Die Schöpfungsgeschichte der Bibel ist oberflächlich betrachtet einer der bekanntesten Mythen der gesamten Menschheitsgeschichte – und doch birgt sie für den aufmerksamen Leser viele Geheimnisse, die philosophisch und denkerisch meines Erachtens noch gar nicht erschlossen sind. In diesem Blogeintrag möchte ich mich einem dieser Geheimnisse widmen: Dem Zusammenhang zwischen dem Baum des Lebens und dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Ich empfehle dem geneigten Leser dringend, sich zur Einstimmung auf diesen Beitrag die gesamte zweite Schöpfungsgeschichte im Buch Genesis, Kapitel 2-3, durchzulesen.
Wie viele Bäume stehen in der Mitte des Garten Eden? Eine Problemrekonstruktion
Die zweite Schöpfungsgeschichte wirft eine Menge Fragen auf, die ich in diesem Blogeintrag nicht beantworten kann und möchte. Ich möchte mich auf eine einzige Frage beschränken, die mich über Monate hinweg immer wieder beschäftigt hat und auf die ich endlich eine befriedigende Antwort gefunden zu haben glaube. Die Frage lautet: Sind der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zwei Bäume oder nur einer?
Ich möchte gar nicht darauf eingehen, wie ich persönlich auf diese Frage gestoßen bin – stattdessen möchte ich den Leser selbst auf eine kleine Ungereimtheit stoßen, auf die man nur bei äußerst genauer Lektüre aufmerksam wird und in der Regel einfach überliest. In Genesis 2, 9 wird berichtet, dass Gott in der Mitte des Gartens den Baum des Lebens gepflanzt hat und den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Hätten wir nur diesen Vers, würden wir vermutlich denken, dass es sich um zwei Bäume handelt. In Genesis 2, 16-17 gebietet Gott dem Menschen, von allen Bäumen außer dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen.
In der Geschichte des Sündenfalls stoßen wir nun auf eine kleine Ungereimtheit: Denn wir erfahren in Genesis 3, 3 von Eva, dass Gott gesagt habe, man dürfe nicht vom Baum in der Mitte des Gartens essen. Wir erinnern uns allerdings, dass in der Mitte des Gartens der Baum des Lebens gepflanzt wurde – und Gott hat dem Menschen explizit erlaubt, von allen Bäumen zu essen, außer vom Baum der Erkenntnis! Also ist es doch merkwürdig, dass Eva den Baum der Erkenntnis als den Baum in der Mitte des Gartens identifiziert, wo der Baum in der Mitte des Gartens doch der Baum des Lebens ist! Man könnte nun also denken, dass der Baum des Lebens identisch mit dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse ist: Vielleicht handelt es sich hier um einen Baum mit zwei Namen?
Nachdem Gott allerdings erfährt, dass Adam und Eva vom verbotenen Baum in der Mitte des Gartens genascht haben, verknüpft er seinen Rauswurf der beiden aus dem Garten Eden mit der Begründung, dass die beiden nicht auch noch vom Baum des Lebens essen und damit zu ewigem Leben kommen sollen (vgl. Genesis 3, 23). Der Baum des Lebens kann also nicht identisch mit dem Baum der Erkenntnis sein, denn in dem Fall hätten Adam und Eva ja schon vom Baum des Lebens gegessen, und das haben sie offensichtlich nicht.
Nun stellt sich aber doch die folgende Frage: Wie kann es sein, dass Eva den Baum in der Mitte des Gartens mit dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse identifiziert, obwohl der Baum in der Mitte des Gartens der Baum des Lebens ist – und wie kann es ferner sein, dass sich in der Folge herausstellt, dass Eva den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse korrekt identifiziert hat?
Weiter stellt sich die Frage: Wenn Eva dachte, dass der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse in der Mitte des Gartens steht, und wenn der Baum des Lebens ein anderer Baum als der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse ist: War es einfach Zufall oder Pech, dass Adam und Eva nicht bereits vorher vom Baum des Lebens gegessen haben? Sie hätten es ja tun dürfen, aber wie es scheint haben sie es nicht getan. Warum nicht?
Mein Lösungsvorschlag lautet wie folgt: Man kann, abhängig vom Kontext, sowohl von dem Baum in der Mitte des Gartens sprechen als auch von den Bäumen in der Mitte des Gartens; mit anderen Worten: In der Mitte des Gartens befindet sich aus einer Perspektive betrachtet nur ein Baum, und aus einer anderen Perspektive betrachtet befinden sich dort zwei Bäume. Das klingt logisch widersprüchlich und wurde vielleicht deshalb meines Wissens in der Literatur kaum berücksichtigt. (Eine relativ junge Ausnahme findet sich in diesem Artikel, allerdings liegt er hinter einer Paywall, sodass wir am Wissen des Autors leider nicht teilhaben können…)
Ein Exkurs über die siamesischen Zwillinge Abigail und Brittany Hensel
Um den Leser auf meine Lösung vorzubereiten, möge er sich im folgenden Video einen kurzen Eindruck der Geschwister Abigail und Brittany Hensel verschaffen. Seit ich das erste Mal ein Video von ihnen gesehen habe, haben sich die beiden in meine Seele eingebrannt: Denn für einen äußeren Beobachter sieht es so aus, als würden zwei Köpfe und damit zwei Personen sich einen menschlichen Körper teilen!
