Bei der Betrachtung meines Lebens und meiner Antriebe habe ich ein gewisses Problem entdeckt, dem ich in diesem Text näher auf den Leib rücken möchte. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob es wirklich ein Problem ist. Aber ich habe den Eindruck, es hält mich davon ab, das Leben einfach zu genießen. Das Problem stellt sich immer dann, wenn ich mir die Frage stelle: Was soll ich tun? – aber „soll“ in einem außermoralischen Sinn.
Es ist nicht so, als würde ich mich ständig vor moralische Dilemmata gestellt sehen, auf die ich eine Antwort finden müsste. Im Gegenteil: Ich halte die Welt zwar für insgesamt himmelschreiend ungerecht, aber ich sehe mich nicht in der Verantwortung, an diesem Zustand irgendetwas substantiell zu verändern. Wenn die Mehrheit der Leute CDU und AfD wählt, kann ich nichts weiter tun, als der Perpetuierung des Unrechts weiter zuzusehen. Früher hat mich das noch aufgeregt – mittlerweile habe ich mich vom politischen Zirkus innerlich weitestgehend abgekoppelt.
Nein, es geht mir bei der Frage: „Was soll ich tun?“ um viel banalere, alltägliche Dinge. Die Frage ist: Womit soll ich meine schmale Zeit verbringen, die mir zum Leben bleibt? Und „soll“ hier wieder nicht in einem genuin moralischen Sinn: Ich frage mich nicht, ob ich bspw. Entwicklungshelfer in Ruanda werden sollte. Ich frage mich mehr, mit welchen Dingen ich mich in meiner Freizeit beschäftigen soll. Dieses „soll“ klingt schon weniger moralisch – aber welcher Art ist das „soll“ dann?
Es geht mir in gewisser Weise um die Frage nach dem guten Leben – also um die Frage, wie ich leben soll. Einige Aspekte meines Lebens sind mir als Hausmann und Vater schlichtweg auferlegt: Ich muss mich (mal mehr, mal weniger) um den Haushalt kümmern, während die Kinder in der Kita sind, und ich muss mich um die Kinder kümmern, wenn sie von der Kita nach Hause kommen. Das ist schlichtweg gegeben – ich komme nicht drumherum.
Dann gibt es aber Phasen, während die Kinder aus dem Haus sind und der Haushalt (mehr oder weniger) gemacht ist, in denen ich freie Zeit habe: Ich muss gar nichts mehr. Was stelle ich mit dieser Zeit an? Und da kommt die Frage wieder: Was soll ich mit dieser Zeit anstellen? Welcher Art ist dieses „soll“? Ich habe in letzter Zeit häufig das Gefühl, dass sich andere Menschen diese Frage überhaupt nicht stellen: Freizeit ist Freizeit, und da mache ich, wozu ich Lust habe. Aber für mich ist die Frage akut. Die Preisfrage lautet: Liegt mein Problem darin, dass ich nicht weiß, was ich mit meiner Zeit anstellen soll, oder darin, dass ich mir die Frage überhaupt stelle?
Hier ist ein Beispiel für mein Problem. Ein Freund von mir hat mir den 700-Seiten-Klopper Träumen des norwegischen Schriftstellers Karl Ove Knausgård ausgeliehen. Das wäre was für mich. Aber wozu soll (da ist es wieder!) ich das Buch lesen? Die schönste Antwort lautet: Um des Lesens selbst willen; als puren Genuss. Aber darf ich das? In welchem Sinne von „darf“ glaube ich, das Buch nicht lesen zu dürfen?
Vielleicht ist es so: Ich glaube, dass mein Leben einen Sinn hat; dass ich aus irgendeinem Grund auf dieser Welt bin und eine gewisse Aufgabe zu erfüllen habe. Ich weiß nicht genau, worin meine Aufgabe besteht – aber sie liegt mutmaßlich nicht darin, dass ich mich aus purem Genuss in Literatur ergehe. Aber warum eigentlich nicht? Vielleicht ist mein Leben gar nicht mit einer Aufgabe verknüpft, sondern ein bloßes Geschenk meiner Eltern, das ich leben darf (Ha!), wie ich es möchte?
Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr bin ich geneigt zu sagen: Das Soll, um das sich dieser Text dreht, ist ein autonomes Soll: Ich selbst gebe mir auf, was ich zu tun habe. Aber ich weiß nicht genau, was ich mir zu tun aufgeben soll. Ich suche nach Gründen – und finde da vielerlei einander konträre Gründe vor. Soll ich in die Welt der Literatur eintauchen, um ihrer selbst willen? Oder ist meine Zeit besser damit verbracht, philosophische Literatur zu lesen und selbst philosophische Texte zu schreiben?
