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Philosophie Willensfreiheit

Machen uns bewusste Gründe frei?

In diesem Blogeintrag bringe ich meine Auseinandersetzung mit Dietmar Hübners Werk Was uns frei macht zum Abschluss. Im letzten Blogeintrag habe ich dargelegt, was Hübner unter Gründen versteht. Auf dieser Grundlage können wir jetzt daran gehen, seinen Begriff der Willensfreiheit zu untersuchen.

Hübners Idee

Wie in einem früheren Blogeintrag dargelegt, optiert Hübner für eine kompatibilistische Position in der Willensfreiheitsdebatte, wobei Kompatibilismus in seinem Verständnis bedeutet, dass die Existenz von Willensfreiheit verträglich ist mit einer lückenlos kausal strukturierten Welt – insbesondere auch mit einer vollständig determinierten Welt.

Negative Freiheit vs. positive Freiheit

Seinen Begriff der Willensfreiheit gewinnt Hübner zum einen aus einer Analogie mit der Handlungsfreiheit. Dort spricht man von negativer Freiheit, wenn dem handelnden Subjekt metaphorisch gesprochen keine Steine im Weg liegen, also eine „Freiheit von fremden Beschränkungen oder sonstigen Vorgaben, die bloße Abwesenheit von Hindernissen und anderweitigen Einschränkungen“ (S. 24). Demgegenüber gibt es aber auch eine positive Freiheit, „das heißt die Freiheit zu eigenen Zielerreichungen aufgrund hinreichender Ressourcen, die tatsächliche Zugänglichkeit von Optionen angesichts geeigneter Ausstattungen“ (ebd.).

Bei Hübner wird Willensfreiheit analog darin bestehen, dass das Handeln willensfreier Subjekte nicht rein kausal erklärbar ist (negative Freiheit; Freiheit von rein kausaler Bestimmung), sondern auch autonome Anteile hat, die sich nicht rein kausal erklären lassen (positive Freiheit; Freiheit zu autonomer Selbstbestimmung) (vgl. S. 30).

Freiheit als Bestimmung durch Gründe

Die zweite Intuition, an die Hübner anschließt, ist die Vorstellung, dass freie Menschen solche sind, die aus Gründen handeln, während unfreie Menschen keinen Gründen folgen können „und somit Spielbälle oder Sklaven ihrer eigenen Instinkte und Triebe oder auch fremder Anweisungen und Vorgaben sind“ (S. 146). Wir haben aber bereits gesehen, dass Gründe als abstrakte Objekte außerhalb des kausalen Gefüges der materiellen Welt stehen. Unsere Autonomie können wir also dadurch erlangen, dass wir auf Gründe Bezug nehmen, die eben nicht kausal verfasst sind.

Willensfreiheit als Bestimmung durch bewusste Gründe

Hübner setzt nun diese beiden Ideen zusammen: Willensfreiheit besteht für ihn darin, dass man in seinen Handlungen bewussten Gründen folgt. Dabei ist für Hübner wichtig, dass die Gründe nicht bloß im handelnden Subjekt, bspw. als Überzeugungen, manifestiert sind, sondern sie müssen „in ihrer Nichtkausalität auch bewusst sein, damit von Willensfreiheit gesprochen werden kann.“ (S. 295) Dies liegt ihm zufolge daran, „dass erst ein Bewusstsein der Nichtkausalität der Gründe die Behauptung rechtfertigen kann, dass tatsächlich die Gründe selbst, und nicht allein ihre Repräsentationen, Wirksamkeit in der Welt haben.“ (ebd.)

Erläuterungen der Willensfreiheitsdefinition Hübners

Wie können nichtkausale Entitäten wirksam sein?

Wir haben bereits im letzten Blogeintrag festgestellt, dass zwischen Gründen und ihren Repräsentationen in Überzeugungen usw. unterschieden werden muss. Gründe sind abstrakte Entitäten und damit, als Entitäten außerhalb von Raum und Zeit, dem kausalen Gefüge der Welt entzogen. In Hübners Worten: „Gründe […] werden nicht verursacht und sie bewirken nichts [im kausalen Sinne, T.F. …].“ (S. 145)

Zugleich betont Hübner, dass es für seine Bestimmung der Willensfreiheit wichtig ist, dass Gründe doch eine gewisse Art von Wirkmächtigkeit haben, denn: „Freiheit stellt sich erst ein, wenn das Mentale, und damit auch das Physische, mit dem es ontologisch eins ist, Gründe bewusst erfasst und wenn die Handlung, und damit auch das Ereignis, mit dem sie ontologisch zusammenfällt, von diesen Gründen bestimmt wird.“ (S. 252)

Oder später im Text: „Nur hierin kann Willensfreiheit liegen: Gründe müssen ontologische Wirkmächtigkeit, müssen aktive Kraft in der realen Welt entfalten, um damit eine gleichrangige Alternative und Ergänzung zur ontologischen Wirkmächtigkeit der Naturkausalität zu liefern.“ (S. 280) Den „Widerspruch, einer ausdrücklich nichtkausalen Größe wie den Gründen eine ontologische Wirkmächtigkeit und Kraft zuschreiben zu wollen“, nennt er dabei nur „scheinbar“ (S. 281).

