diesem Blogeintrag soll es um die Frage gehen, ob die Schizophrenie in einem gewissen Sinne auch eine a priori erwartbare Abweichung vom Normalfall ist, oder genauer: Ob die Schizophrenie vielleicht in der Natur des Menschen angelegt ist, oder wieder anders: Ob in einer akuten Schizophrenie ein allgemein menschliches Phänomen ausbricht, das im Normalfall – durch welche Umstände auch immer – in Schach gehalten wird. Pointierter formuliert soll es also um die Frage gehen, ob der Mensch als Mensch latent schizophren ist.

Die Etymologie des Wortes Schizophrenie

Der Terminus Schizophrenie geht auf den Psychiater Eugen Bleuler zurück, der in seinem Werk Dementia Praecox oder die Gruppe der Schizophrenien (1911) vorgeschlagen hat, den alten Krankheitsbegriff der Dementia Praecox durch den Terminus Schizophrenie zu ersetzen, weil die von diesem Krankheitsbild betroffenen Personen weder geistig zurückgeblieben (dement) sein müssen, noch vorzeitig von der Krankheit befallen sein müssen (praecox). Vielmehr glaubte er das Hauptcharakteristikum der Krankheit in der „Spaltung der verschiedensten psychischen Funktionen“ erblicken zu können (vgl. Dementia Praecox, S. 5).

Ganz nebenbei wies er an ebenjener Stelle des Werks übrigens mit vollständig gesperrten und dadurch besonders hervorgehobenen Worten darauf hin, dass der singuläre Term Schizophrenie vermutlich insofern irreführend ist, als er wohl für eine ganze Gruppe von Krankheiten einsteht – was die Diskussion über die Frage, ob Schizophrenie als eine Krankheit überhaupt existiert, fast schon müßig erscheinen lässt, da bereits der Vater des Namens nicht der Ansicht war, dass es eine zugrundeliegende Krankheit gibt, die durch den Namen bezeichnet wird. Man würde sich manchmal etwas mehr Geschichtsbewusstsein in den Wissenschaften wünschen. Doch sei es drum!

Schizophrenie ist jedenfalls ein aus dem Altgriechischen zusammengesetztes Kunstwort aus den Worten für „spalten“ und „Geist“ – wir haben es also bei der Schizophrenie, grob gesprochen, mit einem gespaltenen Geist zu tun. Was haben wir uns darunter vorzustellen? Lauschen wir dazu doch eben jenem Bleuler, der den Terminus erfunden hat:

„[I]st die Krankheit ausgesprochen [sic!], so verliert die Persönlichkeit ihre Einheit; bald repräsentiert der, bald jener psychische Komplex die Person: die gegenseitige Beeinflussung der verschiedenen Komplexe und Strebungen ist eine ungenügende oder geradezu fehlende; die psychischen Komplexe fließen nicht mehr wie beim Gesunden zu einem Konglomerat von Strebungen mit einheitlicher Resultante zusammen, sondern ein Komplex beherrscht zeitweilig die Persönlichkeit, während dessen andere Vorstellungs- oder Strebungsgruppen ‚abgespalten‘ und ganz oder teilweise unwirksam sind. Auch die Ideen werden oft nur zum Teil gedacht und Bruchstücke von Ideen werden in unrichtiger Weise zu einer neuen Idee zusammengesetzt. Sogar die Begriffe verlieren ihre Vollständigkeit, entbehren eine oder mehrere, oft wesentliche Komponenten; ja sie werden in manchen Fällen nur durch einzelne Teilvorstellungen repräsentiert.

Die Assoziationstätigkeit wird also oft nur durch Bruchstücke von Ideen und Begriffen bestimmt; schon dadurch bekommt sie neben dem Inkorrekten etwas Bizarres, für den Gesunden Unerwartetes; oft auch hört sie mitten in einem Gedanken, oder wenn sie auf einen andern Gedanken übergehen sollte, plötzlich auf, wenigstens so weit sie bewußt ist (Sperrung); statt der Fortsetzung tauchen dann manchmal neue Ideen auf, die weder das Bewußtsein des Patienten selbst noch der Beobachter in Zusammenhang mit dem früheren Gedankeninhalt bringen kann.“

Dementia Praecox, S. 6.

