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Philosophie Handlungstheorie

Wie werden Handlungen erklärt?

In einem früheren Blogeintrag habe ich mich mit der Unterscheidung zwischen Gründen und Ursachen beschäftigt, wie sie von Dietmar Hübner in seinem Buch Was uns frei macht getroffen wurde. Ich habe vor allem Beispiele dafür gegeben, inwiefern Gründe und Ursachen unterschiedliche Antworten auf die Frage nach dem Warum einer Handlung geben. In diesem Eintrag werde ich den Blick noch etwas weiten – es gibt nämlich neben der Nennung von Gründen und Ursachen noch weitere Arten, eine Handlung zu erklären.

Handlungserklärungen durch Ursachen

Rekapitulieren wir aber zunächst die Erklärungsarten, die uns aus dem früheren Blogeintrag geläufig sind. Wenn wir für eine Handlung eine Ursache angeben, benennen wir die Umstände, die kausal zu unserer Handlung geführt haben. Beispiele: Warum isst du? – Weil ich Hunger habe. Warum rauchst du? – Weil ich Schmacht nach einer Zigarette hatte. Warum machst du Sport? – Weil ich abnehmen möchte.

Primäre Gründe nach Donald Davidson

Letzteres Beispiel liefert uns nach Donald Davidson zugleich einen sogenannten primären Grund für mein Sporttreiben: Primäre Gründe bestehen nach Davidson aus einer Pro-Einstellung des Akteurs zusammen mit einer Überzeugung hinsichtlich dieser Pro-Einstellung, die zusammengenommen unser Handeln kausal erklären.

Machen wir diese abstrakte Begriffsbestimmung am Beispiel konkret: Ich möchte abnehmen, habe also eine Pro-Einstellung zur Gewichtsreduktion. Darüber hinaus habe ich – das können wir problemlos ergänzen – die Überzeugung, dass mir Sport dabei hilft, Gewicht zu verlieren. Zusammengenommen liefern Pro-Einstellung und Grund die Ursache dafür, dass ich Sport treibe.

Betrachten wir die anderen Beispiele in diesem Lichte und versuchen, die zugehörigen primären Gründe rekonstruieren. Ich habe eine Pro-Einstellung dazu, keinen Hunger zu haben, und bin überzeugt, dass Essen dazu führt, dass ich keinen Hunger mehr habe. Ich habe eine Pro-Einstellung dazu, keine Schmacht nach einer Zigarette zu haben, und glaube, dass Rauchen mich von der Schmacht befreit. In diesen Fällen funktioniert das Schema also ganz gut.

Machen wir uns an diesem Punkt kurz klar, was in philosophischen Diskussionen Gang und Gebe ist: Davidson verwendet den Begriff „Grund“ in völlig anderer Weise als Hübner es tut. Für Hübner sind Gründe niemals Ursachen für irgendetwas, da Gründe abstrakte Entitäten jenseits von Zeit und Raum und damit kausal impotent sind. Für Davidson hingegen sind (primäre) Gründe für Handlungen schlicht eine Proeinstellung zusammen mit einer Überzeugung – und beide sind, so können wir vermuten, in irgendeiner Weise neuronal realisiert und damit kausal wirksam.

Nicht alle Handlungserklärungen liefern primäre Gründe

Betrachten wir ein Beispiel, das schwieriger ist. Meine Tochter fragt mich: Warum schreist du mich so an? Und ich antworte: Weil du nicht tust, was ich dir sage. Lässt sich aus dieser Antwort ein primärer Grund für meine Handlung im Sinne Davidsons gewinnen? Das Problem ist folgendes: Ich habe zwar eine Pro-Einstellung dazu, dass meine Kinder tun, was ich ihnen sage – aber ich bin mittlerweile überzeugt davon, dass Schreien meine Kinder nicht dazu bringt, zu tun, was ich ihnen sage.

An diesem Punkt können wir aber weiter fragen: Wenn du überzeugt davon bist, dass Schreien nicht dazu führt, dass deine Kinder tun was du sagst – warum schreist du sie dann an? Damit sind wir wieder bei der Ausgangsfrage angelangt. Meine ehrliche Antwort würde vermutlich in etwa so lauten: Ich bin erschöpft und weiß mir nicht anders zu helfen. Damit haben wir geeignete Ursachen gefunden, was wir daran erkennen, dass wir nicht mehr weiterfragen würden: Die Fragen „Aber warum bist du erschöpft?“ oder „Warum weißt du dir nicht anders zu helfen?“ klingen nicht sehr zielführend.

