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Philosophie

Wovor fürchten sich Philosoph:innen?

Ich habe kürzlich das kurze Büchlein Die Souveränität des Guten von Iris Murdoch gelesen, das alles in allem keinen sehr großen Eindruck auf mich hinterlassen hat. Es gibt allerdings einen Satz in dem Werk, der mir immer wieder im Kopf herumspukt – und es ist ausgerechnet eine Randnotiz in Klammern. Hier das Zitat im Kontext:

„Es ist in der Philosophie häufig schwer zu wissen, ob man gerade etwas einigermaßen Allgemeines und Objektives sagt oder ob man bloß eine dem eigenen Temperament entsprechende Barriere errichtet, in der Hoffnung, sich die eigenen Ängste vom Leib zu halten. (Es ist bei allen Philosoph:innen wichtig zu fragen, wovor sie sich fürchten.)“

Iris Murdoch: „Über ‚Gott‘ und ‚Gut‘“, in: Iris Murdoch: Die Souveränität des Guten, Suhrkamp, 2023, S. 88.

Ich glaube, dass diese Randnotiz und die Frage, wovor sich Philosoph:innen fürchten, tatsächlich einige bemerkenswerte Phänomene im Mainstream der analytischen Philosophie erhellen kann. Wovor fürchtet sich also das Gros der Philosoph:innen in der analytischen Philosophie?

Die Furcht vor der Unwissenschaftlichkeit

Es herrscht meines Erachtens eine weit verbreitete Furcht unter Philosoph:innen, in philosophischen Debatten als unwissenschaftlich zu gelten. Mit der analytischen Philosophie sind wir im Laufe der Zeit in ein zweites scholastisches Zeitalter eingetreten: War die scholastische Philosophie im Mittelalter die Magd der christlichen Religion, so ist die analytische Philosophie heute weithin die Magd der Wissenschaft.

Damit ist gemeint, dass die analytische Philosophie ihre Aufgabe häufig darin sieht, wissenschaftliches Denken mit dem Common Sense in Einklang zu bringen. Ein Beispiel ist die Willensfreiheitsdebatte: Neurowissenschaftler gehen von einer Determiniertheit unserer Handlungen durch das Gehirn aus, während der Common Sense auf die Existenz von Willensfreiheit pocht. Wie lässt sich beides zusammen denken? Die Mehrheit der Philosoph:innen ist der Auffassung, dass das geht und versucht, ihre kompatibilistischen Willensfreiheitsdefinitionen an den Mann zu bekommen.

Ein weiteres Beispiel ist die Ethik. Man könnte meinen, dass fundamentale Fragen der Ethik die folgenden sind: Was zeichnet einen guten Menschen aus? Wie können wir bessere Menschen werden? Wie soll ich handeln? All diese Fragen sind aber in den heutigen Debatten eher irrelevant. Relevant ist vielmehr die metaethische Frage, wie normative Begriffe überhaupt mit einem naturwissenschaftlichen, wertfreien Blick auf die Welt zu vereinen sind. Gibt es so etwas wie Werte oder Gründe überhaupt? Was sollen das für Entitäten sein? Wie können wir etwas darüber wissen?

Ein drittes Beispiel ist die Philosophie des Geistes. Dort wird man nur noch krasse Außenseiter finden, die über so etwas wie eine menschliche Seele sprechen. Das zentrale Thema ist vielmehr Bewusstsein – wie lässt sich Bewusstsein wissenschaftlich-materialistisch erklären? Zentrale Streitbegriffe sind die der Supervenienz und der Emergenz – ich möchte hier nicht ins Detail gehen. Als Dualist zu gelten ist fast schon ein Schimpfwort und verbietet sich quasi von selbst – großartige Argumente gegen den Dualismus bringt man jedenfalls meist nicht mehr bei. Es ist auch völlig unnötig, da das gemeinsame Fundament der aktuelle Stand der Wissenschaft ist – und wissenschaftlich betrachtet gibt es eben nur Materie und keinen Geist. Wer etwas anderes behauptet, ist nicht mehr als ein unzeitgemäßer Häretiker.

