In den letzten Tagen habe ich mich mit Dietmar Hübners Werk Was uns frei macht beschäftigt, das mir ausgesprochen gut gefallen hat. Das bedeutet nicht, dass ich mit dem Verfasser einer Meinung bin – das ist nicht der Fall. Aber es hat zum eigenen Nachdenken angeregt, was mehr ist, als man von vielen anderen Büchern erwarten kann. Entsprechend werde ich mich heute und in den nächsten Tagen mit dem Buch auseinandersetzen, um mir über meine eigenen Gedanken klarer zu werden. Ich beginne mit einer Rekonstruktion dessen, wie Hübner das Gebiet der Willensfreiheitsdebatte absteckt.
Welche Positionen gibt es in der Willensfreiheitsdebatte?
Die klassischen Abgrenzungen
In der Willensfreiheitsdebatte geht es im Allgemeinen darum, ob es so etwas wie Willensfreiheit gibt oder geben kann. Was die Existenz der Willensfreiheit in Zweifel zieht ist vor allem die These des Determinismus: Diese besagt, dass der Zustand des Universums zu einem Zeitpunkt t alle zukünftigen Zustände des Universums mit Notwendigkeit determiniert, also vorherbestimmt.
Angenommen, der Determinismus ist wahr. Dann legt der Zustand des Universums zum jetzigen Zeitpunkt eindeutig fest, in welchen Zuständen sich das Universum in der Zukunft befinden wird. Nun bin ich selbst aber offensichtlich ein Teil des Universums. Also legt der Zustand des Universums zum jetzigen Zeitpunkt insbesondere fest, in welchen Zuständen ich mich in der Zukunft befinden werde. Insbesondere ist bereits festgelegt, welche Handlungen ich vollziehen und welche Entscheidungen ich treffen werde. Das scheint auf den ersten Blick die Existenz von Willensfreiheit in Frage zu stellen – denn welche Entscheidungsfreiheit habe ich, wenn meine zukünftigen Entscheidungen schon jetzt vorherbestimmt sind?
So gelangen wir zur These des Inkompatibilismus: Diese besagt, dass die Existenz von Willensfreiheit mit der These des Determinismus inkompatibel ist. Wenn die Welt deterministisch verfasst ist, kann es demnach keine Willensfreiheit geben.
Unter den Inkompatibilisten gibt es zwei Lager: Die sogenannten harten Inkompatibilisten sind diejenigen, die Determinismus und Inkompatibilismus vertreten: Die Welt ist deterministisch verfasst, in einer deterministischen Welt kann es keinen freien Willen geben, also gibt es keinen freien Willen. Die sogenannten weichen Inkompatibilisten oder Libertarier gehen demgegenüber davon aus, dass der Determinismus falsch ist und es deshalb auch Willensfreiheit geben kann.
Man muss aber in der Willensfreiheitsdebatte kein Inkompatibilist sein – im Gegenteil ist die relative Mehrheit der philosophischen Gemeinschaft im Lager der Kompatibilisten zu finden. Kompatibilismus besagt, dass das Bestehen einer deterministischen Welt mit der Existenz von Willensfreiheit in Einklang zu bringen ist. Der Determinismus stellt demnach die Existenz von Willensfreiheit nur auf den ersten Blick in Frage: Genaueres Nachdenken und eine geeignete Definition von Willensfreiheit zeigen, dass Determinismus und Willensfreiheit miteinander verträglich sind. Ob Kompatibilisten darüber hinaus Deterministen oder Indeterministen sind, spielt für die Willensfreiheitsdebatte dann keine Rolle mehr: Die Willensfreiheit ist so oder so gerettet.
Man sieht sofort, dass das Feld der Willensfreiheitsdebatte durch diese klassische Abgrenzung vollständig abgesteckt ist: Ich kann Kompatibilist oder Inkompatibilist sein – tertium non datur. Und ich kann harter oder weicher Inkompatibilist sein – tertium non datur. Das macht die klassische Abgrenzung äußerst praktisch, da sie eine schnelle Orientierung über den Ansatz des entsprechenden Philosophen bietet.
Meine Position in der klassischen Willensfreiheitsdebatte
So oft und ausgiebig ich auch über Willensfreiheit nachdenke und so viele kompatibilistische Positionen ich mir auch angeschaut habe – an meiner ursprünglichen Intuition wurde nie gerüttelt: In einer deterministischen Welt sind alle meine Handlungen und Entscheidungen vorherbestimmt, also habe ich keine Willensfreiheit im eigentlichen Sinn des Wortes. Dementsprechend ließen die vorgebrachten kompatibilistischen Definitionen von Willensfreiheit aus meiner Sicht immer zu wünschen übrig: Sie fingen nie das ein, was ich unter Willensfreiheit verstehe. Ich bin also Inkompatibilist: Willensfreiheit und Determinismus scheinen mir miteinander unvereinbar zu sein.
