In einem öffentlichen Bücherregal lachte mich kürzlich ein Buch in meiner Lieblingsfarbe Gelb an, dessen polemischer Titel mir als gescheiterter (aber dadurch hoffentlich auch gescheiterer) Lehrperson sofort zugesagt hat: Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder? Ein Blick auf den Klappentext klärte mich darüber auf, dass der Verfasser Jürgen Kaube Herausgeber der FAZ ist, sodass ich es fast im Schrank gelassen hätte – Texte von Journalisten lassen für meinen Geschmack zu häufig die nötige argumentative Schärfe vermissen. Aber da es umsonst war, entschied ich mich dann doch, ihm eine Chance zu geben.
Und, war die Lektüre umsonst? Nun, ich möchte es so formulieren: Nach den ersten fünfzig Seiten habe ich mich ernstlich gefragt, was für eine Sorte von Text ich hier eigentlich lese, denn ich glaubte zwar, den Standpunkt von Jürgen Kaube in Umrissen erkennen zu können, aber klare Thesen mit schlüssig vorgetragener Argumentation habe ich schmerzlich vermisst, sodass ich nicht das Gefühl hatte, irgendetwas mit nach Hause tragen zu können – außer natürlich das Buch für umsonst.
Bei meiner übrigen Lektüre habe ich mich dann auf die Ausübung einer der neuen Kernkompetenzen im Zeitalter der digitalen Wissensexplosion verlegt: Querlesen derjenigen Abschnitte, die für mich am interessantesten klingen. Jürgen Kaube hält vom Querlesen zwar nicht viel (vgl. S. 94), aber was will man machen, wenn man nur ein Leben und so viel zu Lesen hat?
Warum lehrt die Schule alles, nur nicht denken?
Sei es drum. Eine der Kernthesen Jürgen Kaubes formuliert der Klappentext pointiert als polemisch zugespitzte Frage: „Warum lehrt die Schule alles, nur nicht denken?“ Wenn wir nach Art von Till Eulenspiegel an die Frage herangehen, könnten wir versucht sein, eine Erklärung für diesen Sachverhalt anzugeben und mit Verweis auf Helmut Fend argumentieren, dass das Bildungssystem vier gesellschaftliche Funktionen erfüllt: Reproduktion, Qualifikation, Allokation und Integration/Legitimation – worunter dabei das Denken fallen soll, ist schwer zu sagen, weshalb es im Alltag eben hinten rüber fällt.
Dabei geht natürlich der Witz an der Frage verloren, da sie nicht auf die deskriptive Ebene zielt, sondern auf die normative Ebene: Versteht es sich nicht von selbst, dass es in der Schule vornehmlich darum gehen sollte, das Denken zu lehren? Und wenn ja, warum geschieht das in der Schule dann nicht? Letztere Frage präsupponiert freilich, dass in der Schule das Denken nicht gelehrt wird. Aber stimmt das denn überhaupt?
Sehen wir uns die Lehrpläne in den Schulen genauer an, so werden wir feststellen, dass tatsächlich nirgends festgeschrieben wird, dass den Schülern das Denken beigebracht werden soll. Am ehesten würden wir doch vermuten, dass sie es im Philosophieunterricht der Oberstufe lernen würden – aber selbst dort wird bloß von Denkmodellen gesprochen, die die Schüler zu rekonstruieren, zu analysieren und zu beurteilen haben. Wie kann das sein?
Die Kompetenzorientierung des heutigen Schulunterrichts
Die Ursache liegt in der sogenannten Kompetenzorientierung, die sich in der heutigen Bildungswissenschaft und Didaktik ganz eindeutig durchgesetzt hat. Im Unterschied zur alten Inhalts- bzw. Stofforientierung, wonach in Lehrplänen festgeschrieben wird, welche Inhalte im Unterricht von der Lehrperson behandelt und vermittelt werden müssen, wird in heutigen Lehrplänen formuliert, welche Kompetenzen die Schülerinnen und Schülern am Ende des Unterrichts erworben haben sollen.
