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Philosophie

Was meinen wir, wenn wir “ich“ sagen?

Der mereologische Fehlschluss in den Neurowissenschaften

In ihrem provokanten und anregenden Buch Philosophical Foundations of Neuroscience unterziehen der Neurowissenschaftler M.R. Bennett und der Philosoph P.M.S. Hacker die heutige Neurowissenschaft einer grundlegenden und umfassenden Kritik. Zentral ist der Vorwurf, dass weite Teile der neurowissenschaftlichen Community einen sogenannten mereologischen Fehlschluss begehen: Sie wenden psychologische Attribute, die sinnvoll nur einem Organismus zugeschrieben werden können, auf einen Teil des Organismus an, nämlich das Gehirn. Dadurch entstünden keine falschen Aussagen, sondern vielmehr sinnlose Aussagen: Wir können nicht sagen, was es bspw. bedeuten soll, dass das Gehirn eine Entscheidung trifft oder dass das Gehirn denkt – Entscheidungen treffen und Denken können nur Personen bzw. Lebewesen.

Bennett und Hacker führen den mereologischen Fehlschluss in der Neurowissenschaft darauf zurück, dass heutige Neurowissenschaftler oftmals verkappte Cartesianer sind, ohne es zu merken. Descartes hat noch von sich selbst als einem denkenden Ding, einer Seele, gesprochen und psychologische Tätigkeiten wie Denken, Wahrnehmen und ähnliches ebendieser Seele zugesprochen. Heutige Neurowissenschaftler würden zwar den Teufel tun, von der Existenz einer Seele auszugehen. Aber Bennett und Hacker zufolge wurde die Rolle, die der Begriff der Seele bei Descartes gespielt hat, in modernen neurowissenschaftlichen Erklärungsmustern vom Gehirn eingenommen – und das führt Bennett und Hacker zufolge ebenfalls zu Unsinn.

Die Bedeutung von Sprache ergibt sich aus ihrem Gebrauch

Der Grund dafür, dass psychologische Attribute nicht auf Teile des Organismus angewendet werden können, liegt Bennett und Hacker zufolge darin, dass wir die psychologischen Attribute schlicht nicht auf diese Weise gebrauchen. Der Sinn von Aussagen und Worten wird durch ihren Gebrauch in unseren Sprachspielen gestiftet. Dieser Gebrauch liefert Kriterien dafür, wann wir anderen Personen oder uns selbst psychologische Attribute zuschreiben und wann nicht. Solche Kriterien gibt es aber für die Anwendung psychologischer Attribute auf das Gehirn nicht. Das macht Aussagen wie „Mein Gehirn denkt, dass es regnet.“ sinnlos: Wir wissen weder, was die Aussage wahr machen würde, noch was sie falsch machen würde.

Wie gebrauchen wir das Personalpronomen „ich“?

„Ich“ bezeichnet das Lebewesen, das „ich“ sagt

Bennett und Hacker scheinen davon auszugehen, dass sich das Personalpronomen „ich“ immer auf den Organismus als Ganzen bezieht. In einer Auseinandersetzung mit dem frühen Neurowissenschaftler Sherrington werfen sie ihm eine „tiefe Konfusion“ vor:

„[I]t is not ‚the „I“‘ that moves my arm when I move my arm; nor indeed is it my mind. I do so – and I am neither my mind, nor am I a ‘self’, an ‘ego’, or ‘an “I”’. I am a human being. And it is not ‘my thinking self’ or my mind that thinks it can bend my arm; rather, I, this human being, think that I can bend my arm, and usually do so when asked.”

(M.R. Bennett & P.M.S. Hacker: Philosophical Foundations of Neuroscience, Blackwell, 2003, S. 47.)

Das klingt so einleuchtend und trivial, dass man sich die Frage stellen kann, wie man überhaupt auf die Idee kommen kann, dass es anders sein könnte. Und hier haken Bennett und Hacker meines Erachtens nicht genug nach – sonst hätten sie festgestellt, dass wir mit „ich“ vielleicht meistens, aber eben nicht immer, den lebenden Organismus als Ganzen bezeichnen.

„Ich“ als Bezeichnung der Seele

Das Wort „Seele“ ist heutzutage ziemlich in Verruf geraten – meines Erachtens zu Unrecht. Denn auch wenn wir nicht genau sagen können, was eine Seele denn eigentlich sein soll, können wir manche Gedanken nur durch Rückgriff auf das Konzept einer Seele hinreichend verständlich machen.

Betrachten wir beispielsweise den Satz: „Ich glaube, dass ich nach dem Tod weiterleben werde.“ Dieser Satz ist himmelschreiend absurd, wenn wir annehmen, dass sich das zweite „ich“ auf den Organismus bezieht, denn ein Organismus kann nach seinem Tod per definitionem nicht weiterleben. Das „ich“, das nach dem Tod weiterlebt, muss also so etwas wie eine Seele sein. Wir können vielleicht nicht genau sagen, was eine Seele sein soll. Aber wir können dem Satz doch einen Sinn abgewinnen, denn wir können uns grob vorstellen, was der Fall sein wird, wenn er wahr ist, und was der Fall sein wird, wenn er falsch ist.

Verwandt mit solchen Verwendungsweisen des Personalpronomens sind Äußerungen nach Nahtoderfahrungen wie diese: „Ich habe mich auf dem Operationstisch liegen sehen.“ Es wäre wiederum absurd, wenn sich das „Ich“ in diesem Satz auf denselben Organismus beziehen würde wie das „mich“ – denn ein bewusstloser Organismus kann sich selbst nicht auf dem Operationstisch liegen sehen. Das „Ich“ muss also wiederum so etwas wie eine Seele sein – und auch wenn wir nicht sagen können, was eine Seele sein soll, können wir uns die Nahtoderfahrung vorstellen, die durch den Satz vermittelt wird.  