Ein wenig täuscht der Eindruck, da es eines gewaltigen Lernprozesses der beiden Zwillinge bedurfte, ihre Handlungen und Bewegungen aufeinander abzustimmen. Allerdings ist ihr Erfolg in dieser Hinsicht einfach erstaunlich: Sie haben nicht nur erfolgreich eine Fahrprüfung absolviert (besser gesagt zwei Fahrprüfungen: Eine für jede Person!), sondern sogar einen universitären Abschluss gemacht – die beiden sind heute Lehrerinnen für die fünfte Klasse in Minnesota.
Werden wir nun im zeitgenössischen Sinne metaphysisch, so können wir fragen: Mit wie vielen Entitäten haben wir es bei den Hensel-Schwestern eigentlich zu tun? Einerseits könnte man sagen, dass es offensichtlich zwei Entitäten sind: Zum einen Abigail, zum anderen Brittany – denn wir können mit beiden Geschwistern sprechen und sie werden bisweilen durchaus unterschiedlicher Ansicht sein. Auch die Fahrprüfungsbehörde war dieser Ansicht, als sie eine Fahrprüfung von beiden Geschwistern verlangte. (Leider beziehen sie für ihre Arbeit nicht das doppelte Gehalt, da sie nur in einer Klasse zugleich sein können.)
Andererseits könnte aber jemand die berechtigte Frage stellen, wo denn biologisch oder physikalisch gesprochen die Grenze zwischen den beiden Geschwistern gezogen werden sollte. Psychologisch mag es klar sein, dass wir es mit zwei Personen zu tun haben. Aber biologisch betrachtet handelt es sich doch eindeutig um einen Organismus, der einfach die Besonderheit aufweist, zwei Köpfe zu haben und damit zwei Steuerungszentren. Aber was für den Menschen ungewöhnlich ist, ist für einen Oktopus ganz normal: Kraken haben für jeden Arm ein eigenes Steuerungszentrum – und wir würden doch nicht davon ausgehen, dass wir es bei einem Kraken mit mehreren Entitäten zu tun haben!
Mir geht es nicht darum, diese ontologische Frage zu entscheiden – ich halte sie nicht nur für völlig müßig, sondern ich bin im Gegenteil davon überzeugt, dass es im Allgemeinen bereichernd und nützlich sein wird, beide Perspektiven einnehmen zu können: Und sei es nur, um einseitigen philosophischen Sichtweisen auf die Welt einen Riegel vorzuschieben.
Der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis: Siamesische Zwillinge?!
Kehren wir nach diesem kleinen Exkurs über die siamesischen Hensel-Zwillinge zu unserer Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Baum des Lebens und dem Baum der Erkenntnis zurück, so erschließt sich uns eine ganz einfache Lösung der vom Schöpfungsbericht aufgeworfenen, vermeintlichen Unstimmigkeit: Der Widerspruch löst sich auf, wenn der Baum in der Mitte des Gartens, analog zu den Hensel-Schwestern, die Form des Buchstabens Y hat.
Es gibt also einen Stamm mit einer Wurzel, aus dem zwei verschiedene Bäume wachsen: Der Baum des Lebens auf der einen Seite und der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen auf der anderen Seite. Für Adam und Eva sieht es daher so aus, als würde in der Mitte des Gartens ein Baum stehen, den Gott ihrer Ansicht nach den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen genannt hat; während wir als Leser wissen, dass sich in der Mitte des Gartens in Wahrheit zwei Bäume befinden, die Adam und Eva leider nicht voneinander unterscheiden können.
Eva denkt also völlig nachvollziehbarerweise, sie dürfte nichts vom gesamten Y-förmigen Baum essen – vielleicht hat Adam ihr gesagt, dass man von „dem Baum in der Mitte des Gartens“ nichts essen durfte, so wie er ihr mutmaßlich auch gesagt haben wird, dass man die Früchte dieses Baumes nicht einmal anfassen dürfe. In Wahrheit hat Gott aber lediglich verboten, die Früchte von einer Seite des Y-Baums zu essen, während die andere Seite des Y-Baumes nicht nur erlaubt war, sondern sogar zu ewigem Leben geführt hätte!
Vielleicht ist es sogar so, dass die beiden Stämme des Y-Baums vom Blattwerk völlig verdeckt wurden: Vielleicht musste es dem unwissenden Auge so erscheinen, als hätte man es hier mit einem Baum zu tun. Und vielleicht sind die Bäume nicht einmal durch die Blätter und die Früchte voneinander zu unterscheiden. Und doch sind es zwei Bäume – verbunden durch einen Stamm!
