In seinem Hauptwerk „Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache“ von 1935 gibt der Philosoph und Mediziner Ludwik Fleck eine verblüffende Antwort auf die Frage, was wir eigentlich unter Wahrheit verstehen. Damit wir diese Antwort nachvollziehen können, müssen wir aber erstmal einige Vokabeln erklären. Deshalb: Vokabelheft raus, mitschreiben!
Was ist ein Denkkollektiv?
Ein Denkkollektiv nach Fleck ist jede Gruppe von Menschen, die in einem gedanklichen Austausch miteinander stehen. Anders ausgedrückt: Die Menschen innerhalb eines Denkkollektivs stehen in einer sprachlich vermittelten Wechselwirkung zueinander.
Der Begriff des Denkkollektivs ist sehr weit gefasst. Jede spontane Zusammenkunft von Menschen, die sich miteinander unterhalten, bildet nach dieser Definition ein Denkkollektiv. Man kann diese Art von Denkkollektiv als flüchtiges Denkkollektiv bezeichnen. Demgegenüber gibt es aber auch stabile Denkkollektive, die durch institutionelle Organisation miteinander verbunden sind. Hier kann man wiederum je nach Fokus verschiedene Denkkollektive in den Blick nehmen: Beispielsweise das Denkkollektiv der Physiker allgemein, das Denkkollektiv der Physiker einer Universität, oder das Denkkollektiv der an einem Lehrstuhl angestellten Physiker.
Aus der Offenheit des Begriffs des Denkkollektivs folgt unmittelbar, dass jeder Mensch Teil verschiedener Denkkollektive ist, die sich in ihrem Denkstil mitunter stark voneinander unterscheiden können. Ein Physiker kann beispielsweise ebenfalls Teil einer religiösen Gemeinde sein, die einen völlig anderen Blick auf die Welt hat als die Gemeinde der Physiker.
Ein wissenssoziologisch relevanter Befund ist nun, dass es innerhalb eines Denkkollektivs stets gewisse Abhängigkeitsbeziehungen und Hierarchien gibt. So gibt es beispielsweise die Beziehung zwischen Professor und Student, die im Wesentlichen darin besteht, dass der Professor den Studenten in den Denkstil der Physik einweist. Aber auch innerhalb der Gemeinde der Physiker gibt es fachlich herausragende Koryphäen, deren Publikationen von einem weiten Kreis rezipiert werden und so den Denkstil der Physiker maßgeblich mitprägen – und wenn diese Prägung nur darin bestehen sollte, dass die Koryphäen mit ihren Fragen die Richtung vorgeben, in die sich die weitere Forschung bewegt.
Die vielleicht wichtigste und interessanteste Abhängigkeitsbeziehung ist die zwischen dem esoterischen Kreis der Experten und dem exoterischen Kreis der interessierten Laien. Diese Beziehung lässt sich nach Fleck mit dem Verhältnis zwischen Elite und Masse vergleichen: Auf der einen Seite ist die Elite eine Gruppe von Menschen, zu der die Masse aufschaut und der sie deshalb auch ein erhöhtes Vertrauen entgegenbringt. Andererseits ist auch die Elite auf die Masse angewiesen, indem die Masse letztlich die Forschung der Elite finanziert. Das höchste Gut der Elite ist daher das Vertrauen der Masse in ihr Tun, und es liegt in ihrem eigenen Interesse, dieses Vertrauen nicht zu zerstören.
Was ist ein Denkstil?
Der Denkstil betrifft immer ein ganzes Kollektiv
Eine zentrale These von Fleck ist, dass man von einem denkenden Individuum eigentlich gar nicht sprechen kann: Was in Wahrheit in einem Individuum denkt, sind die Denkkollektive, innerhalb derer sich das Individuum bewegt! Ein Denkstil ist entsprechend keine Eigenschaft des Denkens eines Individuums, sondern des Denkens eines Denkkollektivs.