Es geht also bei der Schizophrenie nicht darum, dass man eine gespaltene Persönlichkeit hat in dem Sinne, dass mehrere Personen mit ihren je eigenen Charakterzügen, Geschichten und Vorlieben in ein und demselben Menschen hausen. So etwas nennt man eine dissoziative Identitätsstörung, wobei Kritiker argwöhnen, dass es sich hierbei um eine Modediagnose der 80er und 90er Jahre ohne wissenschaftliche Basis handeln könnte. Das soll uns aber nicht weiter stören, da dieses Krankheitsbild eh nicht unser Thema betrifft.

Unser Thema ist die Schizophrenie, und hier ist der Geist auf eine Weise gespalten und zerstückelt, dass jegliche persönliche Einheit verloren geht. Der Schizophrene wechselt also nicht zwischen verschiedenen Personen hin und her, sondern die Persönlichkeit des Schizophrenen löst sich gewissermaßen in einem mehr oder weniger wild fluktuierenden, wechselhaften Strom psychischer Funktionen auf.

In Japan wurde in den vergangenen Jahren die alte, wörtliche Übersetzung des Begriffs Schizophrenie durch einen neuen Terminus ersetzt, der durch Integrationsstörung zurückübersetzt werden kann und einen ganz analogen Gedanken ausdrückt: Die psychischen Teilfunktionen des Betroffenen werden nicht mehr zu einem nachvollziehbaren, personalen Ganzen integriert.

In Südkorea wurde in den letzten Jahren ebenfalls ein neuer Begriff für die Schizophrenie eingeführt, der sich als Einstimmungsstörung übersetzen lässt und eine neue Metapher ins Spiel bringt: Hier geht es darum, dass die Hirnströme (bzw. die psychischen Funktionen) des Patienten nicht aufeinander ab- bzw. eingestimmt sind und daher kein harmonisches Resultat wie beim Gesunden bilden, sondern eher einem verstimmten, disharmonischen, kakophonen, atonalen Zufallsgewirr gleichen.

Kehren wir nun zu der Frage zurück, ob jeder Mensch latent schizophren ist, bzw. ob es einen Zug in der menschlichen Natur gibt, der etwas latent Schizophrenes hat. Ich möchte sagen, dass dies in der Tat der Fall ist: Dieser latent schizophrene Zug lässt sich in der Denkfähigkeit des Menschen beobachten. 

Hannah Arendt und das Denken als temporäre Spaltung des Geistes

In ihrem letzten Werk Vom Denken des Geistes bestimmt Arendt in Anknüpfung an Sokrates bzw. Platon das Denken als „das stumme Zwiegespräch ‚eme emauto‘, zwischen mir und mir selbst“ (Vom Leben des Geistes, S. 184). Wenn der Mensch sich aus seinen Alltagsgeschäften zurückzieht, um sich im Geiste dem Denken zu widmen, so spricht er demnach stumm mit sich selbst, er spaltet sich also gewissermaßen auf in Fragenden und Antwortenden, um den Dingen der Alltagswelt auf den Grund zu gehen.

Meines Erachtens ist das eine sehr modellhafte Beschreibung des Denkvorgangs, die jedenfalls meine eigenen Erfahrungen als Denkender phänomenologisch nicht adäquat trifft. Es kann natürlich daran liegen, dass ich als Betroffener einer schizophrenen Episode von Natur aus gänzlich anders denke als der Durchschnittsmensch oder Ausnahmephilosoph wie Arendt oder Platon. Aber wenn ich meine eigenen Denkerfahrungen beschreiben müsste, dann würde ich eher ein kakophones Zufallsgewirr chaotischer Gedankenfetzen skizzieren wollen als ein gesittetes, nachvollziehbares Frage-Antwort-Gespräch zweier gebildeter Personen.

