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Philosophie Erkenntnistheorie

Wie fehlbar sind die Menschen? Über Polysemie und blinde Flecken

In meinem letzten Blogeintrag habe ich am Beispiel Herbert Schnädelbachs dargestellt, zu welchen Irrtümern man gelangen kann, wenn man von einer Fehlbarkeit des Wissens spricht. Wissen kann nicht fehlbar sein, sondern nur Menschen – dies ist eine wesentliche Einsicht von Geert Keil in seinem lesenswerten Büchlein „Wenn ich mich nicht irre. Ein Versuch über die menschliche Fehlbarkeit“.

Gegen Ende seines Essays führt Geert Keil die Metapher des blinden Flecks ein, mit der eine gewisse Art von Fehlerquelle näher bestimmt werden soll. In seinem Primärsinn ist der blinde Fleck eine Stelle im Sichtfeld, die durch das Gehirn im Ernstfall mit einer „best guess“ ausgefüllt wird, da für den blinden Fleck keine Informationen von außen verfügbar sind: An der Stelle, wo der Sehnerv vom Auge in Richtung Gehirn austritt, befinden sich keine Lichtrezeptoren, weshalb das Gehirn die Informationen aus diesem Sichtbereich aus anderen Quellen schöpfen muss.

Im Alltag macht uns der blinde Fleck keine großen Probleme, da das Gehirn erstens auf Informationen vom anderen Auge zurückgreifen kann und da man zweitens durch Augenbewegungen den blinden Fleck eines Auges verschieben kann, sodass die fehlenden Informationen gewissermaßen zeitverzögert besorgt werden können.

Man kann allerdings durch kontrollierte Experimente herbeiführen, dass man den blinden Fleck gewissermaßen sehen kann – oder genauer: Dass man das Gehirn beim Auffüllen der fehlerhaften Informationen in flagranti ertappen kann. Voraussetzung dafür ist, dass man sich ein Auge zuhält und mit dem anderen Auge einen festen Punkt fixiert – also dass man gerade das nicht tut, was uns im Alltag Aufklärung darüber verschafft, was sich im blinden Fleck befindet. Eine geeignete Grafik zur Erkundung des blinden Flecks findet sich bspw. bei Wikipedia.  

Auf allgemeine Erkenntnisprozesse übertragen spricht Geert Keil nun von blinden Flecken, wenn „eine Tatsache aus irgendeinem Grund der Aufmerksamkeit der Person entzogen ist. Auf Irrtümer angewandt: Der für den Irrtum verantwortliche Faktor kommt ihr nicht in den Sinn, weil sie ohne fremde Hilfe nicht darauf kommen kann, an der richtigen Stelle zu suchen.“

In diesem Beitrag möchte ich ein lehrreiches Beispiel für einen solchen blinden Fleck im metaphorischen Sinne illustrieren, und zwar die sogenannte Polysemie – oder weniger hochtrabend ausgedrückt: Die Mehrdeutigkeit sprachlicher Ausdrücke. Polysemie im engeren Sinne bezieht sich meist auf mehrdeutige Worte, wie zum Beispiel „Läufer“. Als erstes denken die meisten vielleicht an einen Sportler – ich als Schachspieler wiederum denke bei dem Wort als erstes an die Schachfigur. Ein Läufer kann aber auch ein Teppich sein, was vor allem Innenausstatter sofort bemerken dürften.

Aus der Polysemie im engeren Sinne ergibt sich sofort eine Polysemie im weiteren Sinne, die sich auch auf ganze Sätze beziehen kann. Man betrachte etwa den Satz „Der Läufer liegt auf dem Boden.“ – was ist damit gemeint? Es könnte ein erschöpfter Sportler sein, oder eine Schachfigur, oder ein Teppich: Der Satz selbst beinhaltet keine Signatur, was denn unter Läufer in diesem Fall zu verstehen ist. Das bedeutet aber nicht, dass der Satz so sinnlos ist wie etwa „Der Glumpie liegt auf dem Boden.“ Mit dem Wort „Glumpie“ können wir gar keinen Sinn verbinden, mit dem Wort „Läufer“ hingegen verschiedene Bedeutungen, und es hängt vom Kontext der sprachlichen Äußerung ab, wie der Satz „Der Läufer liegt auf dem Boden.“ zu verstehen ist.

