Mit diesem Beitrag beende ich meine kurze Serie über Jan Skudlareks Buch Wahrheit und Verschwörung (Reclam, 2019). In meinem ersten Beitrag habe ich mich mit dem Begriff der Echtheit auseinandergesetzt. In meinem zweiten Beitrag ging es um den Begriff des Zweifels. In diesem letzten Beitrag geht es um das attraktivste der drei Themen: Sexyness.
Skudlarek ist der Ansicht, Verschwörungstheorien hätten „eine gewisse intellektuelle Sexyness“:
„Weil sie an diese grundlegende menschliche Sehnsucht nach Wahrheit und Echtheit anknüpfen. Sie machen attraktive Vorschläge zur Erklärung der Wirklichkeit. Vorschläge, die oft nicht viel mit der Realität zu tun haben, die sich aber ziemlich wahr anfühlen.“ (Ebd., S. 28; Hervorhebung im Original.)
Meine Frage, die ich in diesem Blogeintrag zu beantworten versuchen möchte, lautet: Was macht Verschwörungstheorien attraktiv oder sexy?
Im Metapherngestöber der Sexyness
Zunächst möchte ich analysieren, welche Bedeutungselemente bei der Zuschreibung von „Attraktivität“ und „Sexyness“ von Verschwörungstheorien mitschwingt.
Sexy impliziert schön
An vorderster Stelle würden wir von attraktiven und sexy Menschen auch sagen, dass sie schön sind. Zwar ist nicht jeder schöne Mensch sexy – aber umgekehrt ist jeder sexy Mensch auch schön. Wann ist nun eine Theorie schön? Ich würde sagen, dass bei einer schönen Theorie im Allgemeinen drei Momente zusammenkommen. Erstens ist eine Theorie schön, wenn sie mit möglichst wenigen Annahmen auskommt. Zweitens ist eine Theorie schön, wenn sie möglichst viel erklärt. Und drittens ist eine Theorie schön, wenn sie möglichst leicht verständlich ist. Ein Beispiel für eine solche schöne Theorie ist Darwins Evolutionstheorie. Physiker werden auch Einsteins Relativitätstheorie oder die Quantenmechanik dazu zählen – auch wenn beide aufgrund ihrer unintuitiven Implikationen (und ihrer mathematischen Sprache) nicht ganz leicht verständlich sind.
Sexyness ruft triebhafte emotionale Reaktionen hervor
Ein Mensch, der sexy ist, ruft bei uns eine triebhafte emotionale Reaktion hervor, die bis ins körperliche gehen kann. Diese triebhafte Reaktion können wir mit unserem Verstand nicht kontrollieren – sie kann sich also auch gegen unseren Willen durchsetzen und manifestieren. Angewandt auf eine Theorie heißt das: Nicht unsere Ratio wird angesprochen, sondern unsere Emotionen – und zwar triebhafte Emotionen.
Welche Triebe werden durch Verschwörungstheorien angesprochen?
Der meines Erachtens grundlegende Trieb, den Verschwörungstheorien ansprechen, ist ein sozialer Trieb: Verschwörungstheorien besagen, dass es „Feinde in unserer Mitte“ gibt; böse Menschen, die uns belügen, um uns besser kontrollieren und manipulieren zu können. Unsere Gemeinschaft oder Gesellschaft wird also aufgeteilt in Gut und Schlecht – und wir gehören natürlich zu den Guten, die von ihnen, den Schlechten, an der Nase herumgeführt werden, wenn nicht Schlimmeres. Dass der Mensch sich als Teil einer Gruppe versteht, ist dabei ein natürlicher Trieb: Wir sind soziale Herdentiere; oder wie Aristoteles sagt: Der Mensch ist ein zoon politikon.
Skudlarek spricht noch einen weiteren Trieb an, der für Verschwörungstheorien anfällig macht: Der Drang zur Einzigartigkeit. Menschen, die sich selbst als einzigartig verstehen beziehungsweise einzigartig sein wollen, sind Untersuchungen zufolge anfälliger dafür, Verschwörungstheorien zu glauben: Man ist im Besitz einer geheimen Wahrheit; man durchschaut das Geschehen besser als der Durchschnittsmensch; man ist etwas Besonderes. (Vgl. ebd., S. 70-75.)
Sexyness und Gefahr
Sexy Menschen haben oft etwas verruchtes an sich, vor allem wenn sie Rot tragen: Eine Signalfarbe, die eine gewisse Gefahr ausstrahlt, die vom Träger ausgeht. Man denke auch an die Femme Fatale aus dem Film Noir, deren Attraktivität den Untergang der Hauptperson einläutet. Die Analogie zur Verschwörungstheorie ist leicht hergestellt: Verschwörungstheorien sind etwas Schmuddliges, etwas Verruchtes, fast schon Verbotenes; aber gerade das macht sie so reizvoll – wie jedes Kind weiß, das manchmal etwas nur deshalb machen möchte, weil es von den Eltern verboten wurde.
Sexyness und Verhüllung
Auch wenn es in einem Porno nur um das eine geht, würde man die Hauptpersonen niemals als sexy bezeichnen – egal wie attraktiv sie sind. Das hat mit dem Sex-Appeal der Verhüllung zu tun: Eine Person, die sich sexy kleidet, spielt mit ihren Reizen; sie zeigt nicht alles, sondern lässt immer noch ein gewisses Geheimnis offen. So ist es auch bei Verschwörungstheorien: Die Hintermänner bleiben meistens im Dunkeln; eine Verschwörungstheorie ist umso attraktiver, je abstrakter die Strippenzieher gehalten werden. Das erklärt vielleicht, warum nur noch eine Minderheit von Reptiloiden oder Juden spricht und die meisten dem abstrakten US-amerikanischen „Deep State“ die Schuld an allem in die Schuhe schieben.
