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Philosophie

Sind Erlebnisse beschreibbar?

Wie ist es, depressiv zu sein?

Im großartigen Film Melancholia von Lars von Trier gibt es eine Szene, in der Claire ihrer depressiven Schwester Justine ihr Leibgericht kocht: Hackbraten. Doch als sie am Tisch sitzen und den Hackbraten essen, stößt Justine einen verzweifelten Ausruf aus: „Es schmeckt nach Asche!“

Wir wissen sofort, wie Justine ihren Ausruf gemeint hat. Sie hat nicht gemeint, dass Claire den Hackbraten zu lange im Ofen gelassen hat und die Röstaromen des Hackbratens überhandgenommen haben. Justine will weder sagen, dass Claire eine schlechte Köchin ist, weil ihr Hackbraten nach Asche schmeckt, noch will sie etwas zum Ausdruck bringen, was alle am Tisch denken: „Der Hackbraten schmeckt nach Asche.“ Justine gibt eine Beschreibung ihres subjektiven Eindrucks beim Essen des Hackbratens: Er schmeckt ihr nicht wie ihr Leibgericht, sondern wie Asche.

Nun ist es so, dass selbst dieser Ausruf vermutlich nicht wörtlich zu nehmen ist. Aus meiner eigenen Erfahrung mit Depression kann ich sagen, dass meine Mahlzeiten nicht im wörtlichen Sinn nach Asche geschmeckt haben. Trotzdem halte ich Claires Ausruf für eine gelungene künstlerische Annäherung an das Phänomen der Depressivität – es ist außerordentlich schwer, das depressive Lebensgefühl in Worten zu beschreiben, aber im Wort „Asche“ schwingen so viele treffende Subtexte mit, dass es für Außenstehende meines Erachtens einen guten Referenzpunkt abgibt.

Wiederum aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass die Erfahrung einer Depression in gewisser Weise sprachlos macht: Es fehlen die Worte, um das Erleben einer depressiven Episode so zu beschreiben, dass andere wirklich nachempfinden können, wie es ist, depressiv zu sein. Sogar für mich selber ist es jetzt, wo ich das Schlimmste überstanden habe, schwer nachvollziehbar, wie man sich als depressiver Mensch fühlt.

Natürlich gibt es diagnostische Kriterien für das Vorliegen einer Depression: Es gibt Gefühle innerer Leere, was soviel besagt wie, dass man keine Gefühle hat, insbesondere keine positiven. Es ist nämlich auch nicht so, dass man ständig weinen würde – im Gegenteil kann man als Depressiver auch nicht weinen; Depression ist keine Form der Trauer. Man ist antriebslos und schafft es häufig nicht einmal, ganz basale Tätigkeiten wie Duschen oder Abwaschen zu verrichten. Stattdessen liegt man im Bett und hat ein Gefühl der Schwere in der Brust, die einen immer tiefer runterzieht. Oder wie es in einem schönen Bild in Melancholia gezeigt wird: Das Leben in der Depression ist wie durch einen tiefen Sumpf zu waten.

Aber all das vermittelt immer noch nicht adäquat, wie schlimm es ist, an einer Depression zu leiden. Am ehesten kann man das vielleicht durch eine andere Tatsache vermitteln: Depression ist eine Erkrankung, die so schlimm ist, dass sie Menschen mitunter in den Selbstmord treibt. Man wäre lieber tot, als diese Erkrankung noch länger ertragen zu müssen – und das grenzt sie von übrigen Erkrankungen doch deutlich ab.

Wie ist es, die Farbe Rot zu sehen?

Aber vielleicht ist die Sprachlosigkeit, die einen im Angesicht einer Depression befällt, gar kein besonderes Phänomen. Betrachten wir ein banaleres Beispiel: Wie ist es, die Farbe Rot zu sehen? Als Philosoph muss man manchmal aufpassen: Im Haifischbecken der akademischen Philosophie schwimmen eine ganze Reihe cleverer Till Eulenspiegel herum, welche die einfachsten Fragen bewusst falsch verstehen, obwohl sie intuitiv sofort einleuchten.

In diesem Fall könnte jemand nämlich sagen, dass die Frage falsch gestellt ist: Die Farbe Rot ist ein abstrakter Gegenstand, mithin außerhalb von Raum und Zeit und damit insbesondere nicht sichtbar. Es macht deshalb keinen Sinn zu sagen, man würde die Farbe Rot sehen: Alles was wir sehen können, sind rote Gegenstände.