Nota bene: Ich unterscheide hier zwischen dem rein mentalen Denkvorgang und dem (psycho-)physischen Akt des Schreibens eines philosophischen Textes. Will man letzteres als Denken bezeichnen, so würde „stummes Zwiegespräch“ meine Erfahrungen ganz gut beschreiben – allerdings mit der Ausnahme, dass ich während des Schreibens zu keiner Zeit Zuhörer und Redner in einem bin. Ich bin vielmehr in einer ersten Phase einzig und allein Redner, der manchmal ins Stocken gerät und vielleicht seine vorherigen Worte revidiert, aber im Großen und Ganzen weder durch Kritik gestört wird noch gestört werden will: In der ersten Phase geht es einfach darum, den Redner so klar wie möglich das sagen zu lassen, was er sagen will. Erst im Nachgang des Schreibens werde ich in einer zweiten Phase als Redakteur meiner eigenen Schrift zum Zuhörer meiner bereits rednerisch geordneten Gedanken und kritisiere, hake nach, formuliere um, und so weiter.

Kehren wir dennoch zurück zu Arendts Gedanken, dass sich der Geist beim Denken aufspaltet, wobei ich in Ermangelung eines Vergleichsmaßstabs meine eigene Phänomenologie ernst nehmen möchte, dass der Denkvorgang einem disharmonischen Stimmengewirr gleicht, in das ich als Denkender eine Ordnung zu bringen versuche. Für unsere Frage, ob der Mensch latent schizophren sein könnte, ist nun Arendts folgender Gedanke äußerst interessant:

„Doch wiederum ist es nicht die Denktätigkeit, die die Einheit stiftet, die die Zwei-in-einem wieder zu Einem werden läßt; im Gegenteil, das geschieht, wenn die Außenwelt auf den Denker eindringt und den Denkvorgang unterbricht. Dann wird er bei seinem Namen in die Erscheinungswelt zurückgerufen, wo er immer Einer ist; es ist, als führen die zwei Teile, in die ihn das Denken geführt hat, wieder zusammen.“

Vom Leben des Geistes, S. 184

Ich bin daher versucht, die folgende These aufzustellen: Jeder Mensch ist als Denkender in einem Zustand der latenten Schizophrenie, insofern sein Denkvorgang einem mehr oder weniger zufälligen Stimmengewirr gleicht. Aus diesem Zustand der latenten Schizophrenie kann er sich nicht denkerisch herausreißen: Es ist vielmehr die Außenwelt, die ihn aus der Zersplitterung des Geistes herausholt – oder der Denker holt sich selbst heraus, indem er beginnt zu handeln und damit das Denken unterbricht.

Vom latent schizophrenen Allerweltsdenker unterscheidet sich der manifest Schizophrene vielleicht dadurch, dass die Grenzen zwischen Innenwelt und Außenwelt bei Letzterem brüchig werden. Zum einen bricht seine latent schizophrene Innenwelt ungefiltert nach Außen, insofern seine geäußerten Gedanken für andere keinen nachvollziehbaren Sinn ergeben. Zum anderen scheint es bei einer manifesten Schizophrenie häufig zu einer Projektion der Innenwelt nach außen zu kommen, man denke bspw. an Halluzinationen oder Wahnvorstellungen.

Man könnte diesen Zusammenhang auch so formulieren, dass ein gesunder Mensch gewöhnlich über diverse automatische Filter verfügt, die zwischen Innenwelt und Außenwelt installiert sind. Beispielsweise wird nicht jeder innere Impuls oder jeder Gedanke umgehend in eine äußere Handlung umgesetzt; umgekehrt wird nicht jeder äußere Impuls unbedingt als Gedankenanstoß aufgenommen oder überhaupt nur zur Kenntnis genommen. Des Weiteren kann ein gesunder Mensch von einem gewissen Bewusstseinsinhalt normalerweise problemlos sagen, ob er aus der Innenwelt oder der Außenwelt herstammt: Auch hier gibt es anscheinend gewisse Filter, die dafür sorgen, dass Bewusstseinsinhalte aus dem einen Bereich nicht in den anderen hinüberschwappen.

