Am Wochenende habe ich Christoph Menkes Theorie der Befreiung (Suhrkamp, 2024) gelesen. Das Buch war durchaus gut geschrieben und teilweise mitreißend zu lesen – streckenweise merkte man aber auch, dass es ein durch und durch kontinentalphilosophisches Buch ist: Man weiß mitunter nicht, ob Menke neue Gedanken ins Spiel bringt, oder über mehrere Seiten denselben Gedanken hin und her wälzt. Menke dankt zwar seiner Lektorin für ihren scharfen Blick für Unklarheiten und Verstiegenheiten, aber mitunter wird die Lektüre doch unfreiwillig komisch, so zum Beispiel, wenn Menke die Faszination des brennenden Dornbuschs für Mose erklärt:
„Wenn der Bote das Erscheinen ist, das ermöglicht, das etwas erscheint, dann erscheint im Erscheinen des Boten das Erscheinen. Sein Erscheinen ist das Erscheinen des Erscheinens: Erscheinen des Erscheinens im Erscheinenden; Eintritt des Ermöglichenden in das, was es ermöglicht.“
(Ebd., S. 123.)
Verstehen wir das? Können wir verstehen, was es heißt, dass das Erscheinen im Erscheinenden erscheint? Ich bin offen gestanden ratlos. Andernorts wird in der Erklärung, inwiefern die Faszination sich selbst überschreitet, die Faszination ganz offen hypostasiert:
„Die Faszination, die sich vom Blick der Positivität unterscheidet, entscheidet sich damit zugleich – sie entscheidet sich für sich selbst. Die Faszination wird zur Entscheidung für die Faszination. Und ebendamit geht sie über die – reine, bloße – Faszination hinaus: Indem die Faszination sich für sich entscheidet, tritt sie aus sich selbst heraus. Der Moment der sich unterscheidenden Entscheidung oder der sich entscheidenden Unterscheidung ist der Moment, in dem die Faszination sich durch sich selbst überschreitet.“
(Ebd., S. 180; Hervorhebungen im Original.)
Können wir verstehen, was es heißt, dass sich die Faszination für sich selbst entscheidet? Kann die Faszination überhaupt etwas sein, das sich für irgendetwas entscheidet? Es sind Momente wie diese, in denen ich mir wünschte, keinen kontinentalphilosophischen Text vor mir zu haben: Man hat doch manchmal das Gefühl, auf intellektuell hochtrabende Weise an der Nase herumgeführt zu werden.
Das sollen zwei Beispiele sein, anhand derer ich zum Ausdruck bringen möchte, dass ich Menkes Text im Großen und Ganzen nicht verstanden habe. Nichtsdestotrotz werde ich im Folgenden einen Text über Menkes Theorie der Befreiung schreiben – die Freiheit nehme ich mir heraus. Ich glaube nämlich, dass Menke in einigen seiner zentralen Thesen irrt.
Der Ursprung unseres Freiheitsverständnisses im antiken Griechenland
Menkes grundlegende These lautet, dass Freiheit in der Negation der Unfreiheit besteht – dass also Freiheit nur vor der Folie der Unfreiheit verstanden werden kann. Unfreiheit kann aber viele Gesichter haben. Welches Gesicht war für die antiken Griechen maßgeblich?
Menke rekonstruiert zwei Ansichten. Raaflaub zufolge bestand das früheste Gesicht der Unfreiheit in der drohenden Unterwerfung durch Persien in den Perserkriegen: Hätte Griechenland die Schlachten gegen Persien verloren, so wären die Griechen in fremde Hände gefallen und versklavt worden – es war also die drohende Sklaverei, die den Griechen ein erstes Verständnis ihrer Freiheit gegeben hat. Demzufolge verstanden die Griechen, dass sie in ihrem politischen System bereits frei waren, vor dem Hintergrund dessen, dass sie hätten versklavt werden können.
Patterson zufolge wurde die anstoßende Erfahrung von den griechischen Sklaven selbst gemacht: Sie erlebten sich als unfrei, weil sie nicht tun konnten, was sie wollten. Als das Schicksal dieser Sklaven von den Tragödiendichtern auf die Theaterbühne gehoben wurde, konnten sich die freien Griechen in das Schicksal ihrer Sklaven einfühlen, und erkannten so die fundamentale Unfreiheit ihrer Sklaven. Auch nach dieser Deutung erfuhren die Griechen durch das Beispiel der Sklaverei, dass sie bereits frei waren.