Der Denkstil als gerichtete Wahrnehmung
Fleck unterscheidet zwischen drei verschiedenen Aspekten des Denkstils. Erstens die Bereitschaft zu gerichteter Wahrnehmung, das heißt zu einer Wahrnehmung, die bereits durch gewisse Fragestellungen, Probleme und Grundannahmen vorgeprägt ist. An dieser Art der Wahrnehmung ist zweierlei bemerkenswert. Zum einen muss sie gelernt werden – wir nehmen unsere Umwelt nicht automatisch auf gerichtete Weise wahr. Zum anderen aber, und das ist mindestens ebenso wichtig: Haben wir erst einmal gelernt, die Welt auf gerichtete Weise wahrzunehmen, so nehmen wir die Welt automatisch gerichtet wahr, sobald wir uns innerhalb eines Denkkollektivs bewegen!
Der Denkstil als Denkzwang
Mit letzterer Feststellung eng verbunden ist der zweite Aspekt des Denkstils, den Fleck auch Denkzwang nennt: Gewisse methodische Vorgehensweisen oder Begrifflichkeiten bilden eine unhinterfragte Basis des Denkens, die in Bezug auf andere Herangehensweisen einen Denkwiderstand erzeugt.
Ein schönes, wenn auch unwissenschaftliches Beispiel für den Denkzwang bieten Verschwörungstheorien. Die methodische Grundfrage aller Verschwörungstheorien ist die Frage: Cui bono? Wem nützt es? Die unausgesprochene Überzeugung aller Verschwörungstheoretiker bildet die These: Wenn wir wissen, wem ein Ereignis nützt, dann wissen wir auch, wer für das Ereignis verantwortlich ist. Wenn man es so hinschreibt, ist es natürlich offensichtlicher Unfug.
Aber der Denkzwang, den der verschwörungstheoretische Denkstil erzeugt, ist nicht zu unterschätzen! Denn wem nützt es, wenn man den Verschwörungstheoretiker davon überzeugen würde, dass seine Ansichten falsch sind? – Doch wohl den herrschenden Eliten, die sich gegen uns verschworen haben! – Also müssen die Eliten selbst ihre Finger im Spiel haben, wenn jemand die Verschwörungstheorien in Frage stellt…
Der Denkstil als Bereitschaft zur Verteidigung des Denkstils
Mit dem obigen Denkwiderstand ist auch der dritte Aspekt des Denkstils verbunden: Der Denkstil beinhaltet nicht nur, was anders nicht gedacht werden kann – er gibt auch vor, was anders nicht gedacht werden darf! Früher hat man Andersdenkende für Ketzerei verbrannt. Heute bedient man sich eher des subtileren Mittels der sozialen Ächtung durch moralische Vorwürfe. So oder so hat der Denkstil nicht nur Auswirkungen auf das Denken, sondern eben auch auf das Handeln, das zumeist darauf gerichtet ist, den eigenen Denkstil als den richtigen zu verteidigen.
Was ist nun Wahrheit nach Fleck?
Flecks Untersuchung bleibt nicht folgenlos für den Wahrheitsbegriff. Ihm zufolge besteht die Wahrheit einer wissenschaftlichen Theorie nicht etwa in der Übereinstimmung der Theorie mit einer objektiv gegebenen Realität. Vielmehr erweist sich ihm zufolge die Wahrheit einer Theorie dadurch, dass die Theorie konkrete Probleme des Denkkollektivs auf eine denkstilgemäße Weise lösen kann. Denkstilgemäß heißt hier, dass die Theorie in Bezug auf den Denkstil bei geringstmöglicher Willkür den größtmöglichen Denkzwang erzeugt.
Hier ergibt sich sofort ein Problem, denn es scheint nun so zu sein, dass Wahrheit für Fleck abhängig vom Denkkollektiv ist. Könnte es aber dann nicht sein, dass der gleiche Gedanke von einer Person A für wahr gehalten wird, von einer anderen Person B aber mit gleichem Recht für falsch?
Fleck ist der Ansicht, dass dieser Fall nicht eintreten kann. Denn entweder gehören A und B dem gleichen Denkkollektiv an – dann ist der Gedanke für beide wahr oder falsch. Oder A und B gehören nicht dem gleichen Denkkollektiv an – dann wird B den Gedanken entweder gar nicht oder anders verstehen als A, und daher werden beide gar nicht über den gleichen Gedanken uneinig sein, sondern über verschiedene Gedanken!