Darüber hinaus bin ich der Ansicht, dass die Quantenphysik die These des Determinismus äußerst unplausibel gemacht hat: Der Zustand des Universums zum jetzigen Zeitpunkt legt eben nicht fest, in welchen Zuständen sich das Universum in der Zukunft befinden wird. Das gilt bereits auf der Ebene der Elementarteilchen, und zieht sich vermutlich bis in den Bereich der Lebewesen durch. Ich bin also ein weicher Inkompatibilist oder Libertarier: Ich glaube, dass es in der Welt, so wie sie beschaffen ist, Willensfreiheit geben kann.
Genauer halte ich die Willensfreiheit eines Lebewesens für seine Fähigkeit zur Modifikation seines Handlungsspielraums. Eine kurze Erläuterung dieser Definition findet man hier.
Meine Abgrenzungen der Willensfreiheitsdebatte
Da die These des Determinismus aus meiner Sicht seit den bahnbrechenden Ergebnissen der Quantenphysik im letzten Jahrhundert auf den Müllhaufen der Geschichte gehört, halte ich die klassischen Abgrenzungen für fraglich. Die wirklich drängende Frage ist nicht mehr, ob Willensfreiheit mit dem Determinismus vereinbar ist. Eine drängendere Frage ist, ob Willensfreiheit mit Indeterminismus vereinbar ist, oder genauer: Ob Willensfreiheit mit den Zufallsgesetzen der Quantenphysik vereinbar ist.
Aber das ist nicht die einzige Frage. Es lässt sich auch fragen, ob Willensfreiheit angesichts genetischer, erzieherischer oder soziologischer Prägung eines Individuums überhaupt möglich ist. Ein Beispiel: Zeynep wurde streng islamisch erzogen und trägt seit dem 12. Lebensjahr ein Kopftuch. Ist es ihr im Verlauf ihres Lebens möglich, das Kopftuch abzulegen? Oder ist die frühkindliche Prägung so durchgreifend, dass in diesem Fall keine freie Entscheidung mehr möglich ist?
Zu guter Letzt lässt sich auch fragen, ob Willensfreiheit angesichts neurowissenschaftlicher Erkenntnisse überhaupt möglich ist. Schließlich gab es bereits 1979 das Libet-Experiment, aus dem bisweilen der Schluss gezogen wurde, dass das Gehirn bereits eine Handlung angebahnt hat, bevor sich das Subjekt bewusst für diese Handlung entschieden hat. Wenn dieser experimentelle Befund zutreffend und verallgemeinerbar ist, zieht auch er die Existenz von Willensfreiheit in Frage: Willensfreiheit wäre nicht mehr als eine Illusion.
Wir können also allgemeiner fragen: Ist die Idee der Willensfreiheit kompatibel mit dem aktuellen Stand der Wissenschaft? Kompatibilisten würden sagen: Ja. Inkompatibilisten würden sagen: Nein. Und unter den Inkompatibilisten gäbe es wiederum zwei Lager: Die einen, harte Inkompatibilisten, würden sagen, dass es angesichts des aktuellen Standes der Wissenschaft keinen freien Willen geben kann. Die anderen, weiche Inkompatibilisten würden sagen, dass es trotzdem Willensfreiheit geben kann.
Eine Möglichkeit, Libertarier in meinem Sinne zu sein, wäre die Annahme einer handlungswirksamen menschlichen Seele: Diese sprengt den wissenschaftlichen Bereich, da ihre Existenz nicht empirisch überprüfbar ist, und sorgt durch ihr Eingreifen dafür, dass Willensfreiheit möglich ist.
Meine Position innerhalb meiner Abgrenzung der Willensfreiheitsdebatte
Wenn man die Debatte so abgrenzt, wie ich das getan habe, dann bin ich nicht mehr weicher Inkompatibilist, sondern Kompatibilist: Ich glaube, dass die Idee der Willensfreiheit kompatibel mit dem aktuellen Stand der Wissenschaft ist, und dass mithin kein Konzept der Seele nötig ist, um Willensfreiheit verständlich zu machen. (Die Annahme einer den Körper bewegenden Seele kann allerdings pragmatisch durchaus von Nutzen sein.) Ich denke auch nicht, dass meine Konzeption von Willensfreiheit von empirischer Wissenschaft jemals belegt oder widerlegt werden könnte.
Trotzdem ist nach meiner Abgrenzung die Willensfreiheitsdebatte prinzipiell unabschließbar, denn der aktuelle Stand der Wissenschaft verändert sich mit der Zeit: Es können prinzipiell stets neue Erkenntnisse gewonnen werden, die ihrerseits die Existenz von Willensfreiheit in Frage stellen. Für Philosophen gibt es also allemal immer etwas zu tun.