Wie Hübner diesen Widerspruch auflöst, liegt ziemlich auf der Hand: Gründe selbst sind zwar nichtkausale Entitäten, aber sie werden in der materiellen Welt durch geeignete Repräsentationen abgebildet. Diese Repräsentationen wiederum sind, als Teil der materiellen Welt, eingebunden in das kausale Gefüge von Ursache und Wirkung – und es lässt sich daher sagen, dass Gründe über ihre Repräsentationen Wirkmächtigkeit in der Welt erlangen. (vgl. S. 284)

Ich würde diese Idee der nichtkausalen Wirkmächtigkeit eines Grundes so formulieren: Ein Grund G bewirkt eine Handlung H, wenn G durch eine Repräsentation G‘ in der Welt abgebildet wird und G‘ eine Ursache von H ist. Ich denke, dass das Hübners Ansicht aus Kapitel VIII korrekt wiedergibt.

Wozu braucht man Bewusstsein?

Kehren wir aber zu Hübners obigem Vorschlag der Willensfreiheit zurück, so stellt er zweifelsfrei fest, dass „erst ein Bewusstsein der Nichtkausalität der Gründe die Behauptung rechtfertigen kann, dass tatsächlich diese Gründe selbst, und nicht allein ihre Repräsentationen, Wirksamkeit in der Welt haben.“ (S. 295) Wie kommt er darauf?

Hübner stellt das Problem wie folgt dar: „[W]enn Gründe allein über ihre Repräsentationen wirken, scheint alles Entscheiden und Handeln nach wie vor einzig von kausalen Strukturen abzuhängen: Das Begreifen der Gründe, das Anerkennen der Gründe, das Befolgen der Gründe, auch ihre Gewichtung, ihre Verknüpfung, ihre Abwägung wäre nur mehr ein kausales Geschehen von psychischen Prozessen, von sozialen Mechanismen, von neuronalen Abläufen. Dass diese kausalen Vorgänge ihrerseits nichtkausale Gebilde ‚repräsentieren‘ oder ‚abbilden‘, ändert nichts an diesem ontologischen Befund. Alle nichtkausale Beschaffenheit, die sich hierbei ausmachen lässt, bleibt augenscheinlich auf den Raum der Gründe selbst beschränkt. Das Entscheiden und Handeln hingegen, so mutet es an, unterliegt rein kausaler Bestimmung.“ (S. 300)

Es scheint nach meiner Lesart so zu sein, dass Hübner den Begriff der nichtkausalen Wirkmächtigkeit eines Grundes zu schwach findet, um Willensfreiheit begründen zu können. Das legt meines Erachtens nahe, dass er im Grunde seines Herzens eigentlich Inkompatibilist ist: Eine durchgängige Naturkausalität ist mit der Idee der Willensfreiheit unvereinbar. Dementsprechend dürfen nicht (allein) die Repräsentationen von Gründen kausal wirksam sein: Es müssen die Gründe selbst, aus ihrer ontologisch separaten, abstrakten Sphäre heraus, in den Lauf der Welt eingreifen können.

Kritik

Damit leiten wir über zu meiner Kritik an Hübners Ansatz: Abstrakte Objekte können nicht mehr Wirkmächtigkeit erlangen, als eine abgeleitete Wirkmächtigkeit über ihre Repräsentationen, Instantiierungen o.ä.: Sie sind eben nichtkausale Objekte jenseits von Zeit und Raum. Entsprechend verquast wird es, wenn Hübner versucht, sie doch irgendwie in die materielle Welt hineinzuschmuggeln:

„Ein Mensch kann sich der Gründe, denen er folgt, bewusst sein. Indem er sich in seinem Entscheiden und Handeln von ihnen bestimmen lässt, können ihm die Gründe seines Wollens und Tuns als solche gegenwärtig werden.“ (S. 304, Hervorhebung Hübner.) Auf dieser Grundlage lasse sich erstens behaupten, „dass der Mensch die Gründe selbst erfasst, wenn sie ihm in seinem Bewusstsein gegenwärtig sind, in ihrer ursprünglich nichtkausalen Wesenheit, als rationale Entitäten.“ (ebd., Hervorhebung Hübner.) Zweitens könne man vor diesem Hintergrund dafürhalten, „dass der Mensch in diesem Fall tatsächlich auch durch die Gründe selbst bestimmt wird, die über ihre Repräsentation in ihm wirken, da er sie als solche in ihrem Wesen erkennt, sie bewusst erschließt in ihrer Nichtkausalität. Anders als der Computer wird er nicht allein von den jeweils gegebenen Ursachen bestimmt, die jene Gründe darstellen, sie repräsentieren, sondern von den Gründen selbst, die ihn hierüber ansprechen, ihn erreichen.“ (S. 304-305, Hervorhebung Hübner)