Man kann den Unterschied zwischen Inhaltsorientierung und Kompetenzorientierung auch mit den Worten Inputorientierung und Outputorientierung verdeutlichen: Nach dem Modell der Inhaltsorientierung gibt der Lehrplan den Input vor, den der Lehrer in den Unterricht hineinzugeben hat. Demgegenüber gibt der Lehrplan nach dem Modell der Kompetenzorientierung den Output vor, den der Unterricht produzieren soll, nämlich kompetente Schüler.
Kaubes Kritik an der Kompetenzorientierung
1. Die Wucherung des Kompetenzdickichts
Es ist im Wesentlichen diese Kompetenzorientierung, die Jürgen Kaube gegen den Strich geht. Im vierten Kapitel „Was die Schule kann: Denken lehren“ kritisiert er an der Kompetenzorientierung vor allem dreierlei Dinge. Erstens lässt sich selbst die allerbasalste Fähigkeit wie das grammatisch korrekte Umstellen eines Satzes ihrerseits wiederum als die Ausübung mannigfaltiger Kompetenzen verstehen: Man muss ja dazu wenigstens implizit wissen, was das Subjekt ist, was das Prädikat ist, was die Worte bedeuten, und so weiter.
2. Der Kompetenzbegriff als Megacontainerbegriff
Daraus ergibt sich aber zweitens, dass der Kompetenzbegriff ein „Megacontainerbegriff“ ist, „in dem dann weitere Minikartons voller Kompetenzteildimensionen gestapelt sind. Man könnte etwas unfreundlicher von bloßen Redensarten sprechen, die voneinander nicht abgrenzbare ‚Fähigkeiten‘ (Wissen, Verstehen, Können, Erfahrung, Motivation, Handeln) in Katalogform bringen, um nicht konkret darüber sprechen zu müssen, wie sie voneinander abhängen und wie unterrichtet werden soll.“ (S. 90)
3. Die Inhaltslosigkeit des Kompetenzbegriffs
Drittens, und das ist Kaubes zentrales Argument, fallen bei der ganzen Kompetenzorientierung die im Unterricht behandelten Inhalte völlig hinten rüber – aber es sind doch gerade die Inhalte, die das Denken erst ermöglichen! In Kaubes Worten: „Wenn das Denken gar noch ‚kritisch‘ sein soll […], wird man um Detailkenntnisse dessen, was kritisiert werden mag, nicht herumkommen. Denn wie sollen Schüler ‚kompetent‘ werden, wenn sie nicht wissen, worum es sich in der Sache, die sie kompetent bearbeiten sollen, überhaupt handelt?“
Eine Replik
Bei den ersten beiden Punkten gebe ich Kaube prinzipiell Recht: Auch ich habe mich im Lehramt oft genug über das Wuchern von basalen Minikompetenzen gewundert und geärgert, weil man sich gerade als am Anfang seiner Laufbahn stehender Lehrer so fühlt, als würde einem jeder einzelne Ast an jedem einzelnen Baum gezeigt, obwohl es doch eigentlich darum gehen sollte, sich erstmal irgendwie in diesem Dickicht des Waldes zurechtzufinden.
Zu Punkt 3 muss Kaube aber dringend widersprochen werden: Es gibt zwar auch in Lehrplänen „inhaltsfreie“ Kompetenzen wie etwa allgemeine Kommunikationskompetenzen oder Methodenkompetenzen, aber soweit ich es wenigstens für meine Fächer Mathematik und Philosophie sagen kann, sind die zu vermittelnden Kernkompetenzen des Lehrplans regelmäßig inhaltsbezogene Fachkompetenzen.