Hübners Abgrenzung der Willensfreiheitsdebatte
Kommen wir nun zu Hübners Abgrenzung der Willensfreiheitsdebatte, die sich von den hier bisher gegebenen Abgrenzungen unterscheidet. Kompatibilismus nach Hübner bezeichnet die These, dass Willensfreiheit und Kausalität miteinander vereinbar sind (vgl. S. 64; Hervorhebung von mir). Inkompatibilismus bezeichnet demgegenüber die These, dass Willensfreiheit und Kausalität einander widersprechen (ebd.).
Auch Hübner teilt den Bereich des Inkompatibilismus weiter ein: Determinismus besteht nach ihm in der These, dass es keine Freiheit gibt, „weil alle realen Geschehnisse einer lückenlosen Kausalität unterliegen“ (ebd.). Libertarismus besteht nach Hübner demgegenüber in der These, dass „Freiheit sehr wohl existiert, indem es zu geeigneten Unterbrechungen jener natürlichen Kausalität kommt“. (ebd.)
Aus meiner Sicht ist diese Einteilung eher unglücklich, da man nach Hübner nicht nur dann Determinist ist, wenn man eine tatsächlich deterministisch verfasste Natur voraussetzt, sondern auch dann, wenn man lediglich eine durchweg kausal strukturierte Natur annimmt. Letzteres schließt auch eine Strukturierung durch indeterministische kausale Prozesse mit ein, also solche, in denen eine Ursache ihre Wirkung nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zwischen 0 und 1 hervorruft (vgl. S. 43). Hierbei von Determinismus zu sprechen ist aber aus meiner Sicht überaus seltsam.
Diese Form der Abgrenzung führt auf der anderen Seite dazu, dass es viel schwieriger wird, ein Libertarier im Sinne Hübners zu sein: Ein Libertarier muss nun beispielsweise nicht nur annehmen, dass menschliches Entscheiden und Handeln willensfrei sein könne, weil es indeterministische Prozesse im Gehirn gibt: Er muss „darüber hinaus an jenen indeterminstischen Systemstellen eine Unterbrechung der Naturkausalität durch eine freie Instanz postulieren […] – die ihrerseits eben nicht nur der deterministischen Kausalität entzogen wäre, sondern über jeglicher Kausalität stünde“ (S. 66).
An einer früheren Stelle macht er die notwendigen Annahmen anhand eines konkreten Ansatzes explizit: „Erstens müsste das Gehirn auf allen relevanten Ebenen ein stochastisches Verhalten zeigen, zweitens müssten seine probabilistischen Zustandswechsel durch eine Beobachtung getriggert werden, drittens müsste das jeweilige Bewusstsein als nichtkausale Instanz außerhalb jener zufälligen Hirnprozesse stehen, und viertens müsste es gleichwohl die initiierende Beobachterrolle für deren Auslösung übernehmen“ (S. 55).
Aber selbst wenn man alle diese Annahmen als gültig zugesteht, wäre es mit den Zumutungen für den Libertarier nicht zu Ende: Er wäre vielmehr zusätzlich „gezwungen, Lücken im kausalen Geschehen zu postulieren, um den behaupteten Einfluss geltend zu machen. Schließlich muss er offenbar behaupten, dass jene nichtkausale freie Instanz sich nicht darauf beschränkt, eine probabilistische Entscheidung im Gehirn anzustoßen und dann sich selbst zu überlassen, sondern dass sie zudem in ihrem autonomen, selbstbestimmten Tun fähig ist, ein gewünschtes Ergebnis dieses Prozesses herbeizuführen. Dafür müsste sie aber die vorliegenden Wahrscheinlichkeitswerte verändern oder beiseitedrängen, wie sie durch die bestehenden Kausalbeziehungen hervorgebracht und wirksam werden, damit eben nicht einfach jener kausale Zufall herrscht und sein arbiträres Resultat erzeugt […], sondern stattdessen ihr autonomer Wille geschieht und das von ihr souverän Gewählte eintritt […]“ (ebd.).
Diese ganze Annahmenflut wird Hübner nun zu viel: „Dass aber eine nichtkausale Entität allein durch wollende Beobachtung imstande sein sollte, die inhärenten Parameter eines indeterministischen Systems, nämlich eben dessen Wahrscheinlichkeitswerte, zu manipulieren oder zu suspendieren, würde die relevanten Naturgesetze in nicht weniger dramatischer Weise untergraben, als wenn ein solches Wesen durch bloße Betrachtung die zentralen Kenngrößen eines deterministischen Systems, etwa dessen Kraftbeziehungen, steuern oder überschreiben könnte“ (S. 56, Hervorhebungen im Original).