Ein drittes Beispiel für eine Idee, die wir intuitiv sofort problemlos auffassen, ist die in Komödien manchmal zu findende Idee des Körpertauschs: Aus irgendeinem Grund wacht eines Morgens die Mutter im Körper ihrer Tochter auf, während die Tochter im Körper ihrer Mutter aufwacht. „Mooooooment!“ könnten Bennett und Hacker ausrufen: „Es ist logisch unmöglich, dass die Tochter im Körper ihrer Mutter aufwacht – außer jemand hätte den Körper der Mutter aufgeschnitten und die Tochter hineingelegt.“ Das ist natürlich nur ein Scherz, denn wir verstehen das Szenario der Komödie sofort – Bennett und Hacker inklusive. Man könnte es so formulieren: Die Seelen der Personen tauschen die Körper – was auch immer wir damit genau meinen.

„Ich“ als Kern einer psychophysischen Zwiebel

Die geneigte Leserin mag mein Faible für den altmodischen Begriff der Seele nicht teilen. Muss sie auch nicht. Vielleicht gefällt ihr folgendes Bild besser: Der menschliche Organismus ist gewissermaßen eine psychophysische Zwiebel. Die äußeren Schalen repräsentieren den Körper und seine Teile, die inneren Schalen repräsentieren seine psychischen Befindlichkeiten – und mit dem Wort „ich“ können wir uns auf einen situativ variablen Kern dieser Zwiebel beziehen, dessen jeweils weiter außen liegenden Schalen vom Ich abgetrennt werden.

„Ich“ als aktiver Kern der psychophysischen Zwiebel

Betrachten wir ein Beispiel. Nehmen wir an, ich bin auf einer Party und eine Wespe fliegt an meinen Arm. Reflexartig schlage ich nach der Wespe, ohne zu beachten, dass ich einen Cocktail in der Hand halte. Der Inhalt des Glases landet auf dem Kleid meiner Frau. Da das Schlagen nach der Wespe eine bloße Reflexreaktion war, macht es Sinn zu sagen, dass ich nicht den Cocktail auf das Kleid meiner Frau geschüttet habe: Ich kann mich gewissermaßen von der Reflexreaktion meines Arms distanzieren. Das geht aber nur, wenn sich das Wort „ich“ nicht auf den Organismus als Ganzen bezieht.

Betrachten wir ein weiteres Beispiel und fokussieren uns auf unseren Atem. Wer atmet da? Nach der Auffassung von Bennett und Hacker müsste man sagen, dass offensichtlich ich atme, wenn man „ich“ als den lebenden Organismus auffasst. Aber so offensichtlich finde ich das nicht. Meines Erachtens ergibt es guten Sinn zu sagen, dass ich nicht atme, sondern mein Körper atmet. Das Atmen vollzieht sich automatisch, ohne mein Zutun. Ich kann allerdings in den Ablauf eingreifen, indem ich etwa die Luft anhalte oder besonders tief einatme. Worauf referiert das „ich“ im letzten Satz? Auf so etwas wie den aktiven Kern der psychophysischen Zwiebel. Das ist nicht mehr als eine Metapher. Aber eine bessere Antwort fällt mir nicht ein.

„Das bin doch nicht ich!“

Ein drittes Beispiel. Psychische Erkrankungen wie Burnout oder Depression können dazu führen, dass man vom Alltag so überfordert und gestresst ist, dass man wegen kleinster Anlässe gleich an die Decke geht. Wenn man eigentlich die Ruhe selbst ist, könnte man in solchen Situationen und Momenten der Klarheit ausrufen: „Mein Gott, das bin doch nicht ich!“ Und wir verstehen, was gemeint ist. Worauf bezieht sich hier aber das Wörtchen „ich“? Schwer zu sagen.

Das Beobachter-Ich in der Meditation

Das wohl radikalste Beispiel für umfassende Distanznahme ist das in der Meditationspraxis erfahrene Ich. Ich konzentriere mich nur auf meinen automatisch ablaufenden Atem und beobachte, wie Emotionen oder Gedanken in mir aufsteigen und wieder verschwinden. Ich bin nicht meine Gedanken. Ich bin nicht meine Emotionen. Ich bin nichts als der stille Beobachter all dessen, das Zentrum der Aufmerksamkeit, bloßes Gewahrsein, der innerste Kern der psychophysischen Zwiebel. Mehr bin ich nicht. Aber auch nicht weniger.

Fazit und Ausblick

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es situativ verschieden ist, was wir mit „ich“ meinen. Vielleicht ist es richtig, dass wir in den meisten Fällen mit „ich“ einfach uns selbst als lebendigen Organismus bezeichnen. Aber ich konnte hoffentlich plausibel machen, dass das nicht die einzig mögliche Verwendungsweise des Pronomens „ich“ ist.

Insofern lässt sich an Bennett und Hacker die kritische Nachfrage stellen, ob sie die verschiedenen Verwendungsweisen des Pronomens „ich“ hinreichend beachtet haben. Nach meinem ersten Eindruck klammern sie sich an die Verwendung von „ich“ für den lebendigen Organismus als Ganzen – und dann ist es kein Wunder, dass die von vielen Neurowissenschaftlern und Philosophen beschworenen Mysterien des Selbst und des Bewusstseins völlig verschwinden. In den folgenden Blogeinträgen möchte ich genauer untersuchen, wie Bennett und Hacker diese Mysterien im Einzelnen zum Verschwinden bringen.  

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