Eine Bestätigung der These von der siamesischen Zwillingsgestalt der Bäume in der gematrischen Feinstruktur der Bibel
Die Gematrie betrachtet jeden hebräischen Buchstaben als eine Zahl, wobei jede Zahl wiederum mit einer eigenen symbolischen Bedeutung aufgeladen ist. (Beziehungsweise mit einem ganzen symbolischen Bedeutungsfeld – man sollte nicht glauben, dass man den symbolischen Gehalt einer Zahl ganz einfach durch ein paar Sätzen ausschöpfen könnte.). Das Aleph (aus dem das griechische Alpha und das lateinische A entstanden ist) steht beispielsweise für die 1, und die 1 lässt sich als ein Symbol der göttlichen Einheit und des Ursprungs lesen. (Für unsere Zwecke soll das hier genügen.)
Das Daleth (griechisch Delta, lateinisch D) hingegen steht für die 4, die man (unter Vernachlässigung anderer Bedeutungsschichten) als Symbol für die materielle Raumzeit sehen kann: Der Mensch kann sich in vier Himmelsrichtungen fortbewegen und so jeden Punkt auf Erden erreichen. Die Zeit hier auf Erden gliedert sich in eine zyklische Abfolge von vier Jahreszeiten. Und früher glaubte man wenigstens im antiken Griechenland, dass alle Dinge aus vier Elementen zusammengesetzt sind und dass die Psyche des Menschen auf die Wirkung von vier Körpersäften zurückzuführen ist.
Der zweite Schöpfungsbericht ist nun durchwoben von dem Prinzip 1-4 – womit einerseits ausgedrückt ist, dass die 1 der Ursprung der 4 ist, aber andererseits auch, dass die 1 und die 4 im Garten Eden verbunden sind. In Genesis 2, 6 wird gesagt, dass ein Nebel oder Dunst das gesamte Land befeuchtete. Das hebräische Wort, das hier mit Nebel oder Dunst übersetzt wird, ist Aleph-Daleth: 1-4. Die 1-4 bedeckt also die gesamte Erde; sie ist das Grundprinzip der göttlichen Schöpfung.
Und damit auch ja kein Leser dieses Grundprinzip übersieht, nahmen sich die Verfasser von Genesis die Zeit, von dem einen Strom zu erzählen, der den Garten wässert und sich in vier Hauptströme aufteilt (Genesis 2, 10-14). Wir sehen hier übrigens wieder ein ontologisches Problem: Um wieviele Flüsse handelt es sich hier? Um einen? Um vier? Um fünf? Solche ontologische Fragen sind allerdings müßig und führen ins Leere. Entscheidend ist vielmehr das kommunizierte Grundprinzip, dass aus einem Strom vier Ströme fließen – also das Grundprinzip 1-4.
Was haben nun die Bäume in der Mitte des Gartens damit zu tun? Nun, wenn man die hebräischen Ausdrücke für „Baum des Lebens“ und „Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen“ hinschreibt, die Buchstaben als Zahlen liest und die Zahlen aufaddiert, so ergibt sich ein erstaunlicher Befund: Die Zahl der Gesamtstruktur für „Baum des Lebens“ ist 233, und die Zahl der Gesamtstruktur für „Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen“ ist 932 – die beiden Zahlen stehen also exakt im Verhältnis 1:4 zueinander! (Vergleiche hierzu Friedrich Weinreb: Schöpfung im Wort, S. 83.)
Auch bei den beiden Bäumen in der Mitte des Gartens sehen wir also das Grundprinzip 1-4, wenngleich in verschlüsselter Form. Und da im Garten Eden die 1 und die 4 noch untrennbar zusammengehören, ergibt es auch auf dieser Ebene völlig Sinn, dass die beiden Bäume in der Mitte des Gartens miteinander verwachsen sind: Der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis bilden für das bloße Auge eine untrennbare Einheit – nur Gott ist in der Lage, die beiden auseinander zu halten!
Übrigens: Die gesamte Thora, also die fünf Bücher Mose, ist selbst nach dem Prinzip 1-4 strukturiert: Einerseits das erste Buch Genesis, das die Geschichte der Stammväter Israels von Adam bis auf Joseph erzählt, andererseits die Bücher Exodus, Leviticus, Numeri und Deuteronomium, die vom Auszug der Israeliten aus Ägypten und durch die Wildnis unter der Leitung Moses‘ erzählen. Die 1-4 findet sich also nicht nur als Strukturprinzip im zweiten Schöpfungsbericht, sondern als umgreifendes Strukturprinzip der gesamten Thora. Ganz schön smart, nicht wahr?
Fazit: Das Alte Testament ist klüger als wir (denken)!
Was lehrt uns das Ganze? Über die ethischen und philosophischen Implikationen habe ich mir offen gestanden noch keine spruchreifen Gedanken gemacht. Man kann allerdings auf jeden Fall lernen, dass die Verfasser des Alten Testaments wohl doch nicht ganz so primitiv und rückständig waren, wie wir fortschrittlichen Kinder der Moderne es gerne hätten. Im Gegenteil sollte man die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass das Alte Testament so meisterhaft und intelligent durchkomponiert ist, dass wir seinen vollen Bedeutungsgehalt bis heute weder ausgeschöpft noch überhaupt begriffen haben.