Meine Position innerhalb Hübners Abgrenzung der Willensfreiheitsdebatte
Hier ist vielleicht mein Hauptproblem mit Hübners vorgenommener Neuvermessung der Willensfreiheitsdebatte: Ich habe einen klaren Lösungsvorschlag – der freie Wille eines Lebewesens ist seine Fähigkeit zur Modifikation des Handlungsspielraums – aber ich habe keine Ahnung, ob ich damit ein Kompatibilist in Hübners Sinne oder ein Libertarier in Hübners Sinne bin.
Der Knackpunkt liegt im Kausalitätsbegriff: Hübner zufolge ist Indeterminiertheit „gerade kein nichtkausales Phänomen, keine Alternative zu kausaler Bestimmung, geschweige denn die einzige: Zufälligkeit ist lediglich eine ontologische Variante von Kausalität, eine gleichberechtigte Form kausaler Beziehungen, neben der deterministischen Version derartiger Verbindungen“ (S. 53).
Das finde ich aber ziemlich schräg. Nehmen wir das Doppelspaltexperiment. Angenommen, ich habe den Versuch im Labor aufgebaut und starte das Experiment, indem ich ein Teilchen aus der Maschine abfeuere. Irgendwo prallt es auf und der Detektorschirm leuchtet an ebendieser Stelle. Was ist die Ursache für das Leuchten des Detektorschirms? Man kann natürlich sagen, dass die Ursache dafür eben das war, was ich angenommen habe: Aufbau und Start des Doppelspaltexperiments.
Aber das ist vielleicht nicht das, was wir erfragen wollten. Vielleicht wollten wir wissen: Warum leuchtet der Detektorschirm gerade hier und nicht woanders? Und auf diese Frage gibt es keine Antwort: Ist das Experiment erstmal aufgebaut und gestartet, muss das Teilchen irgendwo auf dem Detektorschirm aufprallen, und wir können sogar die Wahrscheinlichkeiten angeben, mit denen das Teilchen an bestimmten Orten auf dem Schirm aufprallt. Aber mehr können wir nicht sagen. Es herrscht König Zufall – und das heißt eben nichts anderes als: Es gibt keine Ursache dafür, dass das Teilchen gerade hier und nicht woanders aufgeprallt ist.
In diesem Sinne gibt es eine Lücke im kausalen Geschehen, auch wenn es in einem anderen Sinne keine Lücke im kausalen Geschehen gibt: Dass der Detektorschirm überhaupt aufleuchtet, hat schließlich wiederum eine Ursache, nämlich den Aufbau und den Start des Doppelspaltexperiments.
Wir sehen daher: Hübners Redeweise von „Lücken im kausalen Geschehen“ oder „Unterbrechungen der Naturkausalität“ ist nicht hinreichend klar. Gibt es im Doppelspaltexperiment Lücken im kausalen Geschehen bzw. Unterbrechungen der Naturkausalität oder gibt es sie nicht? Nach meinem Dafürhalten gibt es sie – nach Hübners Dafürhalten gibt es sie (möglicherweise) nicht.
Von dieser Frage hängt allerdings ab, ob ich ein Kompatibilist oder ein Libertarier bin. Wenn das Doppelspaltexperiment ein Beispiel für „lückenlose Kausalität“ im Sinne Hübners ist, dann bin ich ein Kompatibilist: Diese Form der „lückenlosen Kausalität“ ist meines Erachtens schwach genug, um doch noch eine Lücke für die Existenz des von meiner Willensfreiheitsdefinition benötigten Handlungsspielraumes zu finden.
Wenn Hübner allerdings sagen würde, dass es im Doppelspaltexperiment – und damit auf Quantenebene allgemein – „Lücken im kausalen Geschehen“ gibt, dann wäre ich eher Libertarier: Denn genau diese Lücken sind es, die es nach meinem Dafürhalten überhaupt erst möglich machen, von einem genuinen Handlungsspielraum von Lebewesen zu sprechen.
Fazit
In diesem Beitrag haben wir drei Arten gesehen, die möglichen Positionen in der Willensfreiheitsdebatte voneinander abzugrenzen. Hübners Art der Abgrenzung war mir persönlich neu – und lässt aus meiner Sicht die nötige Klarheit vermissen, weil gerade im Zusammenhang mit indeterministischen Vorgängen nicht genügend über den Begriff der „lückenlosen Kausalität“ reflektiert wurde. Ob meine Art der Abgrenzung der klassischen Art der Abgrenzung vorzuziehen ist, müssen andere entscheiden. Das Gebiet der Willensfreiheitsdebatte ist jetzt jedenfalls abgesteckt – und das gleich dreifach! 😉