Also gut, tun wir Till Eulenspiegel den Gefallen und wandeln die Frage ab: Wie ist es, einen roten Gegenstand zu sehen? Oder noch genauer gefragt: Inwiefern unterscheidet sich das Betrachten eines roten Autos vom Betrachten eines grünen Autos? Natürlich gibt es eine einfache Antwort auf diese Frage: Das rote Auto erscheint rot, das grüne Auto erscheint grün. Aber was meinen wir damit? Nehmen wir an, wir müssten den Unterschied einem farbenblinden Menschen erklären. Könnten wir das?

Meines Erachtens ist das nicht der Fall. Wir erklären die Bedeutung der Worte Rot und Grün, indem wir auf rote Gegenstände zeigen und sagen: „Das ist rot!“, sowie auf grüne Gegenstände zeigen und sagen: „Das ist grün!“ Ein farbenblinder Mensch wird aber in beiden Fällen keinen Unterschied ausmachen können. Und damit hat es sich: Wir haben keine weitere Möglichkeit, den Unterschied zwischen Rot und Grün zu erläutern, als den Unterschied zu zeigen.

Das Problem ergibt sich aber auch umgekehrt: Der Farbenblinde kann uns nicht sagen, wie es ist, keinen Unterschied zwischen Rot und Grün sehen zu können. Er kann nur sagen: Dieser Gegenstand, den du rot nennst, hat für mich die gleiche Farbe wie dieser Gegenstand, den du grün nennst.

Daraus ergibt sich eine Folgefrage: Welche Farbe haben rote und grüne Gegenstände für den Farbenblinden? Sieht er sie so, wie wir rote Gegenstände sehen? Oder sieht er sie so, wie wir grüne Gegenstände sehen? Vermutlich nicht; vermutlich sieht er irgendeine Art Mischfarbe. Aber welche? Sieht die Welt für ihn aus wie in Sepia getaucht? Oder wie ein Schwarz-Weiß-Film? Ich habe keine Antwort auf diese Fragen. Manche kann man vielleicht ausschließen – beispielsweise die Möglichkeit, dass er die Welt in Schwarz-Weiß sieht. Vielleicht ist es auch bei jedem Farbenblinden anders. Wir wissen es nicht. Und ich sehe nicht, wie wir es jemals herausfinden können.

Ist die Unbeschreibbarkeit unserer Erlebnisse eine Illusion?

In ihrem Buch Philosophical Foundations of Neuroscience vertreten der Neurowissenschaftler M.R. Bennett und der Philosoph P.M.S. Hacker die These, dass die letztliche Unbeschreibbarkeit unserer Erlebnisse eine Illusion ist: Erlebnisse seien ihrer Natur nach beschreibbar, und wir täten dies ständig. Sie verdeutlichen dies an einem Beispiel:

„Is it even true that we cannot describe the aroma of coffee? After all, we can say that the aroma of the coffee is fresh, rich and delicious, that it is the aroma of freshly roasted coffee. Is this not a description of the aroma of coffee? Of course it is. And moreover, it is not a description given by ‘pointing to similar experiences’ of smelling the aroma of coffee on other occasions. The defender of the ineffability thesis will doubtless respond that this is not what he meant, that such a form of words does not describe the essential thing – which cannot be put into words.”

(M.R. Bennett & P.M.S. Hacker: Philosophical Foundations of Neuroscience, Blackwell, 2003, S. 287.)

Meine Antwort auf das Kaffeebeispiel ist nicht die, welche Bennett und Hacker dem Verteidiger der Unbeschreibbarkeitsthese in den Mund legen: Ich halte ihrem Beispiel entgegen, dass ihre Beschreibung teilweise zirkulär ist. Natürlich sind die Beschreibungen „fresh, rich and delicious“ Konkretisierungen des besonderen Kaffeearomas – aber sie sind andererseits auch reichlich unbestimmt, da auch ein Salat „fresh, rich and delicious“ schmecken kann.

Mein Punkt ist aber der folgende: Bennett und Hacker merken überhaupt nicht, dass sie das Aroma des Kaffees insbesondere als „das Aroma eines frisch gerösteten Kaffees“ beschreiben – das Aroma des Kaffees ist also das Aroma von Kaffee. Das ist keine Beschreibung, die uns irgendeinen näheren Aufschluss über das Aroma von Kaffee liefert. Es ist schon fraglich, ob hier überhaupt eine Beschreibung vorliegt – es werden ja noch nicht einmal andere Worte verwendet, sondern exakt dieselben. Wenn jemand ohne vorhergegangene Erfahrung von Kaffeearoma bittet: „Beschreibe mir das Aroma des Kaffees!“, und die mit dem Brustton der Überzeugung vorgetragene Antwort bekommt: „Es ist das Aroma von frisch geröstetem Kaffee!“, so ist Gelächter die einzig berechtigte Reaktion.