In dieser Sprache käme es bei einer manifesten Schizophrenie zu einem Betriebsausfall dieser automatischen Filter: Reize aus der Außenwelt werden instantan in Gedanken umgesetzt, Gedanken wiederum instantan in Handlungen, und die Grenzen zwischen Innenwelt und Außenwelt verschwimmen für den Betroffenen so stark, dass es der Außenwelt nicht mehr gelingen kann, ihn aus seiner schizophrenen Zersplitterung herauszuholen, weil die Außenwelt selbst aus seiner Sicht Teil seiner Innenwelt geworden ist und umgekehrt.

Kurz zusammengefasst lautet also meine These: Der manifest Schizophrene zeichnet sich dadurch aus, dass sein Denkvorgang – der wie bei jedem Menschen latent schizophren ist – in der Außenwelt manifest wird, weil er im Gegensatz zu den Denkvorgängen bei gesunden Menschen niemals abbricht, selbst wenn der manifest Schizophrene zu handeln beginnt. Der manifest Schizophrene kann demnach einfach nicht aufhören zu denken, was daran liegen könnte, dass für ihn Innenwelt und Außenwelt nicht mehr klar zu trennen sind: Er hält sich stets in beiden Welten zugleich auf und lebt daher in einem dauernden Zustand des schizophrenen Stimmenchaos, das sich letztlich auch in seinen erratischen Handlungen niederschlägt.

Denken als Kollektivphänomen bei Ludwik Fleck

Aber was passiert eigentlich, wenn wir denken? Spalten wir unseren Geist in Fragenden und Antwortenden auf? Lauschen wir unseren inneren Stimmen? Sprechen wir zu einem imaginären Publikum? In seinem Werk Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache erwägt Ludwik Fleck die faszinierende Möglichkeit, dass wir unser Denken vielleicht besser verstehen würden, wenn wir es nicht als rein individuelle Tätigkeit auffassen, sondern auch oder sogar vor allem als kollektive Tätigkeit. Das folgende Zitat des Juristen und Soziologen Ludwig Gumplowicz bringt diese Auffassung auf den Punkt:

„Der größte Irrtum der individualistischen Psychologie ist die Annahme, der Mensch denke. Aus diesem Irrtum ergibt sich dann das ewige Suchen der Quelle des Denkens im Individuum und der Ursachen, warum er so und nicht anders denke, woran dann die Theologen und Philosophen Betrachtungen darüber knüpfen oder gar Ratschläge erteilen, wie der Mensch denken solle. Es ist dies eine Kette von Irrtümern. Denn erstens, was im Mensch denkt, das ist gar nicht er, sondern seine soziale Gemeinschaft. Die Quelle seines Denkens liegt gar nicht in ihm, sondern in der sozialen Umwelt, in der er lebt, in der sozialen Atmosphäre, in der er atmet, und er kann nicht anders denken als so, wie es aus den in seinem Hirn sich konzentrierenden Einflüssen der ihn umgebenden sozialen Umwelt mit Notwendigkeit sich ergibt.“

Zitiert nach Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, S. 63-64.

Demzufolge ist das, was wir individuell als Denken wahrnehmen, in Wahrheit nur ein bruchstückhafter Ausschnitt eines Vorgangs, den wir besser als kollektive Tätigkeit verstehen sollten. Was beim Denken vor sich geht, lässt sich demnach nur vor dem Hintergrund der Denkkollektive verstehen, in die wir eingebunden sind – und insofern einerseits die Denkkollektive in Individuen aufgespalten sind und wir andererseits gleichzeitig in mehrere distinkte Denkkollektive eingebunden sind, ist es nicht verwunderlich, dass das Denken phänomenologisch einem chaotischen Stimmengewirr gleicht, in welches wir eine Ordnung zu bringen versuchen.

