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Folgt aus Gottes Allwissenheit, dass die Zukunft vorherbestimmt ist?  

Viele religiöse Menschen glauben, dass aus der Allwissenheit Gottes bereits folgt, dass alles menschliche Handeln vorherbestimmt ist – denn wenn Gott allwissend ist, weiß er insbesondere, was du heute, morgen, …, in fünf Jahren tun wirst, und da Gott sich nicht irren kann, muss alles menschliche Handeln bereits vorherbestimmt sein. Eine relativ naheliegende Konsequenz aus diesem Gedanken ist, dass es ebenfalls bereits vorherbestimmt ist, ob man in den Himmel oder in die Hölle kommt – denn worauf sollte Gott mit seiner Entscheidung noch warten, wenn die Zukunft eh bereits fest steht?

In diesem Beitrag möchte ich diesen Gedanken der göttlichen Vorherbestimmung gründlich demontieren – und zwar nicht aus areligiösen, wissenschaftlichen, oder ähnlichen Gründen, sondern anhand einer Geschichte aus der Bibel, aus der sich herleiten lässt, dass die Zukunft radikal offen ist – und zwar nicht obwohl, sondern gerade weil Gott als allmächtiges und allwissendes Wesen in den Lauf der Geschichte eingreift.

Die Geschichte, über die ich heute nachdenken möchte, findet sich in 1. Samuel 23, 7-13. Ich zitiere den gesamten Abschnitt aus der Zürcher Bibel. Der Kontext der Geschichte ist für meine Überlegungen relativ irrelevant. Vielleicht ist es wichtig zu bemerken, dass David (vor allem zu diesem Zeitpunkt der Geschichte) ein sehr gottesfürchtiger Mensch ist, während man Saul eher als vom rechten Weg abgekommen charakterisieren würde. Das Alte Testament hält sich allerdings mit moralischen Wertungen viel weitgehender zurück als man erwarten würde, daher soll meine Einordnung nicht mehr sein als ein grober Kompass. Hier nun also die Geschichte:

Und Saul wurde berichtet, dass David nach Keila gekommen war, und Saul sagte: Gott hat ihn in meine Hand gegeben, denn da er in eine Stadt mit Toren und Riegeln gekommen ist, hat er sich selbst eingeschlossen. Und Saul bot alles Volk auf zur Schlacht, um nach Keila hinabzuziehen und David und seine Männer zu belagern. David aber erfuhr, dass Saul Böses gegen ihn plante, und er sagte zu Ebjatar, dem Priester: Bring den Efod her. Und David sprach: Herr, Gott Israels, dein Diener hat gehört, dass Saul danach trachtet, nach Keila zu kommen, um die Stadt meinetwegen zu zerstören. Werden die Herren von Keila mich in seine Hand ausliefern? Wird Saul herabkommen, wie es dein Diener gehört hat? Herr, Gott Israels, tue das doch deinem Diener kund. Da sprach der Herr: Er wird herabkommen. Und David sagte: Werden die Herren von Keila mich und meine Männer in die Hand Sauls ausliefern? Und der Herr sprach: Sie werden euch ausliefern. Da machte David sich mit seinen Leuten auf, etwa sechshundert Mann, und sie zogen fort aus Keila und bewegten sich, wo sie sich bewegen konnten. Saul aber wurde berichtet, dass David aus Keila entkommen war; da brach er seinen Feldzug ab.

1. Samuel 23, 7-13

Auf den ersten Blick mag diese Episode für manchen einfach eine typische biblische Geschichte sein: Ein Mensch in Not fragt Gott um Hilfe und Gott rettet ihn aus der Not. Thanks, God! Aber tatsächlich dreht die Geschichte sich um ein äußerst tiefes Paradox, das selbst in säkularen Zeiten noch für einige Verwirrung sorgen kann: Die selbstzerstörende Prophezeiung!

Die selbstzerstörende Prophezeiung ist so verwirrend, dass man bereits bei ihrer Definition aufpassen muss, dass man sich nicht verzettelt. Man könnte nämlich in einer ersten Annäherung sagen, dass eine selbstzerstörende Prophezeiung in einer Vorhersage der Zukunft besteht, die gerade dadurch, dass sie wahr ist, das Handeln der Personen in einer Weise beeinflusst, dass die Vorhersage nicht eintritt. Aber wenn die Vorhersage nicht eintritt, kann sie nicht wahr gewesen sein – so kann man die selbstzerstörende Prophezeiung also nicht definieren, ohne sich in Widersprüche zu verstricken.

Formulieren wir daher vorsichtiger: Eine selbstzerstörende Prophezeiung ist eine Vorhersage der Zukunft, die zwei wesentliche Bedingungen erfüllt. Die erste, kontrafaktische Bedingung lautet: Wäre die Vorhersage nicht getroffen worden, wäre sie eingetreten. Die zweite, faktische Bedingung lautet: Dadurch dass die Vorhersage getroffen wurde, ist sie nicht eingetreten.