Hier sind einige zufällig ausgewählte Beispiele aus dem Lehrplan der Philosophie-Oberstufe NRW:
„Die Schülerinnen und Schüler rekonstruieren einen relativistischen und einen universalistischen ethischen Ansatz in ihren Grundgedanken und erläutern diese Ansätze an Beispielen.“
„Die Schülerinnen und Schüler erklären philosophische Begriffe und Positionen, die das Verhältnis von Leib und Seele unterschiedlich bestimmen (u.a. Dualismus, Monismus, Materialismus, Reduktionismus).“
„Die Schülerinnen und Schüler analysieren eine rationalistische und eine empiristische Position zur Klärung der Grundlagen wissenschaftlicher Erkenntnis in ihren wesentlichen argumentativen Schritten und grenzen diese voneinander ab.“
https://www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/lehrplannavigator-s-ii/gymnasiale-oberstufe/philosophie/philosophie-klp/kompetenzen/kompetenzen.html
Und hier einige Beispiele aus dem Mathe-Lehrplan NRW für die Sekundarstufe I:
„Die Schülerinnen und Schüler deuten Dezimalzahlen und Prozentzahlen als andere Darstellungsform für Brüche und stellen sie an der Zahlengerade dar; führen Umwandlungen zwischen Bruch, Dezimalzahl und Prozentzahl durch.“
„Die Schülerinnen und Schüler verwenden ihre Kenntnisse über rationale Zahlen und lineare Gleichungen zur Lösung inner- und außermathematischer Probleme.“
https://www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/lehrplannavigator-s-i/gesamtschule/mathematik/mathematik-klp/kompetenzen/kompetenzen.html
Diese Beispiele sind wie gesagt zufällig gewählt – man wird in den Lehrplänen jedenfalls dieser Fächer dutzende weiterer Beispiele finden, in denen Kompetenzen eben nicht inhaltsfrei formuliert sind, sondern bereits mit einem konkreten Inhalt verknüpft.
Vor diesem Hintergrund haut Kaube lediglich auf einen von ihm selbst aufgebauten Strohmann, wenn er davon spricht, dass „[d]ie Entgegensetzung von Wissen und Fähigkeiten (Kompetenzen) […] völlig sinnlos“ sei – denn er hat damit völlig Recht! Die Kernkompetenzen, die im Fachunterricht vermittelt werden, sind immer inhaltsbezogene Kompetenzen, in denen zwischen Wissen und Kompetenz weder strikt getrennt werden kann noch wird. Kaubes eigenes Diktum wendet sich damit gegen ihn selbst: „Wenn das Denken gar noch ‚kritisch‘ sein soll […], wird man um Detailkenntnisse dessen, was kritisiert werden mag, nicht herumkommen.“
Kaubes Denkbegriff als Megacontainerbegriff
Es gibt allerdings noch einen weiteren Punkt, den Kaube in seinem Lob auf das „Denken“ anscheinend übersieht: Sein Begriff des Denkens ist ebenfalls ein „Megacontainerbegriff“, was besonders deutlich wird, wenn er auf Seite 108 aufführt, was für ihn zum „Repertoire des Denkens“ gehört: „vergleichen, messen, Gegensätze erkennen, davon Widersprüche unterscheiden und diese von Konflikten, abbilden, etwas datieren, erzählen, ein Bild betrachten, ein Bild lesen, eine Aussage umkehren, modellieren, Analogien bilden, Wahrscheinlichkeitsurteile fällen, Niveaus unterscheiden, Muster erkennen.“
Ich möchte gar nicht davon anfangen, dass diese Übersicht längst nicht vollständig ist; oder dass die meisten dieser Fähigkeiten schwammig formuliert und daher nicht im Unterricht überprüfbar sind. Und wir hüllen ebenfalls einen Schleier des Nichtwissenwollens über die Frage, was denn „etwas datieren“ oder „erzählen“ noch mit einem emphatischen Begriff des Denkens zu tun hat, wie Kaube ihn eigentlich zu vertreten meint. Ich möchte vielmehr darauf hinweisen, dass Kaube selbst sieht, dass man den Begriff des Denkens auch noch fachspezifisch ausdifferenzieren muss:
„Historische Wahrscheinlichkeit ist etwas anderes als mathematische, ein Gedicht datieren geht anders als eine Ruine datieren, ein physikalisches Experiment unterscheidet sich stark von einem psychologischen, ein Bild lesen und einen Text lesen, ist zweierlei.“ (S. 108)
Aber wo landen wir denn da inhaltlich anders als bei der aktuellen, fachspezifisch ausdifferenzierten Kompetenzorientierung? Man muss es leider sagen: Kaube hat seine Hausaufgaben nicht gemacht, denn wenn man schon die Lehrpläne abschaffen will [sic! Vgl. S. 296], dann sollte man das mit guten Gründen vertreten, und nicht weil man als Laie den Sinn und die Sprache der Lehrpläne nicht versteht (vgl. S. 297). Ich fordere auch nicht, irgendwelche Gesetze abzuschaffen, nur weil ich als Laie die Gesetzestexte in ihrer juristischen Fachsprache nicht verstehe! (Man merke: Auch Lehrer sind Akademiker mit ihrem eigenen Fachvokabular.)