Menke zieht daraus den Schluss, dass die Befreiung der Griechen eine bloße Sache des Bewusstseins war: Befreit zu werden bedeutete nichts anderes, als sich seiner eigenen Freiheit als Subjekt bewusst zu werden – sich bewusst zu werden, dass man schon frei ist – und Freiheit bedeute hier im Unterschied zur Sklaverei, dass man handeln und leben könne, wie man will.
Platons Freiheitsverständnis im Höhlengleichnis
Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob das wirklich die Idee der Freiheit ist, die Platon im Sinn hatte, als er auf sein Höhlengleichnis gekommen ist. Dort liegen, wie ich als bekannt voraussetze, alle Menschen in einer dunklen Höhle in Ketten und betrachten die Schatten an der Wand, die sie für die Realität halten. Einer von den Menschen wird dann aber aus seinen Ketten befreit und ihm wird die Wahrheit gezeigt: Dass das, was für die Realität gehalten wird, nichts als Schattenspiele sind.
Anschließend wird er aus der Höhle heraus an die Oberfläche geführt, wo er mit der wahren Realität der Ideenwelt in Bekanntschaft kommt. Zu guter Letzt wird er allerdings auch aus dieser Welt der Ideen wieder herausgezogen und zurück in die Höhle gebracht: Er soll nun die anderen befreien, die ihn allerdings nicht verstehen und auslachen, weil er, geblendet durch das Licht an der Oberfläche, die Schatten in der Höhle nicht mehr richtig wahrnimmt.
Man kann hier einige Elemente festhalten, die für eine andere Freiheitsvorstellung sprechen, als Menke für die Griechen rekonstruiert hat: Erstens ist die Befreiung keine Eigenleistung des Subjekts, sondern sie wird durch ein anderes Subjekt – mutmaßlich einen Pädagogen oder Philosophen wie Sokrates – geleistet. Zweitens besteht die Befreiung nicht in der Erkenntnis, dass man bereits frei ist, sondern im Gegenteil in der Erkenntnis, dass das normale Leben unfrei ist.
Freiheit besteht demgegenüber drittens in der Erkenntnis der Ideenwelt, insbesondere der Idee des Guten und der Idee der Gerechtigkeit. Die Erkenntnis dieser Ideen hat allerdings viertens einen dialektischen Effekt auf die Freiheit: Sie geben dem erkennenden Subjekt vor, was er zu tun hat, nämlich die anderen Bewohner der Höhle zur Erkenntnis der Ideen zu geleiten. Das freie Subjekt wird also in dieser Hinsicht durch die Erkenntnis des Guten und Gerechten unfrei: Das Gute, an dem ich mich in meiner Freiheit orientiere, gebietet es mir, andere zur Erkenntnis des Guten zu befreien.
Dies wäre also meine erste Kritik an Menke: Er übersieht, dass es schon bei Platon ein viel diffizileres Freiheits- und Befreiungskonzept gibt als das bloße Bewusstsein darüber, dass man bereits frei ist.
Die Knechtschaft der Gewohnheit
Aber gehen wir davon aus, dass Menke Recht damit hat, dass Befreiung im griechischen Sinn ein Akt des Bewusstwerdens darüber ist, dass man bereits frei ist. Menke zufolge führt diese Idee in eine Sackgasse:
„Denn die Befreiung zur Subjektivität führt in eine neue Knechtschaft. Diese Knechtschaft ist ganz anders als die, deren Erfahrung der griechischen Geschichte der westlichen Freiheit zugrunde liegt. Nach Raaflaubs These gründet die griechische Freiheit in der Erfahrung der Knechtschaft, die uns, uns Griechen, von den Persern droht; nach Pattersons These gründet sie in der Erfahrung der versklavten Herrin, die die Tragödie zu unser aller Erfahrung macht. […]
Es gibt aber noch eine ganz andere Erfahrung der Knechtschaft. Das ist die Erfahrung der Knechtschaft als Gewohnheit und der Gewohnheit als Knechtschaft. Diese Erfahrung der Knechtschaft ist anders als die, die der griechischen Idee der Freiheit zugrunde liegt, und zugleich ist sie dieser Idee immanent. Sie ist die innere Knechtschaft der griechischen Freiheit, die Knechtschaft, die sie in sich enthält und aus sich hervorbringt, indem sie die Freiheit an das Bewusstsein und damit an das Subjekt bindet.“
(Ebd., S. 65-66.)