Worin ich Gumplowicz allerdings nicht zustimmen würde, ist seine typisch soziologische und mechanistische Insistenz auf der Notwendigkeit des Denkvorgangs, dass also die soziale(n) Gemeinschaft(en) des Menschen bereits festlegen, wie der Mensch denkt.

Erstens scheint mir wiederum phänomenologisch das Denken eben nicht eine rein deterministische Sache zu sein – ich erlebe es wie gesagt eher als ein zufälliges Gewirr an Stimmen, in das ich eine Ordnung zu bringen versuche. Ich würde zweifellos zugestehen, dass die sozialen Gemeinschaften, denen ich mich zugehörig fühle, einen gehörigen Einfluss haben; beispielsweise werden einige Stimmen lauter sein oder sich häufiger Gehör verschaffen als andere. Aber alles in allem halte ich meine Gedanken für zu wenig stringent oder auch nur nachvollziehbar, als dass ich eine Determiniertheit meiner Gedanken für phänomenologisch plausibel halten würde.

Zweitens scheint mir die Behauptung, ich könne gar nicht anders denkenals so, wie es sich aus meinen durch meine soziale Umwelt determinierten Hirnströmen ergibt, ein unbeabsichtigter Rückfall in das individualpsychologische Denken zu sein, das er im selben Absatzso vehement kritisiert hat: Nämlich in die Annahme, dass ich es bin, der denkt. Wenn es aber die soziale Gemeinschaft ist, die denkt, dann ist seine Aussage noch nicht einmal falsch: Sie ergibt überhaupt keinen Sinn.

Drittens scheinen mir die wissenschaftlichen Revolutionen der Vergangenheit aus der Annahme der Vorherbestimmtheit allen Denkens nicht nur a priori unwahrscheinlich zu sein, sondern eigentlich schon unmöglich: Denn viele dieser Revolutionen zeichneten sich dadurch aus, dass eingeschliffene Denkmuster radikal verlassen und genuin neue Denkstile geprägt wurden – und zwar häufig auf der Grundlage individueller denkerischer Höchstleistungen.

Selbst wenn wir also zugestehen, dass die Annahme des Denkens als rein individuelle Tätigkeit eine Verkürzung sein sollte, so ist die Annahme des Denkens als rein kollektive Tätigkeit meines Erachtens ebenfalls eine Verkürzung. Erstens ist im Allgemeinen nicht klar definierbar, welches Kollektiv da in uns denken soll: Wir alle sind ja Mitglieder mehrerer (Denk-)Kollektive, und insofern werden sich in den allermeisten Denkvorgängen, die normalerweise keine fachwissenschaftlichen Ziele verfolgen, mehrere Denkkollektive zugleich geltend machen – oder es jedenfalls versuchen. Und es verlangt ein Individuum, den verschiedenen Kollektiven Raum zu geben, zwischen ihnen zu schlichten, und so weiter.

Zweitens fällt bei der kollektiven Betrachtungsweise unter den Tisch, dass das Individuum ein Mitspracherecht darüber hat, welchen Denkkollektiven es sich eigentlich anzuschließen gedenkt und welchen nicht. Ich bin nicht einfach bloßer Spielball der verschiedenen Denkkollektive, die sich in meinem Hirn austoben: Ich kann die Wortmeldungen der Kollektive billigen, verwerfen, weiterverfolgen, und so weiter.

Drittens verliert die kollektive Betrachtungsweise aus dem Blick, dass ich ein Teil der Denkkollektive bin, weshalb die Einflussrichtung keine Einbahnstraße ist: So wie die Denkkollektive Einfluss auf mein Denken nehmen, so kann umgekehrt mein Denken als einzigartige Schnittmenge verschiedener Denkkollektive Einfluss auf die jeweiligen Denkkollektive nehmen, indem ich meine (ggf. abweichenden) Gedanken in den entsprechenden Denkkollektiven äußere. Aber ob ich meine (ggf. abweichenden) Gedanken überhaupt äußere oder die Abweichung zum Anlass nehme, mich vom Denkkollektiv zu trennen, liegt wiederum in meiner Hand und nicht in der Hand der Kollektive.

