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Philosophie Willensfreiheit

Was sind Gründe?

Ich setze heute meine Auseinandersetzung mit Dietmar Hübners Werk Was uns frei macht fort und komme zu dem, was uns laut Hübner tatsächlich frei macht, nämlich zu Gründen. Menschliches Handeln und Entscheiden ist Hübner zufolge willensfrei, wenn es zum einen von Gründen geleitet ist, und wenn zum anderen diese Gründe auch als Gründe bewusst sind. Bevor wir diesen Definitionsvorschlag Hübners unter die Lupe nehmen können, ist es allerdings ratsam, erst einmal die viel grundlegendere Frage zu klären, was Gründe nach Hübner überhaupt sind. Das soll in diesem Blogeintrag geschehen.

Gründe vs. Ursachen

Gründe und Ursachen haben eines gemeinsam: Auf sie wird in Antworten auf Warum-Fragen Bezug genommen. Ein typisches Beispiel für eine Warum-Frage nach einer Ursache lautet: Warum hat das Haus gebrannt? Antwort: Weil es einen Kurzschluss gab. Diese Antwort liefert eine Ursache für den Hausbrand, aber keinen Grund.

Umgangssprachlich sagt man vielleicht manchmal: „Der Grund für den Hausbrand war ein Kurzschluss im Sicherungskasten.“ Wenn wir aber an der Differenz von Grund und Ursache festhalten wollen, sollten wir sagen, dass diese umgangssprachliche Wendung falsch ist: Der Kurzschluss war kein Grund für den Hausbrand, sondern eine Ursache.

Ein anderes Beispiel kann den Unterschied zwischen Gründen und Ursachen erhellen. Angenommen, ich fange eine Fliege mit einem Glas ein und bringe sie ins Freie. Meine Tochter könnte fragen: „Warum hast du die Fliege eingefangen?“ Meine Antwort lautet: „Weil sie mich genervt hat.“ Diese Antwort benennt eine Ursache für meine Handlung, nämlich meinen Zustand des Genervtseins von der Fliege.

Meine Tochter ist aber unzufrieden mit der Antwort, weil sie nicht das geliefert hat, wonach sie gefragt hat. Daher fragt sie weiter: „Warum hast du die Fliege nicht einfach totgehauen?“ Meine Antwort lautet: „Weil jedes Leben schützenswert ist.“ Diese letztere Antwort liefert keine Ursache, sondern einen Grund. Die moralische Tatsache – wenn es eine Tatsache ist –, dass jedes Leben schützenswert ist, ist keine Ursache dafür, dass ich die Fliege nicht totgehauen habe. Moralische Tatsachen – wenn es so etwas wie moralische Tatsachen gibt – sind abstrakte Entitäten jenseits von Zeit und Raum.

Man kann aus diesem Grund aber problemlos eine Ursache dafür gewinnen, dass ich die Fliege nicht einfach totgehauen habe: Die Ursache war, dass ich davon überzeugt bin, dass jedes Leben schützenswert ist. Man kann sagen, dass diese Überzeugung eine psychophysische Manifestation des Grundes in der Welt ist. Es ist aber wichtig, diese Manifestation oder Repräsentation eines Grundes in der psychophysischen Welt von dem abstrakten Grund jenseits von Zeit und Raum zu unterscheiden.

Meine Tochter könnte nun weiterfragen: „Warum ist jedes Leben schützenswert?“ Hier wird schon offensichtlich nicht mehr nach Ursachen gefragt, sondern nach Gründen für Gründe. Ich könnte darauf beispielsweise antworten: „Weil dein Leben schützenswert ist und weil jedes Leben gleich viel zählt.“ Auch hier gibt meine Antwort keine Ursache an, sondern Gründe.

Man kann erneut den Unterschied zwischen Ursachen und Gründen verdeutlichen, wenn man das Beispiel variiert: Meine Tochter könnte beispielsweise fragen: „Warum glaubst du, dass jedes Leben schützenswert ist?“ In diesem Fall könnte man die Antwort geben: „Weil ich das in frühkindlicher Prägung von meinen Eltern und Großeltern mit auf den Weg bekommen habe.“ Diese Antwort liefert eine Ursache für meine Überzeugung. Aber sie würde meine Tochter vermutlich nicht so zufrieden stellen wie die Antwort „Weil dein Leben schützenswert ist und weil jedes Leben gleich viel zählt.“ – also die Antwort, die Gründe liefert und keine Ursachen.   

Alles was ich gegeben habe, sind Beispiele, um den Unterschied zwischen Ursachen und Gründen zu verdeutlichen. Man könnte nun weiter nach expliziten Begriffsbestimmungen fragen, also fragen: Was sind Gründe im Allgemeinen für Entitäten? Was sind Ursachen im Allgemeinen für Entitäten? Ich teile allerdings Hübners Skepsis, dass man wohl keine befriedigende Antwort auf diese Fragen findet: Sowohl Ursachen als auch Gründe sind möglicherweise für unser Denken so fundamentale Entitäten, dass sich keine nichtzirkulären Begriffsbestimmungen für sie geben lassen (vgl. S. 180). Wir müssen uns also vielleicht damit begnügen, möglichst einschlägige Beispiele zu geben, um so fundamentale Begriffe wie „Ursache“ oder „Grund“ zu erhellen. Ich hoffe, das ist mir im Ansatz gelungen.

Zentral für Hübner ist nun die Unterscheidung zwischen einer Überzeugung, dass ein Grund vorliegt, und dem Grund selbst, der vorliegt (oder nicht). Die Überzeugung, dass der Grund vorliegt, ist allemal eine Gegebenheit in der psychophysischen Realität und damit selbst Teil des kausalen Gefüges. Wir können also Ursachen für diese Überzeugung angeben, und die Überzeugung kann ihrerseits Ursache für andere Wirkungen, insbesondere für Handlungen, werden.

Der Grund selbst hingegen ist keine Gegebenheit in der psychophysischen Realität. Mit Hübners Worten: „Gründe als solche haben keine Dauer und keinen Ort, sie werden nicht verursacht und bewirken nichts – eben weil sie strikt verschieden sind von allem Physischen und Mentalen, von allem Psychischen oder auch Sozialen.“ (S. 145)

Hübner vertritt demnach einen „milden Platonismus der Gründe, der letztlich nicht mehr besagen will als: Es gibt Gründe (jedenfalls in dem schwachen Sinne von Entitäten, auf die wir mit wahren Gedanken und Aussagen referieren können), und Gründe sind nicht kausal (indem sie eine abstrakte Existenz jenseits des Materiellen aufweisen und zudem auch als solche von unserem Denken und Sprechen unabhängig sind). Für diesen milden Platonismus gilt insbesondere: Er betrifft alle Gründe […] und er erfasst auch schlechte Gründe […].“ (S. 192)

Fazit und Ausblick

In diesem Beitrag habe ich versucht, in aller Kürze den Unterschied zwischen Ursachen und Gründen herauszustreichen. Insbesondere haben wir gesehen, dass Gründe selbst abstrakte Entitäten jenseits von Zeit und Raum sind, während ihre Manifestationen bzw. Repräsentationen, beispielsweise in Überzeugungen, Teil des kausalen Gefüges von Ursache und Wirkung sind. Im nächsten Blogeintrag werde ich auf dieser Basis Hübners kompatibilistische Definition der Willensfreiheit vorstellen und kritisch untersuchen.

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