Menke führt anhand einer Erläuterung von Israels Auszug aus Ägypten weiter aus:
„Der Begriff, der die Fortdauer der Knechtschaft nach dem Ende der Beherrschung erklärt, ist die Gewohnheit. Die Arbeit, die in der Befreiung bewusst wird, ist die Bildung von Gewohnheiten, das Hervorbringen einer zweiten Natur. Wir haben gesehen, wie sich das Subjekt in seiner Befreiung seine Vorgeschichte aneignet. Das geschieht, indem es sich bewusst macht, dass es – in Wahrheit – kein Sklave, also nicht sozial tot ist – wie die Herren und ihre Gesellschaft meinen –, weil es bereits handeln kann, und das heißt, dass es Gewohnheiten ausgebildet hat, die seine Identität ausmachen. […]
Die Knechtschaft dauert fort, weil sie zur Gewohnheit geworden ist. Dass sie zur Gewohnheit wird, bedeutet, dass sie zur Identität der Subjekte wird. Und das bedeutet: zu ihrer zweiten Natur, die sie zwar selbst, durch die Arbeit der Disziplin, hervorgebracht haben – daher zweite, andere Natur –, die die Subjekte von jetzt an aber so bestimmt wie die Natur; eine selbst hervorgebrachte Ordnung der Äußerlichkeit, die uns im Inneren determiniert. Die Knechtschaft kann den Subjekten daher nur deshalb zur Gewohnheit werden, weil die Gewohnheit selbst – als solche – ein Zustand der Knechtschaft ist.“
(Ebd., S. 80-81; Hervorhebungen im Original.)
Hat man wirklich keine Macht über seine Gewohnheiten?
Auch wenn ich Menke zugestehen würde, dass man die Macht der Gewohnheit nicht unterschätzen sollte, teile ich seine Auffassung nicht, dass Gewohnheiten eine Form von Knechtschaft darstellen. Es stimmt: Jede alltägliche Handlung neigt dazu, sich zu wiederholen und sich dadurch zu einer Gewohnheit auszubilden. Aber ich kann meine Gewohnheiten immer noch auf den Prüfstand stellen; ich kann dadurch eine Einstellung zu meinen Gewohnheiten ausbilden, und ich bin grundsätzlich in der Lage, meine Gewohnheiten zu ändern, wenn ich den Wunsch dazu verspüre.
Wie ändert man Gewohnheiten? Zwei praxisnahe Fallbeispiele
Das soll nicht heißen, dass sich Gewohnheiten einfach durch einen Entschluss des Willens ändern lassen. Man muss schon findiger und gewitzter vorgehen, als sich einfach nur darauf zu verlassen, dass die Gewohnheiten von alleine verschwinden – und ganz allgemein lässt sich schlecht sagen, wie man Gewohnheiten ändert. Aber man kann Beispiele und Hinweise geben.
Man könnte zum Beispiel die Gewohnheit haben, jeden Tag ein Nutella-Brot zu essen, möchte das aber nicht mehr, weil es ungesund ist und dick macht. Um diese Gewohnheit abzulegen, hilft in der Regel nicht der bloße Willensentschluss. Es gibt aber Mittel und Wege, von der Gewohnheit abzulassen. Der einfachste Weg besteht darin, schlicht kein Nutella mehr zu kaufen. Was man nicht im Hause hat, kann man auch nicht verzehren. Vielleicht sollte man aber für die Übergangszeit auf so etwas wie Marmelade umsteigen, um nicht jeden Mittag vor Heißhunger auszuticken. Das muss aber jeder selber wissen und ausprobieren.
Man könnte außerdem die Gewohnheit haben, in jeder freien Minute auf sein Handy zu starren und die neuesten Entwicklungen auf Instagram oder X zu verfolgen. Vielleicht möchte man das aber nicht mehr, weil der Zeitaufwand zu groß und der Ertrag zu gering ist. Auch hier wird der einfache Willensentschluss allein nicht helfen – der Blick aufs Handy ist schlichtweg zu einfach.
Man muss deshalb den Zugang zu sozialen Medien erschweren. Der radikalste Weg besteht darin, seine Social Media Accounts zu löschen, was die Verfolgung der neuesten Entwicklungen unmöglich macht. Diesen Weg will aber nicht unbedingt jeder gehen. Der nächstradikale Weg besteht darin, die entsprechenden Apps vom Handy zu löschen – man muss sich also im Browser einloggen, wenn man die sozialen Medien nutzen möchte. Das ist natürlich ziemlich nervig – aber das soll es ja auch sein.