Apropos Fachvokabular: Es ist sehr interessant zu sehen, wie Kaube einerseits durchaus zugesteht, dass der „Aufbau eines Vokabulars“ zum Unterricht dazugehört und sogar ausgebaut werden sollte (vgl. S. 103), andererseits aber eine hemmungslose Idiosynkrasie gegen kulturepochale Vokabeln wie Barock oder Expressionismus an den Tag legt, die er in seine Hybris als interessierter Laie – pardon: Journalist – pardon: FAZ-Herausgeber – nicht nur „nutzlos“, sondern „vollkommen sinnlos“ nennt (S. 175). Aber sei es drum.
Gelungener Unterricht nach Kaube entspricht heutiger Ausbildungsnorm
Stellen wir uns lieber die Frage, wie gelungener Unterricht nach Kaube auszusehen hat. Er gibt darauf unter anderem die folgende, allgemein gehaltene Antwort: „Nachdenklicher Unterricht ist ein vorgedachter, einer, in den zuvor Gedanken investiert worden sind. Nicht nur in Unterrichtsfragen selbst und die Art zu begründen, warum es sinnvoll ist, sich mit einem bestimmten Stoff zu beschäftigen, sondern auch in die Frage, was typische Antworten, Schwierigkeiten, Beiträge der Schüler sein könnten.
Der Gegensatz zu besinnungslosem Auswendiglernen und Nachmachen oder zum stummen Hören eines Lehrvortrags ist nicht der Rückzug der Lehrperson, sondern die Erklärung, worum es geht und wozu es dient, was das Problem ist, woran man eine Lösung erkennen würde, anschließendes Feedback – „in eigenen Worten“ – zur Überprüfung, ob verstanden wurde – dann Anwendung, Diskussion, Erweiterung.“ (S. 106-107)
Das Problem an Kaubes Antwort liegt nicht darin, dass sein Vorschlag falsch ist – im Gegenteil ist er absolut richtig. Das Dumme ist nur, dass genau diese Art von Unterricht von den heute ausgebildeten Lehrkräften verlangt wird! Woher ich das weiß? Nun, ich war im Referendariat, und dort wurde genau das von uns verlangt. Kaube wünscht sich also eine Zukunft herbei, die längst schon Realität werden – soll.
Die grundlegendere Frage wäre freilich eine andere: Wie sollen Lehrkräfte sich eigentlich die nötige Zeit nehmen können, ihre wöchentlich über 20 Stunden Unterrichtspensum so vorzudenken, wie es in Unterrichtsproben verlangt wird? Die ernüchternde Antwort dürfte lauten, dass es schlicht unmöglich ist. Woraus sich auch eine Antwort auf die Frage ergeben könnte, warum in den Schulen das Denken nicht gelehrt wird – die Lehrer selbst haben keine Zeit zum Denken.
