Schizophrenie ist echt eine selten beschissene Krankheit. Meine letzte Psychose ist jetzt gut zweieinhalb Jahre her, und bei allen Fortschritten, die meine Negativsymptomatik gemacht hat, bin ich immer noch nicht über den Berg. Ich sehe vor allem drei Defizite. Erstens habe ich mitunter immer noch mit Antriebsschwächen zu kämpfen: Ich komme einfach nicht aus dem Quark und würde mich am liebsten direkt wieder ins Bett legen. Vor ein paar Tagen habe ich das auch gemacht. Heute habe ich aber gegen meinen inneren Schweinehund angekämpft und beschlossen, zumindest diesen tagebuchartigen Eintrag zu schreiben. Immerhin etwas.
Zweitens habe ich gefühlt meinen Humor verloren: Ich lache nur noch sehr selten, und mir fallen auch so gut wie nie irgendwelche lustigen Dinge ein. Das war früher definitiv anders: Da sprudelten die lustigen Ideen, die mich selber zum lachen brachten, nur so aus mir heraus. Vielleicht ist es auch ein Effekt des Älterwerdens: Je älter man wird, desto weniger lacht man – und in den letzten fünf Jahren seit meiner ersten Psychose gab es aufgrund der jahrelangen Negativsymptomatik nach den Psychosen sowieso wenig zu lachen. Ich weiß also nicht, wieviel von meinem Humorverlust Negativsymptomatik ist, und wieviel einfach dem Lauf der Zeit zuzuschreiben ist.
Drittens aber, und das ist für mich der Hammer: Ich komme mir insgesamt verglichen mit früher einfach saudumm vor. Ich weiß nicht genau, was es ist: Die Nachwirkung der Psychose, die Medikamente oder die mangelnde geistige Stimulation – aber ich komme mir definitiv dümmer vor als früher. Ich habe größere Schwierigkeiten, philosophischer Fachliteratur zu folgen. Außerdem bin ich völlig unkreativ geworden. Ich habe gefühlt einfach keine Gedanken, die es sich zu haben lohnt. Das geht mir zwar schon seit Jahren so. Aber erst seit ein paar Tagen habe ich das Gefühl, dass es mir auch psychisch zusetzt.
Das liegt vielleicht daran, dass ich einen Großteil meines Selbstwerts aus meiner Intelligenz bezogen habe: Ich bin etwas wert, weil ich intelligenter bin als die meisten. Ich habe zwar nie einen professionellen IQ-Test gemacht, aber ich habe mit drei Jahren lesen gelernt – wer kann das schon von sich sagen? Wenn nun aber die Schizophrenie an meine Intelligenz die Axt anlegt, legt sie damit gleichsam auch an meinen Selbstwert die Axt an: Was bin ich noch wert, wenn ich nicht mehr schlauer bin als die anderen?
Dieser Gedanke nagt seit ein paar Tagen jedenfalls an mir. Ich habe kürzlich noch von jemandem gelesen, der durch seine Therapie gelernt hat, sich selbst trotz beziehungsweise mit seiner Krankheit wertzuschätzen und sich einen Selbstwert zuzusprechen, unabhängig von dem, was er leistet oder ist. Ich bin jetzt über zwei Jahre in Therapie – aber mir ist das noch nicht geglückt. Mein Selbstwert ist und bleibt (?) leistungsabhängig. Und das macht mir zu schaffen, weil ich durch die Schizophrenie nicht in der Lage bin, so viel zu leisten wie andere. Deshalb möchte ich nun versuchen, meinen eigenen leistungsabhängigen Selbstwert aus verschiedenen Richtungen unter Beschuss zu nehmen.
Zunächst einmal muss ich mir selbst einen Vorwurf machen: Ich bin ganz offensichtlich nicht frei von Eigendünkel. Weil ich intelligenter bin, halte ich mich für etwas Besseres als die anderen. In mir regt sich ein gewisser Widerspruch, wenn ich das so formuliere. Wenn ich an meine Freunde denke, denke ich bei keinem, dass ich besser wäre als er, oder dass ich mehr wert bin, weil ich intelligenter bin. Warum nicht?
Nun, ich würde sagen: Ein mehr oder weniger wertvoll gibt es für mich in Bezug auf Menschen nicht. Menschen haben einen Wert, oder sie haben keinen Wert. Den Wert von Menschen kann man nicht gegeneinander aufwiegen – so jedenfalls meine Intuition, hinter der ich stehe. Nun aber die Preisfrage: Wenn das so ist, und wenn ich meinen Freunden einen Wert zuschreibe, auch wenn sie nicht so intelligent sind wie ich es früher war – warum schreibe ich mir dann keinen Wert zu? Ich komme mir zwar im Vergleich zu früher dumm vor, aber ich würde mich in meinem gegenwärtigen Zustand auch nicht für dümmer als meine Freunde halten. Vermutlich sind wir jetzt auf einem ähnlichen Level. Umso drängender die Frage: Warum schreibe ich mir keinen Wert zu, meinen Freunden aber schon?
Gehen wir noch weiter, denn hier gibt es noch eine drängende Frage: Gibt es überhaupt Menschen – abgesehen von mir – denen ich keinen Wert zuschreiben würde? Damit würde ich mich auf jeden Fall über das Grundgesetz stellen, denn die Würde des Menschen – jedes Menschen – ist unantastbar. Diesem Grundsatz möchte ich auf jeden Fall nicht widersprechen. Aber ich lande in einer Art Zweifel: Woher rührt die Menschenwürde eines Menschen? Warum kommt jedem Menschen qua Menschsein eine Würde, ein Wert zu? Und warum nicht auch Tieren? Auf diese Fragen habe ich keine Antwort. Sollte ich darüber nachdenken? Oder führt mich das vom Thema ab?