Kurzum: Individuelle und kollektive Denkvorgänge sind möglicherweise dialektisch durcheinander vermittelt: Was im Individuum vor sich geht verstehen wir nur vor dem Hintergrund der Kollektive, in die das Individuum eingebettet ist – und das Wirken der Kollektive verstehen wir nur vor dem Hintergrund der Individuen, aus denen sich die Kollektive zusammensetzen. Keine kollektiven Gedanken ohne individuelle Gedanken – und keine individuellen Gedanken ohne kollektive Gedanken.

Vielleicht hat Hegel so etwas in der Art gemeint, als er den Geist als die Einheit „verschiedener für sich seiender Selbstbewußtsein“ ausgesprochen hat; als „Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist“. (Phänomenologie des Geistes, „IV. Die Wahrheit der Gewißheit seiner selbst“, letzter Absatz.) Und vielleicht spiegelt sich dieses seltsame Ich-Wir-Phänomen des Denkens auch in der biblischen Schöpfungsgeschichte, wo ausgerechnet bei der Erschaffung des Menschen als Bild Gottes die Singular- und Pluralformen merkwürdig schillern (vgl. Genesis 1, 26-30) – ein Phänomen, das im Übrigen auch im Koran immer wieder auftaucht, wo Gott von sich selbst ebenfalls manchmal im Singular, manchmal im Plural spricht.  

Die Vernunft als vereinheitlichende Kraft des gespaltenen Geistes

Um wieder auf die Schizophrenie zurückzukommen, so haben wir oben bereits gesehen, dass die übliche Beschreibung der wesentlichen Symptomatik auf der geistigen Ebene darauf hinausläuft, den Geist des Patienten als ein zusammenhangloses Nebeneinander der psychischen Funktionen zu charakterisieren – doch es ist soweit ich weiß völlig unklar, wodurch die Einheit der psychischen Funktionen im Normalfall überhaupt gestiftet wird. Was macht eine Mannigfaltigkeit psychischer Funktionen zu einem Ich? Und was macht, auf einer anderen Ebene, eine Mannigfaltigkeit von Individuen zu einem Wir?

Diese Fragen sind äußerst trickreich, aber ich denke, dass man wiederum mit Hannah Arendt einen wichtigen Schritt in Richtung ihrer Beantwortung wagen kann. In einem früheren Blogeintrag habe ich bereits Hannah Arendts Bestimmung der Vernunft thematisiert, wonach es der Vernunft wesentlich darum zu tun ist, den Vorgängen in der Welt einen Sinn abzugewinnen – im Unterschied zum Verstand, dem es darum geht, Wahrheit und Erkenntnis über die Welt zu generieren.

Wenn wir nun mithilfe des Verstandes der Frage nachgehen, warum normale Menschen im Unterschied zu schizophrenen Menschen ein einheitliches Ich haben, werden wir möglicherweise gar kein Problem entdecken: Denn es ist doch unbestritten, dass auch der Schizophrene im Regelfall mit dem Wort „Ich“ auf sich selbst Bezug nehmen wird, und dass er zudem bewusste Erlebnisse aus einer Ich-Perspektive hat. In einem schwachen Sinne muss man also auch beim Schizophrenen von einem Ich sprechen – und im Sinne der geistigen Arbeitsteilung steht es dem Verstand gar nicht zu, einen stärkeren Ich-Begriff in Anschlag zu bringen.