Im Absatz zuvor gestehen Bennett und Hacker zu, dass man in der Tat versucht ist zu sagen, dass das Aroma von Kaffee und andere Erlebnisse nicht beschreibbar sind:

„We know what they are like, we think, but our vocabulary is inadequate to describe them. This is surely confused; for if our vocabulary is inadequate, it is open to us to introduce a more refined vocabulary.” (Ebd., S. 287.)

Im Abschnitt zuvor haben Bennett und Hacker jedoch überzeugend dargelegt, dass es eben nicht möglich ist, ein verfeinertes Vokabular einzuführen, mit dem man das Aroma von Kaffee beschreiben kann. Was man sagen möchte, ist, dass dies das Aroma von Kaffee ist, und dabei gewissermaßen auf den qualitativen mentalen Eindruck des Kaffeearomas zeigen. Aber dass das einen Sinn ergibt, ist Bennett und Hacker zufolge ebenfalls eine Illusion:

„[I]t is an illusion that one can, as it were, point inwardly (and for oneself alone) to the experience one is currently enjoying, saying ‘I see red thus’, and thereby say anything meaningful – one might just as well say ‘This is this’ […]. […] [T]he only cogent answer to the confused question ‘Why is seeing red like seeing this?’ is that seeing this […] colour is seeing red, since this colour is what we call ‘red’.”

(Ebd., S. 283.)

Natürlich hat ein Farbenblinder hier wiederum ein Problem, denn er kann rot eben nicht korrekt benennen. Farbenblinde sind demnach aus dem obigen „wir“ der Sprachgemeinschaft ausgeschlossen. Die Frage, welche Farbe sie sehen, wenn sie rot sehen, scheint mir allerdings immer noch berechtigt zu sein – und die einzig mögliche Antwort ist wohl die Bennett und Hacker zufolge sinnlose Antwort: „Diese!

Bennett und Hacker gestehen zu, dass Beschreibungen von Erlebnissen das Erlebnis selbst nicht ersetzen können – sie nennen diesen Umstand sogar eine Trivialität (Ebd., S. 289). Sie bestehen aber auf dem folgenden Punkt:

„A description can tell one what the object of an experience is like – that is, what properties it has that will, for example, enable one to recognize it (that is what descriptions do).”

(Ebd., S. 289.)

Können wir aber einen Kaffee erkennen, wenn wir Bennett und Hackers Beschreibung zugrunde legen? Auf Seite 288 bezeichnen sie einen Kaffee als „black, hot and bitter“ – das kann auch auf einen starken Schwarztee zutreffen. Die weiteren Attribute „fresh, rich and delicious“ würde meine Tochter wohl kaum auf den Geschmack von Kaffee anwenden, wenn sie ihn zum ersten Mal trinkt – und das „aroma of a freshly roasted coffee“ sollte ja gerade beschrieben werden. Bennett und Hacker bestehen also darauf, den Geschmack von Kaffee beschreiben zu können – aber ich ziehe das angesichts ihres eigenen Versuchs doch sehr in Zweifel.

Fazit und Ausblick

In diesem Blogeintrag habe ich dafür argumentiert, dass der qualitative Charakter von Erlebnissen nicht beschreibbar ist: Man muss das Aroma von Kaffee bereits erlebt haben, um mit einer Beschreibung des Aromas von Kaffee etwas anfangen zu können. Bennett und Hackers Argumentation, dass Erlebnisse sehr wohl beschreibbar sind, konnten mich nicht vom Gegenteil überzeugen.

Man kann sich nun fragen, warum der qualitative Charakter von Erlebnissen nicht beschreibbar ist. Einen Ansatz hierzu haben wir bereits gesehen: Sprache ist eine öffentliche, intersubjektive Institution, während Erlebnisse etwas privates, subjektives sind. Ich kann sinnvoll nur auf öffentliche Gegenstände zeigen und sagen: Das ist rot. Auf private Gegenstände wie mentale Erlebnisse kann ich hingegen nicht zeigen und sinnvoll sagen: Das ist rot. Das würde erklären, warum Erlebnisse in der öffentlich geteilten Sprache nicht beschreibbar sind.

Bennett und Hacker halten es jedoch für einen Fehler zu glauben, unsere Erlebnisse wären in irgendeinem Sinne privat. Daher werde ich mich im nächsten Blogeintrag mit ihrer Argumentation für diese steile These auseinandersetzen.  

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