Es gibt in mir jedenfalls zwei Weisen, wie ich den Wert von Menschen beurteile. Die erste Weise besteht darin, jedem Menschen einen Wert zuzuschreiben, unabhängig von Leistung, Verdienst oder ähnlichem. Auf diese Weise betrachte ich mich aber nie. Wenn ich mich betrachte, und meinen Wert eruiere, dann beurteile ich mich nach der Leistung, die ich erbringe. Sehen wir nun zu, was passiert, wenn ich diesen Wertmaßstab auf andere übertrage.
Im Moment bin ich im Wesentlichen Hausmann und Vater: Ich wasche die Wäsche, kaufe ein und kümmere mich um meine Kinder, wenn sie von der Kita nach Hause kommen. Außerdem bin ich meistens dafür zuständig, das Abendessen zu kochen und anschließend die Küche sauber zu machen. Das ist eine Leistung, die ich vollbringe. Aber irgendwie werte ich diese Leistungen bei mir selber ab: Sie zählen nicht. Würde ich auch Hausfrauen und Müttern absprechen, dass sie etwas leisten? Auf keinen Fall – ich weiß ja aus eigener Anschauung, wie anstrengend der Job ist. Aber warum rechne ich mir das nicht an?
Aus irgendeinem seltsamen Grund zählt das für mich nicht. Aber was zählt? Würde ich mich besser fühlen, wenn ich beispielsweise Müllmann werden würde? Müllmänner leisten für mein Empfinden einen herausragenden Dienst – was würden wir tun, wenn es keine Müllmänner gäbe? Aber ich könnte damit nicht leben – ich suche eine Aufgabe, die mich erfüllt. Und diese Aufgabe habe ich eigentlich gefunden: Schreiben erfüllt mich. Und dann nagt doch wieder ein Zweifel an mir: Hat das Schreiben wirklich einen Wert? Für wen?
Irgendwie habe ich mich in eine paradoxe Lage manövriert. Auf der einen Seite würde ich am liebsten nur schreiben, sehe im Schreiben den Hauptaspekt, der meinem Leben einen Sinn verleiht, mein wertvollstes Tun. Auf der anderen Seite zweifle ich aber doch daran, dass mein Schreiben überhaupt einen Sinn und Wert hat. Für wen mache ich das? Für mich allein? Was soll das bringen? Oder schreibe ich für andere? Aber für wen? Wem soll ein Text wie dieser nützen, wenn nicht mir allein?
Hier ist noch ein gewichtiges Problem. Stellen wir erst einmal fest, dass ich mich selbst anhand meiner Leistung beurteile, und zwar einzig anhand meiner Leistung, die ich im Schreiben vollbringe. Dann stellt sich die Frage: Wann habe ich genug geleistet? Die verstörende, für mich aber leider offensichtliche Antwort lautet: Nie! Es ist nie genug. Nach dem Text ist vor dem Text. Ich muss immer weiter schreiben, um mir immerzu meinen eigenen Selbstwert zu beweisen.
Damit hat mein leistungsabhängiger Selbstwert einen offensichtlichen Haken: Ich kann meinen eigenen Ansprüchen an mich selbst nie genügen. Mein leistungsabhängiger Selbstwert ist wie die Karotte, die man vor einem Pferd baumeln lässt, um es zum Laufen zu bewegen: Das Pferd setzt sich in Bewegung, aber es wird die Karotte niemals erreichen. Und genauso wenig werde ich einen Zustand erreichen, in dem ich sagen kann, dass ich mir durch meine Leistung meinen Selbstwert verdient habe. Der leistungsabhängige Selbstwert ist eine Fata Morgana. Die Oase, in der ich mich auf meinen Lorbeeren ausruhen kann, existiert nicht. Wenn ich meinen Selbstwert von meiner Leistung abhängig mache, werde ich bis an mein Lebensende unglücklich sein.
Ich fasse zusammen: Ich beziehe meinen Selbstwert aus dem, was ich schreibe – und aus nichts anderem. Meine sonstigen Leistungen zählen für mich nicht – das gilt auch für vergangene Leistungen. Das führt dazu, dass ich niemals einen Zustand erreichen kann, in dem ich mir meinen Selbstwert verdient habe – ich strampele mich in meinem Bemühen ab, bis ich tot umfalle.
Es bieten sich nun zwei Lösungen an. Erstens könnte ich meine restlichen Leistungen aufwerten und anerkennen, dass ich im Alltag schon hinreichende Leistungen vollbringe, um mir einen Selbstwert zuschreiben zu können. Zweitens aber – und das wäre die noch einfachere Lösung – könnte ich dazu übergehen, mir das Grundgesetz in Fleisch und Blut übergehen zu lassen und mir selbst einen Wert, eine Würde, ganz unabhängig von meinen Leistungen zuzuschreiben.
Auch wenn letzteres die einfachste Lösung wäre, fällt sie mir doch sehr schwer. Irgendetwas in mir sträubt sich dagegen, mir selbst einen leistungsunabhängigen Wert zuzuschreiben. Und doch muss ich vermutlich genau daran arbeiten, wenn ich mich nicht vergebens abmühen möchte, einen Selbstwert durch besondere Leistungen zu erarbeiten. Mit diesem Gedanken verabschiede ich mich in die Weihnachtspause. Ich wünsche meinen Lesern frohe Weihnachten und einen guten Rutsch ins neue Jahr!