Sexyness und Selbstbewusstsein
Apropos Spiel mit den Reizen: Wer mit seinen Reizen spielen möchte, muss dazu selbstbewusst auftreten. Auch dies lässt sich auf Verschwörungstheorien anwenden: Ein Vertreter einer Verschwörungstheorie muss selbstbewusst von seinen eigenen Theorien überzeugt sein; ein skeptischer Haderer und Zauderer überzeugt niemanden und wirkt nicht attraktiv. Allerdings ist Selbstbewusstsein allein nicht alles – jeder wird Beispiele für Menschen kennen, die zwar selbstbewusst auftreten, aber keinen Deut sexy sind. Selbstbewusstsein ist also höchstens eine notwendige Bedingung für Sexyness und allein nicht hinreichend.
Die Sexyness von Verschwörungstheorien: Eine erstaunlich tragfähige Metapher
Wir sehen also, dass sich das Attribut der Sexyness nach einer Analyse als durchaus tragfähige Metapher zur Einordnung von Verschwörungstheorien erweist. Manchmal stehen die Elemente miteinander im Widerspruch: So ist es einerseits ziemlich unsexy, die Juden als Hintermänner einer Weltverschwörung zu inszenieren, weil dies einer Enthüllung des Geheimnisses gleichkommt. Andererseits ist es für einen Verschwörungstheoretiker ziemlich gefährlich, sich in dieser Weise gegen die Juden zu positionieren. Das macht vielleicht immer noch einen gewissen Reiz dieser Verschwörungstheorie aus.
Sind Mainstream-Erzählungen unsexy?
Es gibt zwei Arten von Mainstream-Vorurteilen, die zu dezidiert unschönen Erklärungen führen. Das erste Vorurteil lautet, dass die Wirklichkeit zu komplex ist, um sie vollständig zu verstehen. Das mag zwar stimmen, erklärt aber gar nichts – außer die eigene Unfähigkeit, ein überzeugendes Narrativ zu entwickeln, in dem sich das Weltgeschehen abspielt.
Das zweite Vorurteil lautet, dass geschichtliche Ereignisse oftmals nicht kausal miteinander verknüpft sind, sondern dass zu großen Teilen König Zufall regiert. Auch das mag stimmen, führt aber ebenfalls zu unattraktiven Ergebnissen, weil der Zufall per se gar nichts erklärt.
Auch die anderen Charakteristika von sexy Erklärungsmodellen werden vom Mainstream nicht erfüllt. Ich glaube zwar, dass es de facto für uns alle gefährlich ist, Putin zu dämonisieren und die Gesellschaft auf einen Krieg mit Russland vorzubereiten – aber eine solche Ansicht zu äußern erfordert im derzeitigen Klima keinen Mut, ist also nicht gefährlich für den Äußernden. Viel gefährlicher ist es, sich selbst als Putin-Versteher zu positionieren: Solche Personen stehen in der Gesellschaft im Abseits und haben etwas Verruchtes, Gefährliches, die Gesellschaft zersetzendes an sich. Die Kriegstreiber sind daher heutzutage viel weniger sexy als die Pazifisten.
Der Mainstream-Journalismus ist außerdem stets auf Enthüllung aus, hat also per se etwas Unerotisches an sich. Das ist gar nicht als Kritik gemeint, sondern als Feststellung: In dieser Dimension der Sexyness kann der Mainstream-Journalismus gar nicht mit Verschwörungstheorien in Konkurrenz treten.
Was vermeintlich sexy am derzeitigen Mainstream-Journalismus ist, und was er vielleicht von den Verschwörungstheoretikern kopiert hat, ist die selbstbewusste und klare Aufteilung der Welt in ein Freund-Feind-Schema. Verschwörungstheoretiker: Schlecht. AfD: Schlecht. Die politische Mitte: Gut. Russland: Schlecht. Assad: Schlecht. Donald Trump: Schlecht. Kamala Harris: Gut. Und so weiter. Vermeintlich sexy – weil diese unverhohlene und unverhüllte Zurschaustellung der eigenen Sympathien eher dem Geschlechtsakt selbst gleicht als dem erotischen Spiel mit den Reizen.
Ich habe seit der Corona-Pandemie das Gefühl, dass der Mainstream-Journalismus aufgehört hat, mit seinem größtem Pfund zu wuchern: Seiner Neutralität und Objektivität. Seit Corona habe ich den Eindruck, dass sich die Medien mehr als Hüter der Demokratie und der alten politischen Ordnung verstehen, und nicht mehr ihre Aufgabe als vierte Gewalt wahrnehmen, die allen anderen Organen kritisch auf die Finger schaut.
Ein Wort der Klarstellung zum Abschluss
In diesem Beitrag habe ich nicht darstellen wollen, warum Verschwörungstheorien gut sind. Ich habe mich in dieser Angelegenheit auf keine Seite schlagen wollen. Ich wollte klären, warum Verschwörungstheorien attraktiv, oder spezieller: Warum sie sexy sind. Eine Verschwörungstheorie kann durchaus eine Femme Fatale sein. Darum geht es mir aber in diesem Blogeintrag nicht. Ich wollte bloß ganz abstrakt die Anziehungskraft von Verschwörungstheorien erklären. Und mir scheint, dass Skudlareks Metapher der intellektuellen Sexyness hierfür mehr leistet, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mochte.