Wieso, weshalb, warum? Kaubes heitere Fragestunde
Aber werden wir nicht pessimistisch und werfen lieber einen heiteren Blick darauf, welche Fragen und Probleme Kaube gerne im Schulunterricht besprochen hätte – an Einfallsreichtum und Ideen mangelt es nicht, und er hat für einige Fächer interessante Ideen parat. Zuerst Physik:
„Wie man das macht, die Sonne als Mittelpunkt unseres Weltalls zu erkennen, wäre eine sinnvolle Frage. Gibt es denn noch andere Weltalle als ‚unseres‘? Wäre die Sonne, wenn es mehrere Weltalle gäbe, denn auch der Mittelpunkt des Ganzen? Was heißt es überhaupt, der Mittelpunkt von etwas zu sein, das keine Grenzen hat? Und wie kann man denn etwas erkennen, es zugleich aber nur vermuten? Das wären sinnvolle Unterrichtsfragen.“ (S. 94)
Nun bin ich kein Physiker, habe aber als interessierter Laie doch einige Anmerkungen zu diesen „sinnvollen Unterrichtsfragen“. 1. Die Sonne ist nicht der Mittelpunkt unseres Weltalls, insofern wurde das nie erkannt. 2. Ob es andere „Weltalle“ gibt als ‚unseres‘ scheint mir eine empirisch unüberprüfbare Frage zu sein, allerdings muss ich zugeben, dass mir schon die Bedeutung des Wortes „Weltall“ im Angesicht dieser Frage vor den Augen verschwindet.
3. „Wäre die Sonne der Mittelpunkt des Ganzen, wenn es mehrere Weltalle gäbe?“ ist eine komplette Quatschfrage, weil sie schon nicht Mittelpunkt unseres Weltalls ist, und weil die Frage unbeantwortbar wäre, wenn es mehrere Weltalle gäbe, weil wir schon nicht wissen können, ob es überhaupt mehrere Weltalle gäbe. Auf welchen Erkenntnisgewinn soll diese Frage zielen?
4. „Was heißt es überhaupt, der Mittelpunkt von etwas zu sein, das keine Grenzen hat?“ Außer Jürgen Kaube weiß das wohl niemand so genau – deswegen spricht auch soweit ich weiß niemand davon. 5. „Wie kann man denn etwas erkennen, es zugleich aber nur vermuten?“ Ich habe wiederum keine Ahnung, worauf Kaube mit dieser Frage hinauswill. Denkt er an so etwas wie Poppers „Vermutungswissen“? Ich glaube es zu erkennen, aber ich kann es nur vermuten. – Aha, da haben wir es ja!
Lust bekommen auf noch mehr Fragen? Das Füllhorn gibt noch mehr her! „Rauch ist so etwas ähnliches wie Nebel – aber worin unterscheiden sich beide? Man kann aus Verlegenheit erröten – wodurch noch? Sind Dörfer Städte, wenn sich ihre Einwohner nicht mehr kennen? Auf welche Arten kann sich ein Lebewesen davor schützen, von anderen aufgegessen zu werden? Warum sind die Verbrechen in den meisten Krimis Morde und keine Eigentumsdelikte?“ (S. 104)
Man darf natürlich als interessierter Laie – pardon: Journalist – pardon: FAZ-Herausgeber – alle Fragen interessant finden, die man nun mal eben interessant findet. Aber man fragt sich schon, wie Kaube sich den konkreten Unterricht und die zugehörigen Prüfungen vorstellt, die sich aus der Behandlung solcher Fragen ergeben. Was kann denn anderes dabei herauskommen als dummes Gelaber und Stochern im Nebel? Und in welchem Fach soll bitte die Frage erörtert werden, wodurch man erröten kann – und warum sollte diese Frage überhaupt erörtert werden?
Fragen über Fragen…: „Worüber lacht man? Über Amphityron, über Chaplin, über Louis de Funès, über ‚Türkisch für Anfänger‘. Gemeinsamkeiten, Unterschiede. Wer darf über wen lachen? Was ist ein Witz? Wieso ist ‚Notting Hill‘ eine Komödie? Wann schlägt Lachen in Häme um? Gibt es komische Musik? Warum lachen Tiere nicht, oder tun sie es doch?“ (S. 177)
Ich muss sagen, dass ich das Thema Humor äußerst interessant finde und mir im Jugendalter vorgenommen habe, eines Tages ein staubtrockenes und völlig unkomisches Buch über Humortheorie zu schreiben – so etwas ist eher meine Art von Humor als Amphityron, Chaplin, Louis de Funès oder „Türkisch für Anfänger“. Ich breche aber auch über manche von Kaubes Fragen beim Verfassen dieses Textes in herzhaftes Lachen aus – die Frage ist nur: Darf ich das überhaupt?