Man bemerke, dass meine ehrliche Antwort keinen Grund für mein Schreien liefert – weder einen primären Grund im Sinne Davidsons, noch einen Grund im Sinne Hübners. Es liegt allerdings nunmehr eine vollständige kausale Erklärung meiner Handlung vor, indem vier Ursachen für mein Schreien angegeben wurden: Ich schreie erstens, weil meine Kinder nicht tun, was ich ihnen sage; zweitens weil ich möchte, dass sie tun, was ich ihnen sage; drittens weil ich erschöpft bin; und viertens weil ich mir nicht zu helfen weiß.

Handlungserklärungen durch Gründe

Wir können obiges Beispiel leicht abwandeln, um ein Beispiel für eine Handlungserklärung durch Gründe im Sinne Hübners zu liefern. Meine Tochter fragt: „Warum schreist du?“ Und ich antworte: „Weil du tun sollst, was ich dir sage.“ Diese Antwort liefert keine Ursache – denn eine Handlungsnorm oder Handlungsvorschrift kann keine Ursache sein. Sie lässt sich vielmehr wie folgt als Rechtfertigung durch einen Grund rekonstruieren:

Prämisse 1: Du sollst tun, was ich dir sage. Prämisse 2: Du tust nicht, was ich dir sage. Prämisse 3: Wer nicht tut, was er tun soll, darf bestraft werden. Konklusion: Du tust nicht, was du tun sollst, also darfst du bestraft werden – bspw. mit Schreien. Im Sinne Hübners liefern die Prämissen 1, 2 und 3 einen Grund für die Konklusion, dass mein Schreien im Sinne einer strafenden Handlung gerechtfertigt ist.

Ein besonderes Merkmal von Handlungserklärungen durch Gründe besteht darin, dass prinzipiell immer weiter nach dem Warum gefragt werden kann. Hier könnte meine Tochter beispielsweise fragen: „Warum soll ich tun, was du mir sagst?“ Ich könnte antworten: „Weil ich dein Vater bin und Kinder auf ihre Eltern hören sollen.“ Dies lädt die Gegenfrage ein: „Warum sollen Kinder auf ihre Eltern hören?“ – Und hier breche ich auch schon ab, weil ich durch die bohrenden Nachfragen meiner Tochter gehörig ins Schwimmen gerate… 😉

Handlungserklärungen durch Zwecke

Wir können das Beispiel wiederum leicht abwandeln, um ein Beispiel für eine Handlungserklärung durch Zwecke zu liefern. Meine Tochter fragt: „Warum schreist du?“ Und ich antworte: „Damit du tust, was ich dir sage.“ Diese Aussage nimmt Bezug auf einen Zweck, den ich mit meinem Schreien verfolge: Der Zweck ist, meine Tochter dazu zu bringen, zu tun was ich ihr sage.  

Es ist ein großer Streit in der gegenwärtigen Handlungstheorie, ob sich die Redeweise von Zwecken letztlich auf kausale Erklärungen reduzieren lassen oder nicht. In diesem Beispiel könnte man etwa plausiblerweise behaupten, dass die Aussage „Damit du tust, was ich dir sage.“ ohne große Abstriche durch die Aussage „Weil ich will, dass du tust, was ich dir sage.“ ersetzt werden könnte – was wiederum eine Ursache und kein Zweck ist. Wer sich für diese Diskussion interessiert, sei hiermit auf den Band Gründe und Zwecke. Texte zur aktuellen Handlungstheorie, hrsg. Von Christoph Horn und Guido Löhrer verwiesen.