Nun scheint sich aber eine Folgeschwierigkeit zu ergeben, denn jedes Individuum ist ja nicht nur Teil eines Denkkollektivs, sondern mehrerer Denkkollektive. Entsprechend müsste es Gedanken geben, die ich aus der Sicht von einem Denkkollektiv betrachtet für wahr erachte, aber aus der Sicht eines anderen Denkkollektivs betrachtet gar nicht erst verstehe. Aber ist es nicht absurd, den gleichen Gedanken zugleich für wahr zu erachten und nicht zu verstehen?
Aber Achtung: Es geht eben nicht um den gleichen Gedanken, sondern um die gleiche Aussage! Es kann allerdings sein, dass die gleiche Aussage innerhalb eines Denkstils völlig klar und wahr ist, in einem anderen Denkstil aber völlig unklar. Die Philosophie selbst bietet ein Beispiel für einen Denkstil, in dem der Sinn der gewöhnlichsten Aussagen plötzlich unklar wird und zwischen den Händen zerrinnt.
Aber wir können auch konkrete Beispiele nennen. Es ist beispielsweise aus der Sicht des Common Sense völlig klar, dass es moralisch falsch ist, einen unschuldigen Menschen zu foltern. Aber aus der Sicht eines Physikers ist das überhaupt nicht klar. Er wird – nota bene: als Physiker! – die Aussage gar nicht verstehen, da moralische Aussagen außerhalb des Anwendungsgebiets der Physik liegen. Die Aussage, dass es moralisch falsch ist, einen unschuldigen Menschen zu foltern, macht innerhalb des Physik-Denkstils gar keinen wohldefinierten Sinn!
Eine Analogie kann verdeutlichen, wie die gleiche Aussage je nach Denkstil unterschiedliche Gedanken ausdrücken kann, nämlich Kippbilder. In einem Kippbild sind zwei verschiedene Dinge zugleich abgebildet, etwa eine junge Frau und eine Hexe oder ein Hase und eine Ente. Aber man kann immer nur einen der beiden Sachverhalte wahrnehmen: Entweder ich sehe die junge Frau oder ich sehe die Hexe, aber ich sehe nie beide zusammen. Ganz analog ist es mit der Denkstilabhängigkeit von Aussagen: Ich kann eine Aussage gemäß des einen Denkstils verstehen oder gemäß eines anderen Denkstils, aber niemals beides zugleich. Und ganz entsprechend kann ich die gleiche Aussage innerhalb des einen Denkstils für wahr erachten, innerhalb eines anderen Denkstils aber gar nicht erst verstehen. Ich denke, dass man hier mit Flecks Theorie psychologische Phänomene erklären könnte, die üblicherweise gar nicht erst in den Blick geraten.
Ist Flecks Wahrheitsbegriff der wahre?
Aber hat Fleck nun recht? Finden wir die Wahrheit wirklich dadurch, dass wir ein Problem denkstilgemäß auflösen? Zeigt nicht bereits die Sinnhaftigkeit dieser Frage, dass wir mit Wahrheit in Wirklichkeit etwas anderes meinen, nämlich die Übereinstimmung von Aussagen mit den Tatsachen?
Ich denke, dass Fleck diesem Einwand entgegnen würde, dass die Frage innerhalb des Denkstils des Common Sense und der Naturwissenschaft auf eine Weise Sinn ergibt, die ein Problem für ihn darzustellen scheint. Innerhalb des Denkstils der Soziologie hingegen ergibt die Frage einen ganz anderen Sinn – und in diesem soziologischen Sinn stellt die Frage kein Problem dar, denn die Antwort auf die Frage lautet schlicht und ergreifend: Ja!
Diese Entgegnung erinnert ein wenig an den Baron Münchhausen, der sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht. Man kann den zugrundeliegenden Gedanken aber auch mithilfe einer bereits bekannten Analogie ausdrücken: Der Wahrheitsbegriff selbst ist wie ein Kippbild, ein zwischen verschiedenen Sinnen schillernder Begriff, der in unterschiedlichen Denkstilen unterschiedliche Bedeutungen hat. Und wenn wir ganz soziologisch fragen: „Wonach suchen menschliche Kollektive, wenn sie die Wahrheit suchen?“, so ist die Antwort: „Sie suchen nach einer denkstilgemäßen Lösung ihrer Probleme.“ möglicherweise einfach… wahr!