Aber es sind nicht nur die Debatteninhalte, die durch die Furcht vor der Unwissenschaftlichkeit geprägt sind: Die Furcht zeigt sich auch an der Form der Texte, genauer gesagt in ihrem Stil – wenn man in der analytischen Philosophie überhaupt von Stil sprechen kann. Die meisten Texte der analytischen Philosophie sind staubtrocken und ergehen sich in kleinteiligen Definitionen und Distinktionen, deren subtile Unterschiede und Feinheiten man sogleich wieder vergessen hat, wenn man das Buch zuklappt. Mir drängt sich dann immer der Gedanke auf: Wenn das die Wahrheit ist, will ich sie gar nicht wissen!

Ich kann mich selbst freilich nicht von dieser Furcht vor der Unwissenschaftlichkeit freisprechen – als Mathematiker und analytischer Philosoph habe ich diese Furcht sozusagen mit der universitären Muttermilch eingesogen. Ich hoffe trotzdem, dass ich zumindest ein bisschen interessanter schreibe als der Hauptstrom der analytischen Philosophie.

Wovor fürchte ich mich?

Wenn bei allen Philosoph:innen die Frage nach der Furcht eine wichtige Frage ist, stellt sie sich natürlich auch bei mir selbst. Wovor fürchte ich mich also?

Meine Furcht vor der Sinnlosigkeit des Lebens

Meine größte Furcht ist vermutlich die Furcht vor der allgemeinen Sinnlosigkeit des Daseins. Ich glaube zwar, dass ich aus irgendeinem Grund hier auf der Erde bin, dass ich irgendeine Aufgabe zu erfüllen habe oder dass mein Dasein einem übergeordneten Zweck dient. Aber ich befürchte, dass das nicht stimmt: Ich bin vielleicht einfach nur hier, weil meine Eltern mich bekommen haben, und wenn ich sterbe ist alles aus.

Meine größte Furcht wäre demnach, dass mein Leben eigentlich selbstzweckhaft ist und vor allem zum Genuss desselben da ist. In diesem Fall hätte ich nämlich mein Leben mit sinnlosem Kram wie Mathematikstudium und dem Wälzen analytisch-philosophischer Traktate verbracht und die Zeit besser in Netflix & Chill investiert. Ich hätte sozusagen den Sinn des Lebens verkannt, indem ich ihn in etwas gesucht hätte, was außerhalb des Vollzugs des Lebens ist – aber außerhalb des Lebensvollzugs ist eben nichts. Der Sinn des Lebens besteht im Vollzug des Lebens selbst – und das ist alles. So jedenfalls meine Furcht.

Meine Furcht vor der Wertlosigkeit der Dinge

Mit der Furcht vor der Sinnlosigkeit des Lebens eng verknüpft ist meine Furch vor der Wertlosigkeit der Dinge. Den Sinn des Lebens sehe ich darin, etwas zu erschaffen, was Wert hat – nämlich meine Texte. Aber vielleicht haben meine Texte keinen Wert. Vielleicht hat gar nichts einen Wert. Das ist meine zweite Furcht – weil ich auch in diesem Fall mein Leben vergeuden würde, indem ich einem Phantom nachjage.

Meine Furcht davor, nicht genug gelesen zu haben

Ich fürchte mich im Allgemeinen davor, nicht genügend über das Thema zu wissen, über das ich schreibe. Wenn ich mir Literaturverzeichnisse der Werke anderer Philosophen anschaue, so scheinen sie zu ihrem Thema oft dutzende Artikel und Bücher gelesen zu haben, was bei mir im Allgemeinen nicht der Fall ist – und wenn es doch der Fall ist, wie im Bereich der Willensfreiheit, so habe ich das allermeiste aus diesen Texten wieder vergessen beziehungsweise kann nicht mehr zuordnen, wo ich meine Gedanken herhabe.

Bestimmen meine Befürchtungen mein Denken?

Ich würde sagen, dass meine Befürchtungen zwar mein Denken bestimmen, aber nicht hinter meinem Rücken: Vielmehr interessiere ich mich für die Frage nach Sinn und Werthaftigkeit des Daseins und halte mir diese Fragen nicht einfach vom Leib, wie Murdoch schreibt. Ich weiß also nicht, ob es in meinem Fall wirklich wichtig ist zu wissen, wovor ich mich fürchte. Aber vielleicht hat die geneigte Leser:in ja eine Idee, wovor ich mich noch fürchten könnte, ohne es zu wissen. Mein Kommentarbereich ist auch für tiefenpsychologische Einsichten in meine Persönlichkeitsstruktur jederzeit geöffnet… 😉

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