Schlägt mein Lachen etwa schon in Häme um? Wieso ist ‚Notting Hill‘ eine Komödie, obwohl Ratten nicht darüber lachen? Oder tun sie es doch, und wir hören es nur nicht? Kennt Kaube selbst die Antworten auf seine Fragen, oder will er sie einfach nur stellen und sich dann im Plenum darüber freuen, was er doch für „sinnvolle Unterrichtsfragen“ stellen kann? Ach so, ich muss die Pointe von Kaubes Fragen vielleicht noch erklären: Das sind Kaubes Vorschläge für den Deutschunterricht. Was das mit Germanistik zu tun hat, bleibt sein Geheimnis. Aber er hat noch mehr auf Lager:
„Wieso singt man etwas, das auch erzählt werden kann? […] Was ist so interessant an Neuigkeiten, was ist so interessant an Kriminalfällen, was ist der Unterschied zwischen einer Novelle und einem Krimi?“ (S. 178)
Je mehr von Kaubes Fragen ich lese, desto kreativer werde ich beim eigenen Fragestellen. Wieso schreibt jemand ein Buch über ein Thema, von dem er keine Ahnung hat? Und wieso geben andere Menschen Geld dafür aus, um es zu lesen? Ist es ein Zeichen von Humor, wenn man trotzdem darüber lachen kann? Oder ist es schon ein Zeichen mangelnden Respekts und bloßer Häme? Warum erröte ich nicht vor Scham, während ich diese Zeilen schreibe? Was ist der Unterschied zwischen Recht haben und Recht haben wollen? Erschrecken Biber, wenn sie im Kreißsaal einen Dammriss sehen? Versuchen sie, ihn mit Holz notdürftig zu flicken? Oder ist gar kein Holz da? Aber warum nicht? Habe ich einen psychotischen Schub? Wo ist der nächste Arzt?
Wer es noch nicht bemerkt haben sollte: Wäre Jürgen Kaube ein Lehrer und ich sein Schüler, wir hätten uns wohl nicht verstanden. Das unsinnige Gerede über Belanglosigkeiten, auf die der Lehrer selbst keine Antwort kennt, weil sie nicht einmal zum Bestand seiner fachwissenschaftlichen Ausbildung zählen, hätte mich vielleicht zu Auflehnung gereizt, aber vermutlich doch eher in stille Resignation getrieben. Was aber in Ordnung gewesen wäre – hätte ich mir halt meine eigenen Gedanken gemacht.
Fazit: Kaubes Streitschrift rennt offene Türen ein
Schließen wir daher versöhnlicher mit Worten von Jürgen Kaube, denen ich vollumfänglich zustimme: „Die Schule muss die Schüler vor Schwierigkeiten stellen. Es darf nicht leicht sein zu erfüllen, was sie verlangt. Wenn alle Aufgaben von allen gleichermaßen gut gelöst werden, ist das ein schönes Ergebnis des Unterrichts – aber nur, wenn Probleme überwunden wurden, wenn Konzentration nötig war, wenn Gedächtnis, Denken, Urteilskraft und Sprachvermögen eingesetzt werden mussten.“ (S. 47)
Das Einzige, was man diesen Worten hinzufügen muss, ist die Feststellung, dass die Schule nach allem, was ich in meiner Lehrerausbildung mitbekommen habe, derzeit genau diesen Ansatz und dieses Ziel verfolgt. Es ist kein leicht zu erreichendes Ziel, es ist für alle Lehrkräfte eine schwierige Aufgabe, und eine Reduktion der Lehrpläne wäre sicher wünschenswert. Aber an Willen und Vision fehlt es nicht. Von daher sollte man die Schule gerade als interessierter Laie – pardon: Journalist – pardon: FAZ-Herausgeber – vielleicht einfach mal machen lassen. Vielleicht schafft sie es dann ja, unseren Schülern das Denken beizubringen – bei uns hat es doch schließlich auch geklappt. Irgendwie.
Oder?