An kaum einer anderen Stelle im gesamten Werk spricht Hübner so dunkel und unklar wie in diesen paar Sätzen. Was soll es heißen, dass mir ein Grund „in seiner ursprünglich nichtkausalen Wesenheit gegenwärtig“ wird? Soll es insbesondere heißen, dass ein Grund in die Zeit, nämlich die Gegenwart, hineintaucht? Das kann nicht statthaben: Gründe sind außerhalb von Raum und Zeit. Und warum werde ich „durch die Gründe selbst bestimmt“, wenn ich „sie als solche in ihrem Wesen erkenne, sie bewusst erschließe in ihrer Nichtkausalität“? Mal abgesehen davon, dass ich überhaupt nicht weiß, wie ich einen Grund in seiner Nichtkausalität bewusst erschließe.

Es scheint nach dem obigen Absatz so zu sein, dass es für Hübner eminent wichtig ist, Gründe in ihrer Nichtkausalität bewusst zu erschließen – ein Vorgang, der wohl bei kaum jemandem jemals vorgekommen ist. Und auch Hübner rudert an anderem Ort wieder zurück, denn: „Üblicherweise folgen wir in unserem Verhalten bewussten Gründen, mögen diese noch so primitiv oder rudimentär sein, indem sie etwa feststellen, dass uns bestimmte Neigungen, Abneigungen, Stimmungen, Launen etc. erfüllen, und uns dann sagen, wie wir damit umgehen dürfen oder sollen.“ (S. 353) Damit wurde die Messlatte für das Vorliegen bewusster Gründe wieder deutlich herabgesenkt – denn von einer Erschließung der Gründe selbst in ihrer Nichtkausalität ist hier nicht mehr die Rede.

Dafür – und dies ist vielleicht das Entscheidende – werden die Gründe selbst aktiv: Sie „stellen etwas fest“ oder „sagen“ uns etwas. Solcherart muss man sich wohl den Eingriff der abstrakten Gründe in das Kausalgeschehen vorstellen. Freilich können Gründe nichts feststellen und nichts sagen – sie haben keinen Mund. Aber es ist dieses aktive Element, das für Hübners Konzeption wichtig ist, sagt er doch an anderer Stelle, Gründe seien „rationale Strukturen“, die „über ihre kausalen Repräsentationen aktive Kraft ausüben können“. (S. 343)

Freilich bleibt äußerst unklar, weil metaphorisch, wie ein abstrakter Gegenstand jemals „aktiv“ werden kann. Entsprechend stimme ich Hübner nicht zu, dass „eine solche Konstruktion deutlich weniger gewagt [erscheint] als übliche libertaristische Modelle, die für ihre Deutung von Freiheit cartesianische Dualismen oder akteurskausale Schemata einführen“ (S. 343) Schließlich war Hübners Einwand gegen solche Modelle, dass sie Entitäten außerhalb des kausalen Geschehens einführen, die ihrerseits kausale Kraft entfalten können. Aber ich sehe nicht, worin demgegenüber der Vorteil liegen soll, Entitäten außerhalb von Raum und Zeit zu postulieren, die auf den raumzeitlichen Weltverlauf „aktive Kraft ausüben können“.

Allzumal – und damit endige ich meine Kritik – es seltsam ist, wie Hübner noch von Freiheit sprechen kann, wenn alle Handlungen und Entscheidungen durch kausale Festlegungen und zusätzlich durch Gründe festgelegt sind. Die ursprüngliche Intuition hinter der befreienden Kraft von Gründen ist klar und einleuchtend: Gründe befreien uns von unseren tierischen Instinkten und Trieben und eröffnen uns ein Feld höherer Zwecke als die der bloßen Fortpflanzung und Selbsterhaltung – ein bedenkenswert schönes Zusammenspiel von positiver und negativer Freiheit.

In Hübners Diktion sind Gründe hingegen zumeist Entitäten, die unser Handeln „bestimmen“. Ich möchte aber in meinem Handeln nicht durch Gründe bestimmt werden – ich möchte bestimmen, an welchen Gründen ich mein Handeln ausrichte. Letzteres läuft freilich auf einen Libertarismus hinaus – der scheint mir aber eben nach wie vor plausibler zu sein als ein Kompatibilismus Hübnerscher Spielart.

Fazit

Hiermit beende ich meine Serie über Dietmar Hübners Werk Was uns frei macht. Auch wenn er mich von seiner Position letztlich nicht überzeugen konnte, habe ich das Buch mit Genuss und – hoffentlich – auch mit Gewinn gelesen. Anderenfalls hätte ich mich nicht so lange damit aufgehalten. In diesem Sinne kann ich es durchaus weiterempfehlen – allerdings nur, wenn man wie ich Spaß daran hat, auch einmal auf einem Holzweg spazieren zu gehen.

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