Handlungserklärungen durch Handlungen

Es tritt gar nicht so selten der Fall auf, dass wir Handlungen durch andere Handlungen erklären. Beispiel: „Warum rührst du Kleister an?“ – „Ich mache ein Pappmaché-Schwein.“ – „Warum machst du ein Pappmaché-Schwein?“ – „Ich bastele mit Klara.“ – „Warum bastelst du mit Klara?“ – „Klara war langweilig, da hab ich ihr das vorgeschlagen.“

Wir sehen an diesem Beispiel, wie die Ursprungshandlung anfänglich dadurch erklärt wird, dass sie in immer weitere Handlungszusammenhänge eingebettet wird. Erst ganz zum Schluss wird die Handlung durch Verweis auf eine Ursache – nämlich die Langeweile der Tochter – erklärt. Man bemerke auch, dass ein umstandsloser Bezug auf die Ursache gleich zu Beginn völlig unverständlich gewesen wäre: „Warum rührst du Kleister an?“ – „Klara war langweilig.“

Handlungserklärungen durch Emotionen

Ein weiterer Typus von Handlungserklärungen, der in philosophischen Debatten häufig vernachlässigt wird, ist die Erklärung von Handeln durch Emotionen des Handelnden. Beispielsweise könnte ein Selbstmordattentäter oder ein Amokläufer nicht durch Gründe oder Ursachen zu seinem Handeln bewegt worden sein, sondern schlicht aus Hass gehandelt haben. Und ich könnte meiner Frau Blumen gekauft haben, weil ich weiß, dass sie Blumen mag und weil ich sie liebe.  

Emotionen sind im Allgemeinen keine Ursachen

Es ist wichtig zu bemerken, dass Emotionen im Allgemeinen keine Ursachen von Handlungen sind. Erwachsene besitzen normalerweise die Fähigkeit, ihre Emotionen zu regulieren und gerade nicht handlungswirksam werden zu lassen. Als Kontrastfolie betrachte man das Verhalten von Kindern: Kleine Kinder drücken ihre Emotionen noch ungefiltert aus, weil sie die Fähigkeit zur Emotionsregulation noch nicht erlernt haben, sodass wir bei ihnen tatsächlich davon sprechen können, dass die Emotionen ihr Verhalten verursachen. Im Übergang zum Erwachsenenalter sollte man aber gelernt haben, seine Emotionen im Griff zu haben.

Das sieht man auch daran, dass Emotionen unter Erwachsenen einer rationalen Beurteilung und Bewertung offenstehen. Emotionen können etwa angemessen oder unangemessen sein – beispielsweise ist es unangemessen, während einer Trauerfeier heiter zu sein. Emotionen können auch durch Gründe gerechtfertigt sein – beispielsweise ist der Hass eines späteren Selbstmordattentäters auf diejenigen, die mit einer Drohne seine Familie umgebracht haben, durchaus gerechtfertigt, während zugleich sein Hass auf unschuldige Unbeteiligte ungerechtfertigt ist.

Daran erkennen wir, dass Emotionen üblicherweise nicht als etwas angesehen werden, das einfach so über uns kommt und jenseits unserer bewussten Kontrolle steht. Wenn dem so wäre, müssten Emotionen außerhalb unserer diskursiven Praktiken des Rechtfertigens und normativen Beurteilens stehen. Insbesondere zeigen diese diskursiven Praktiken auch, dass Emotionen keine Ursachen sind: Wir haben es im Allgemeinen in der Hand, welchen Emotionen wir durch unsere Handlungen Ausdruck verleihen und welche wir bewusst unterdrücken.

Handlungen als Selbstzweck

Schließlich kommt es manchmal vor, dass Handlungen um ihrer selbst willen ausgeführt werden. Ich könnte zum Beispiel auf die Frage, warum ich Spazieren gehe, antworten, dass es mir gut tut, mich an der frischen Luft zu bewegen. Diese Antwort liefert keinen Grund für mein Spazieren: Denn wenn wir weiter fragen, warum mir Bewegung an der frischen Luft gut tut, müssten wir den Raum der Gründe verlassen und physiologische Erklärungen dafür finden, dass mir Bewegung an der frischen Luft gut tut.

Es liegt hier auch keine teleologische Erklärung in Form von Zielen oder Zwecken vor: Ich gehe nicht spazieren, um mich an der frischen Luft zu bewegen – das Spazieren ist die Bewegung an der frischen Luft. Bewegung an der frischen Luft ist nicht das Ziel des Spazierens – es ist das Spazieren. Und dass es mir gut tut ist nicht das Ergebnis des Spazierens – es ist der Nebeneffekt des Spazierens. Ich spaziere nicht, weil ich mich danach besser fühle, sondern weil mir das Spazieren selbst gut tut.