Wenn man selbst diesen Weg nicht beschreiten will, lohnt sich ein Blick auf verschiedene Blockier-Apps, mit denen man den Zugang zu sozialen Medien oder seinem E-Mailaccount für bestimmte Zeitintervalle blocken kann. Ich bin ja eher ein Freund davon, einfach die Apps zu löschen – andererseits habe ich das Problem auch nicht, weil ich meine Zeit sinnvoller nutzen möchte als durch die sozialen Medien zu scrollen. Insofern kann und muss jeder seinen eigenen Weg finden.
Wir sind unseren Gewohnheiten nicht ausgeliefert
Um wieder zurück zu meinem Punkt zu kommen: Gewohnheiten sind mächtig, aber sie determinieren nicht das Handeln. Oder anders: Sie können das Handeln determinieren, müssen es aber nicht. Indem man sich seiner Gewohnheiten bewusst wird und sie auf den Prüfstand stellt, hat man eine (begrenzte, aber nicht verschwindend kleine) Macht darüber, welche Gewohnheiten man behalten und welche man überwinden möchte.
Man wird zwar nicht jede Gewohnheit überwinden können (vor allem nicht zeitgleich), aber man wird in der Regel auch gar nicht jede Gewohnheit überwinden wollen. Über manche Gewohnheiten ist man sicherlich froh, dass man sie hat. Manche gehen zum Beispiel morgens aus Gewohnheit laufen oder meditieren in der Mittagspause – ich beneide solche Menschen ein wenig um ihre gesunden Gewohnheiten. Aber auch nur ein wenig – ich habe mich nämlich entschieden, meine Zeit anders zu nutzen und andere Gewohnheiten auszubilden, wie etwa das Schreiben am Vormittag.
Und das ist vermutlich die Quintessenz meiner ganzen Kritik: Es stimmt zwar, dass es unser Schicksal ist, Gewohnheiten auszubilden – aber das bedeutet nicht, dass wir keine Kontrolle darüber haben, welche Gewohnheiten wir ausbilden. Vielmehr haben wir einen Freiheitsspielraum: Wir entscheiden darüber, welche Gewohnheiten zu unserem Schicksal werden. Und im Übrigen ist das auch ganz gut so – denn Gewohnheiten nehmen uns einiges an kognitiver Last ab und erleichtern den Alltag ungemein. Ein Leben ohne jede Gewohnheit wäre daher überhaupt nicht wünschenswert. Ich halte es deshalb insgesamt für falsch, Gewohnheiten als eine Form von Knechtschaft zu beschreiben.
Die Exodus-Geschichte als Modell der Befreiung
Menke untersucht anhand von Breaking Bad und der Exodus-Geschichte zwei Modelle radikaler Befreiung, nämlich die ökonomische und die religiöse Befreiung. Beide Modelle scheitern Menke zufolge.
Das Scheitern des ökonomischen Modells würde ich so auf den Punkt bringen: Ökonomische Befreiung geschieht so, dass das Subjekt aus einer abhängigen Beschäftigung zu einer selbstständigen Tätigkeit übergeht – aber auch als Selbstständiger wird das Subjekt feststellen, dass der unternehmerische Erfolg davon abhängt, ob seine Produkte oder Dienstleistungen auch einen Käufer finden. Auch als Unternehmer ist man also abhängig davon, dass die eigenen Produkte einen Markt finden. Ökonomisch gibt es keinen Ausweg aus der Abhängigkeit des Subjekts von der Gesellschaft. Ob das auch Menkes Punkt ist? Ich weiß es nicht genau, immerhin füllt Menke 100 Seiten zu diesem Thema. Aber ich glaube, weit ab vom Schuss liege ich mit meiner knappen Zusammenfassung nicht.
Interessanter ist aus meiner Sicht das Scheitern des religiösen Modells der Befreiung – interessanter, weil falsch. Zunächst einmal ist es seltsam, wie Menke die Exodus-Geschichte liest: Er interessiert sich vor allem für die Lesart, dass Mose in der Episode des brennenden Dornbuschs befreit wird. Aber das ist nicht meine Lesart. In der Exodus-Geschichte geht es primär darum, wie Gott durch Mose das Volk Israel befreit – und zwar nicht dadurch, dass das Volk Israel aus Ägypten in die Wüste zieht, sondern indem es durch die Wüste ins gelobte Land geführt wird.