Wenden wir die Definition auf die obige biblische Geschichte an, so erkennen wir sofort, dass die Vorhersage Gottes eine selbstzerstörende Prophezeiung in unserem Sinne ist. Erstens war Saul bereits dabei, sein Heer für den Marsch nach Keila zusammenzuziehen: Hätte Gott nicht vorhergesagt, dass Saul nach Keila herabkommen wird, dann wäre David in der Stadt geblieben und Saul wäre nach Keila herabgekommen. Die kontrafaktische Bedingung ist also erfüllt.

Zweitens führte die Vorhersage Gottes, dass Saul herabkommen wird, dazu, dass David mit seinen Männern aus Keila flieht. Dies wird von einem Boten bemerkt, der Saul mitteilt, dass David geflohen ist. Dies wiederum bringt Saul von seinem Plan ab, sodass er nicht nach Keila einmarschiert. Es gibt also eine klare kausale Kette zwischen der Vorhersage Gottes und dem Nichteintreten dieser Vorhersage. Mithin ist auch die faktische Bedingung erfüllt.

Was die Geschichte besonders interessant macht, ist der folgende Umstand. Unterstellen wir einmal, dass Gott tatsächlich allwissend ist, wie viele Christen behaupten. Selbst unter dieser Voraussetzung scheint es Gott nicht möglich zu sein, eine wahre Antwort auf Davids Frage zu geben! Gottes tatsächliche Antwort ist ja, dass Saul herabkommen wird – was sich im Nachhinein als falsch herausstellt. Hätte Gott aber gesagt, dass Saul nicht herabkommen wird, wäre David nicht aus Keila geflohen – mithin hätte Saul seinen vorgefassten Plan ausgeführt und wäre nach Keila einmarschiert. Also scheint Gott keine wahre Antwort auf Davids Frage geben zu können: Jede gegebene Antwort würde durch ihre Konsequenzen falsifiziert.

Nehmen wir nunmehr zusätzlich an, dass Gott allmächtig ist, kommen wir durch diese biblische Geschichte in arge Probleme: Schränkt sie nicht Gottes Allmacht ein? Seine Allmacht würde doch bedeuten, dass es ihm irgendwie möglich sein muss, eine wahre Antwort auf Davids Frage zu geben. Aber wie könnte diese wahre Antwort aussehen?

Ein relativ offensichtlicher Kandidat wäre die folgende Antwort: „Wenn ich dir sagen würde, dass Saul nicht herabkommt, würde er herabkommen. Wenn ich dir sagen würde, dass Saul herabkommt, würde er nicht herabkommen.“ Wenn David schlau ist, könnte er sich aus dieser Antwort bereits herleiten, dass Saul plant, nach Keila herabzukommen, und seinen Plan aufgeben wird, wenn David aus Keila flieht. Aber wenn David nicht so schlau ist, könnte er Gott die etwas peinliche Nachfrage stellen: „Danke Gott, aber: Was sagst du denn nun? Kommt Saul herab oder nicht?“ Und es scheint so zu sein, dass Gott auf diese Nachfrage seine wahre Antwort von oben wiederholen müsste, um nichts Falsches zu sagen.

Aber wenn die einzig mögliche wahre Antwort Gottes über das Eintreten zukünftiger Ereignisse darin besteht, kontrafaktische Aussagen in Bezug auf seine eigenen Vorhersagen zu geben, folgt mit der Allwissenheit und Allmacht Gottes, dass die Zukunft (zumindest manchmal) radikal offen ist: Ein Wissen um die Zukunft kann es nicht geben, da ein solches „Wissen“ zu einer Handlungsänderung führen kann, die das „Wissen“ (zumindest potentiell) unterminiert.

Insbesondere lassen sich also aus der Bibel selbst gute Gründe dafür herleiten, dass menschliches Handeln eben nicht vorherbestimmt ist – und zwar nicht obwohl, sondern gerade weil Gott ein allmächtiges, allwissendes Wesen ist, das aktiv in den Lauf der Geschichte eingreift.

Der geneigte atheistische Leser wird sich nun vielleicht fragen, was ihm diese ganzen Gedanken bringen sollen: Da es eh keinen Gott gibt – und erst recht keinen allmächtigen oder allwissenden Gott, der in den Lauf der Geschichte eingreift – sind diese Überlegungen doch völlig substanzlose Tagträumerei, oder etwa nicht?

Ich denke, dass man diese Überlegungen mit etwas Phantasie gewinnbringend auf das alte Problem von Willensfreiheit und Determinismus anwenden kann, denn auch eine gottlose, deterministische Welt ist vor selbstzerstörenden Prophezeiungen nicht gefeit – oder etwa doch? Oder wie? Oder was? Aber ich möchte hier nicht ins Detail gehen – das habe ich mir für einen eigenen Blogeintrag aufgespart!

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