Ein Teil von mir ist der Ansicht, dass das Schreiben philosophischer Texte gerade der Sinn meines Lebens ist; meine Aufgabe, wegen der ich hier bin. Dann gibt es aber wieder einen anderen, skeptischeren Teil in mir, der mich vor folgendes Problem stellt: Angenommen, du bleibst mit deinen Texten weiterhin so unbekannt wie jetzt. Wirst du auf dem Sterbebett denken, du hast dein Leben sinnvoll verbracht? Oder wirst du denken, du hättest deine Zeit besser nutzen sollen (!), indem du bspw. in die Welt der Literatur eingetaucht wärst, um ihrer selbst willen?
Vielleicht ist das große Entweder-Oder das Problem, mein Alles-oder-Nichts-Denken: Vielleicht ist es nicht schlau von mir, einseitig auf ein Pferd zu setzen, zum Beispiel auf die Philosophie oder die Literatur. Vielleicht sollte ich mir Freiräume schaffen, um beides zu erkunden. Bei diesem Gedanken kommt aber wieder ein Skeptiker in mir hoch: Wird dein philosophisches Schaffen dann nicht halbgar? Solltest du nicht gerade wegen der kurzen Lebensdauer nur auf ein Pferd setzen, Hopp oder Topp?
Ich halte die Sterbebett-Phantasie eigentlich für ganz gut geeignet, um sich über die Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens klar zu werden. Aber ich bin mir in meinem Fall nicht völlig sicher, was mir das Gedankenexperiment sagt. Ich weiß nicht, was ich im Sterbebett liegend denken würde, wenn ich mein Leben vollständig der Philosophie verschrieben hätte. Je mehr Philosophie ich rezipiere, desto mehr erscheint mir alles eitel, wie der Prediger Kohelet nicht müde wird zu betonen. Alles ist eitel und Haschen nach Wind.
Aber ist die Eitelkeit der Dinge nicht umso mehr ein Grund, Dinge um ihrer selbst willen zu tun; kulturelle Güter um ihres bloßen Genusses willen zu konsumieren? Vielleicht schon. Aber irgendetwas in mir sträubt sich immer noch dagegen, einfach ein Buch in die Hand zu nehmen oder den Fernseher anzuwerfen. Und es sträubt sich nicht nur etwas – ich kann es einfach nicht. Warum nicht? Ist die Zeit wirklich besser damit verbracht, deine Gedanken wie in diesem Text hin und her zu wälzen? Ich weiß es nicht. Darum schreibe ich diesen Text ja. Ich will mir über mich selbst klar werden.
Warum kann ich nicht einfach kulturelle Güter um ihrer selbst willen konsumieren? – Weil ich das Gefühl hätte, meine kostbare Zeit zu verschwenden. – Aber sie ist ja gar nicht verschwendet, ich würde eine schöne Zeit haben. – Aber ich sehe den Sinn des Lebens nicht darin, eine schöne Zeit zu haben.
Das ist vermutlich der Knackpunkt: Es geht mir um den Sinn des Lebens. Was ist der Sinn des Lebens? Pointierter: Was ist der Sinn meines Lebens? Auch wenn es mir schwerfällt, eine positive Antwort darauf zu geben, bin ich mir ziemlich sicher: Es geht nicht darum, dass ich hier eine schöne Zeit habe. Warum nicht? Schwer zu sagen. Vielleicht habe ich das Gefühl, dass die Welt sehr seltsam eingerichtet wäre, wenn das der Sinn meines Lebens sein soll. Dafür habe ich schon zu schlimme Zeiten hinter mir.
Sei es wie es sei, mir ist der Sinn meines Soll jetzt jedenfalls klarer geworden: Wie soll ich mein Leben verbringen, wenn es darum geht, meinem Leben einen Sinn zu verleihen? Was verleiht dem Leben Sinn? Gibt es überhaupt ein sinnvolles Leben? Das sind so Fragen, mit denen sich Philosophen einmal auseinandersetzen sollten (Ha!). Ich beende dagegen vorerst mein Tagewerk und lese – ja, was? Träumen? Oder Christoph Menkes Theorie der Befreiung? Vermutlich letzteres. Mit einer schönen Tasse Kaffee. Das nenne ich sinnvoll verbrachte Zeit.
Eine Antwort auf „Über die Frage „Was soll ich tun?“ im außermoralischen Sinn“
„Theorie der Befreiung“ klingt auch nicht schlecht 😀 Bei der Lektüreauswahl will ich dir natürlich nicht reinreden. Aber hier noch ein kleines Plädoyer für Knausgard: In der Literatur werden ja oft dieselben Themen verhandelt wie in der Philosophie, aber in ganz anderer Weise. Bei Knausgard dreht sich alles um die Suche nach dem Sinn des Lebens im Schreiben, also Themen, die dich auch beschäftigen. Die Lektüre könnte somit potentiellen Stoff für einen Blogbeitrag (und sei es ein Verriss^^) bieten.
https://www.deutschlandfunk.de/karl-ove-knausgard-traeumen-nackter-authentischer-realismus-100.html