Ich würde behaupten, dass viele Freizeitaktivitäten unter diese Kategorie fallen. Beispielsweise schauen wir auch Filme im Allgemeinen um ihrer selbst willen – wir verfolgen damit keinen weiteren Zweck und können oft auch keine weiteren Ursachen oder Gründe dafür angeben, warum wir einen Film schauen. Wir schauen einen Film um des Filmschauens selbst willen – der Zweck der Handlung liegt in der Handlung selbst.

Handlungserklärungen durch Charaktereigenschaften

Manchmal erklären wir Handlungen aus den Charaktereigenschaften der handelnden Person. Ich habe heute beispielsweise einer Kitabekanntschaft zugesagt, ihr beim Ausrichten eines Kindergeburtstags zu helfen. Ich hatte dazu überhaupt keine Lust, aber ich kann einfach schlecht Nein sagen. Das gehört zu meinem Charakter: Wenn mich Bekannte um Hilfe fragen, sage ich meistens zu, wenn ich nicht anderweitige Termine habe.

Meine Zusage, der Bekannten beim Kindergeburtstag zu helfen, lässt sich demgegenüber schlecht durch einen primären Grund im Sinne Davidsons erklären: Zwar habe ich eine Proeinstellung zum Helfen, aber ich habe eigentlich eine noch viel größere Proeinstellung dazu, vier Stunden Freizeit zu haben, in denen ich mich mit anderen Dingen beschäftigen könnte, und ich war überzeugt, dass ich mir diese Freizeit beschaffen konnte, indem ich nicht beim Kindergeburtstag helfe. Eigentlich sollte das also mein primärer Grund für meine Handlung sein. War es aber nicht.

Es ist also gerade erklärungsbedürftig, warum ich mir nicht vier Stunden Freizeit verschafft habe, obwohl ich die Möglichkeit dazu gehabt hätte. Es ist auch nicht so, dass ich mich aus irgendeinen Grund für meine Zusage entschieden habe – ich sah vielmehr keinen Grund für eine Absage. Ich verfolge mit meinem Handeln auch keinen weiteren Zweck – wenn überhaupt, dann helfe ich meiner Bekannten bei der Erreichung ihres Ziels, nämlich der reibungslosen Ausrichtung des Kindergeburtstags.

Daher scheint mir hier der beste Erklärungsansatz für meine Handlung in meinem Charakterzug zu liegen, schlecht Nein sagen zu können. Erklärungen aus dem Charakter stellen demnach eine weitere Form der Handlungserklärung dar, die sich nicht einfach auf andere Erklärungsarten reduzieren lassen.

Fazit

In diesem Blogeintrag habe ich sieben Spielarten illustriert, in denen wir unsere Handlungen anderen Menschen erklären: Erstens können wir die kausale Vorgeschichte unserer Handlung offenlegen. Zweitens können wir unser Handeln durch das Geben von Gründen rationalisieren. Drittens können wir unser Handeln durch das Ziel oder den Zweck der Handlung erklären. Viertens können wir unser Handeln durch das Aufzeigen des größeren Handlungskontextes verständlich machen. Fünftens können wir unsere Handlungen durch unsere Emotionen erklären. Sechstens führen wir manche Handlungen selbstzweckhaft um ihrer selbst Willen aus. Und siebtens erklären wir Handlungen mitunter aus den Charakterzügen eines Menschen.

Ich halte nicht viel davon, diese Arten der Handlungserklärung gegeneinander ausspielen zu wollen, oder zu versuchen, eine Art der Handlungserklärung auf eine andere zu reduzieren. Zum einen gehen die verschiedenen Arten der Handlungserklärung mitunter Hand in Hand – während auf der Oberfläche eine Art der Erklärung im Vordergrund stehen mag, schwingen im Subtext oft andere Erklärungsarten implizit mit. Zum anderen trägt jede Weise der Handlungserklärung auf ihre Art zum Verständnis einer Handlung bei – und warum sollte man sich einer dieser Verständnisquellen berauben wollen?

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