Ich möchte es nochmal hervorheben: Das Volk Israel ist nach dem Auszug aus Ägypten in die Wüste mitnichten frei. Erst dadurch, dass das Volk Israel das gelobte Land betritt und für sich einnimmt, wird Israel frei – und das heißt: Das Volk wird frei. Es ist die Befreiungsgeschichte eines Volkes, und nicht eines Individuums, Mose. Dabei muss man noch hinzufügen, dass vornehmlich die Kinder des Volkes Israel befreit werden – durch ihr ständiges Murren haben die meisten Israeliten nämlich in Gottes Augen ihr Anrecht auf das gelobte Land verspielt (vgl. 4. Mose, Kapitel 14).
Man kann sogar die Ansicht vertreten, dass Moses die unfreiste Person der ganzen Exodus-Geschichte ist: Er steht unter dem Diktat Gottes und muss die Last des Volkes Israel tragen (vgl. 4. Mose, Kapitel 11), während er am Ende auch noch das Schicksal erleiden muss, das gelobte Land nur von ferne zu sehen – er darf es nicht betreten, weil er ein Gebot Gottes übertreten hat (vgl. 4. Mose, Kapitel 20).
Menkes paulinische Deutung des göttlichen Gebots
Es ist also aus meiner Sicht bereits schräg und nicht sehr bibelfest, den Exodus-Bericht als einen Bericht der Befreiung Mose zu lesen. Aber es kommt noch schlimmer – denn an der Deutung der Befreiung kleben paulinisch-christliche Eierschalen. Gottes Gebot besteht nämlich Menke zufolge in einer Überforderung des Subjekts: Gottes Gebot lässt sich nicht einhalten. In Menkes Worten:
„Das Gebot zu hören heißt, ‚sich an der Vollkommenheit des Unendlichen zu messen‘, und weil es das Sichmessen an der Vollkommenheit ist, und das heißt: nicht am sittlich Guten, das durch Gesetze bestimmt wird, kann es nichts anderes bedeuten, als zum ‚Bewußtsein der eigenen Unwürdigkeit‘ zu gelangen. Die religiöse Transformation besteht darin, sich an einem Maß (‚Vollkommenheit‘) zu messen, gemessen an dem das endliche Selbst nur unwürdig sein kann, das es also verfehlen muss. Im Gegensatz zum sittlichen Gesetz, dessen normative Macht nur so weit reicht wie das Können, heißt das Gebot zu hören, nicht mehr und nicht weniger als zu verstehen, dass man es nicht erfüllen kann – die eigene Überforderung anzuerkennen.“
(Theorie der Befreiung, S. 403.)
Diese Sätze hätten von Paulus kommen können – aber nicht von den Verfassern des Alten Testaments bzw. der Thora. Denn ein roter Faden, der sich durch die Thora zieht, lautet: Die Gebote des Herrn sind leicht zu befolgen, aber Israel scheitert immer wieder an ihrer Einhaltung, und hat deshalb sein Schicksal verdient. Fast jedes Buch des Alten Testaments lässt sich daher auch als Ruf zur Umkehr deuten: Als Ruf an das Volk Israel, sich des alten Bundes mit Gott zu erinnern und seine Gebote zu halten, damit es Gottes Segen erhält und in Freiheit im gelobten Land leben kann.
Ein Bewusstsein der eigenen Unwürdigkeit gibt es eigentlich nur bei Paulus. Im Schöpfungsbericht von Genesis ist der Mensch vielmehr ein bewunderungswürdiges Abbild Gottes und die „sehr gute“ Krönung seiner Schöpfung; ein Gedanke, der meines Erachtens weitaus befreiender und erhebender ist als die Idee der eigenen Unwürdigkeit im Angesicht Gottes.
Fazit
Man könnte wie immer noch viel mehr über Christoph Menkes Buch Theorie der Befreiung schreiben – aber ich nehme mir die Freiheit, meinen Text hier zu beenden. Alles in allem war sein Werk durchaus faszinierend – aber am Ende des Tages halte ich seinen Ansatz, die Befreiung in der Faszination der Erfahrung zu suchen, für verfehlt. Meines Erachtens bleibt der freie Wille eines Lebewesens seine Fähigkeit zur Modifikation seines Handlungsspielraums – und diese Fähigkeit lässt sich trainieren und einüben. (Wenn man es denn darauf anlegen möchte, möglichst frei zu werden.) Wir brauchen daher meines Erachtens keine Theorie der Freiheit mehr, sondern eine Praxis der Freiheit; oder eine Untersuchung der Freiheitsspielräume in praktischer Absicht. Vielleicht sollte ich sowas mal schreiben. Sonst macht es ja keiner.