Was wir aber meinen, wenn wir dem Schizophrenen einen gespaltenen Geist im Sinne eines verworrenen Nebeneinanders psychischer Funktionen attestieren, ist doch vielmehr, dass seine Gedanken und Handlungen für uns keinen Sinn ergeben – wir unterstellen also implizit, dass ein Ich in einem starken Sinn jemand ist, der sich auf nachvollziehbare, sinnvolle Weise in seiner Umwelt bewegt und mit ihr interagiert. Insofern der Schizophrene jemand ist, dem seine eigenen erratischen Gedanken und Handlungen sinnvoll erscheinen, könnten wir also sagen, dass er einen krankhaften Mangel an Vernunft an den Tag legt: Was ihm fehlt ist das Vermögen, seinen eigenen Handlungen und Gedanken einen Sinn zu verleihen, und dieses Vermögen ist ebenjene Vernunft im Arendtschen Sinne.

Insofern die Vernunft im Arendtschen Sinne aber gerade das Denkvermögen bezeichnet und es also die Vernunft ist, mit der wir Ordnung und Sinn in unsere verworrenen und chaotischen Gedankensplitter bringen, müssen wir unsere obige Auffassung, dass der Schizophrene nicht aufhören kann zu denken, etwas revidieren: Der Schizophrene fängt im Gegenteil nicht an zu denken, oder er kann vielmehr nicht denken, weil ihm entweder die Vernunft zum Denken fehlt oder weil ihn seine Vernunft fälschlicherweise glauben lässt, dass seine ungeordneten Gedankensplitter bereits einen Sinn ergeben.

Um zurück zur Ausgangsfrage zu kommen, ob der Mensch von Natur aus latent schizophren ist, lautet meine These also: Jeder Mensch ist insofern latent schizophren, als sein natürlicher Denkprozess im Wesentlichen dem verworrenen und chaotischen Stimmenmeer des Schizophrenen ähnelt – doch dieser Zustand der latenten Schizophrenie wird im Normalfall verdeckt durch sein Vermögen der Vernunft, diesem Stimmenmeer einen allgemein nachvollziehbaren Sinn abzugewinnen und erst diesen allgemein nachvollziehbaren Sinn der Außenwelt mitzuteilen.

Beim Schizophrenen fällt dieses Vernunftvermögen aus: Seine Vernunft erkennt das gesamte assoziative Stimmenmeer ungeprüft als sinnvoll an, weshalb der Schizophrene seine Außenwelt auch ohne innere Hemmung an diesem mentalen Chaos teilhaben lässt. (Wenn der Schizophrene nicht gerade paranoid ist und glaubt, dass jedes geäußerte Wort gegen ihn verwendet werden wird…)

Das Besondere am Schizophrenen ist also nicht, dass sein Geist gespalten ist – denn wir alle können eines gespaltenen Geistes gewahr werden, wenn wir genau auf die Phänomenologie unseres Denkprozesses Acht geben. Das Besondere am Schizophrenen ist, dass er diese Spaltung nicht denkerisch heilen kann, weil ihm seine Vernunft eine Sinnhaftigkeit des mentalen Chaos vorgaukelt.

Insofern nun das mentale gedankliche Chaos der Normalzustand des Menschen ist, und insofern ein besonderes Vermögen benötigt wird, um dieses gedankliche Chaos in geordnete Bahnen zu bringen, ist es nicht mehr überraschend, dass es eine Krankheit wie die Schizophrenie gibt – zumindest dann nicht, wenn man von der ausnahmslosen Gültigkeit von Murphys Gesetz überzeugt ist: Alles, was kaputt gehen kann, geht bisweilen auch kaputt – im Falle des Schizophrenen das Vernunftvermögen, sinnvoll von sinnlos zu unterscheiden.

Das soll die Schizophrenie nicht verharmlosen – im Gegenteil ist die Krankheit äußerst schwerwiegend! Ich wollte lediglich aufzeigen, dass die Schizophrenie im Sinne von Murphys Gesetz eine erwartbare Abweichung vom Normalfall darstellt – und dass der Grat zwischen Normalität und Schizophrenie möglicherweise schmaler ist, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag.

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