Was hat die Polysemie sprachlicher Ausdrücke mit blinden Flecken zu tun? Nun, die Polysemie ist zunächst einmal eine Tatsache, mit der sich jedes Kind beim Spracherwerb konfrontiert sieht. Das ist gar nicht so einfach für das Kind, kann aber auch Spaß machen, wie das sogenannte Teekesselchen-Spiel, in dem verschiedene Kontexte gegeben werden und man das zugehörige polyseme Wort erraten muss. („An meinem Teekesselchen hängt eine Lampe.“ – „Mein Teekesselchen hält schön warm.“ – „Das Teekesselchen ist eine Decke!“)

Aber, und das macht die Polysemie zu einem blinden Fleck: In der Regel ist die Polysemie unserer Aufmerksamkeit entzogen, da der Kontext einer sprachlichen Äußerung normalerweise dazu führt, dass polyseme Ausdrücke nur in einer Lesart einen Sinn ergeben. Ein Beispiel: Ich baue im Wohnzimmer mein Schachbrett auf und bemerke, dass ein Läufer fehlt. Ich rufe meiner Frau im Arbeitszimmer zu: „Ich suche einen Läufer, weißt du, wo er sein könnte?“ Selbst wenn meine Frau nicht weiß, was ich gerade mache, wird sie gar nicht auf die Idee kommen, dass ich einen Sportler oder unseren Teppich im Flur suchen könnte. Und selbst wenn sie auf dem Schlauch steht, wird sie vermutlich so etwas antworten wie: „Was denn für einen Läufer?“ – und der restliche Gang des Gesprächs wird für die nötige Aufklärung sorgen.

Für den monologisierenden Philosophen – und jeder philosophische Essay ist zwangsläufig ein Monolog, daher ist das nicht als Vorwurf zu verstehen, sondern als Beschreibung eines Sachverhalts – ist die Polysemie deshalb ein ernstzunehmender blinder Fleck, weil er ohne kritische Nachfragen, was denn nun mit diesem oder jenem Satz genau gemeint ist, gar nicht darauf kommt, dass er sich missverständlich ausgedrückt hat: Gerade der analytische Philosoph ist bedacht auf eine klar verständliche Sprache, und vor diesem Hintergrund kommt er gar nicht darauf, dass seine Aussagen polysem sein könnten.

Am Beispiel Geert Keils ist das schön zu explizieren – und auch das ist wieder nicht als Vorwurf gemeint, denn wenn er sich nicht so klar und verständlich ausdrücken würde, wäre mir sein blinder Fleck gar nicht erst ins Auge gestoßen. Reden wir aber nicht länger um den heißen Brei herum und gehen wir ans philosophisch Eingemachte: Was hat Geert Keil übersehen?

Die zentrale These seines Essays besteht in der von ihm so genannten Fallibilismusthese, die ich aus offensichtlichen Gründen vollständig zitieren muss, da ich auf eine Polysemie dieser These hinweisen möchte:

„Menschen sind in allen ihren Erkenntnisbemühungen fehlbare Wesen. Sie verfügen nach allem, was wir wissen, nicht über die Fähigkeit, ihre Überzeugungen auf eine Weise zu begründen, die jeden Irrtum unmöglich macht. Kürzer: Menschen besitzen keine wahrheitsgarantierenden Rechtfertigungen.“ (S. 20)

Die Fallibilismusthese besteht insgesamt aus drei Sätzen, die in ihrer Gesamtheit zwischen zwei Bedeutungen schillern. Man betrachte die folgenden beiden Interpretationen der Fallibilismusthese:

Interpretation 1: Für alle Menschen S gilt: S kann nicht alle seine Überzeugungen auf eine Weise begründen, die jeden Irrtum unmöglich macht.

Diese Interpretation wird vor allem durch den zweiten Satz der Fallibilismusthese nahegelegt. Sie ist logisch äquivalent zu der folgenden Interpretation:

Interpretation 1‘: Für alle Menschen S gilt: S hat (mindestens) eine Überzeugung, die S nicht auf eine Weise begründen kann, die jeden Irrtum unmöglich macht.

Nach dieser Interpretation wäre die Fallibilismusthese äußerst schwach zu verstehen: Es mag zwar Überzeugungen geben, die wir auf eine Weise begründen können, die jeden Irrtum unmöglich macht, aber im Allgemeinen ist das für unsere Überzeugungen nicht der Fall. Diese Interpretation ist sogar so schwach, dass sie fast schon eine Binse ist: Nach allem, was wir wissen, werden wir sicherlich zu jedem Zeitpunkt unseres Lebens irgendeine falsche Überzeugung in uns tragen – und für diese Überzeugung gilt offensichtlich, dass wir sie nicht auf eine Weise begründen können, die jeden Irrtum unmöglich macht – falsche Überzeugungen zeichnen sich ja dadurch aus, dass wir uns in ihnen irren!

Nun möchten Philosophen sich in der Regel nicht damit begnügen, bloße Binsen von sich zu geben, und so bietet sich die folgende, philosophisch interessantere Interpretation an:

Interpretation 2: Für alle Menschen S gilt: S kann keine seiner Überzeugungen auf eine Weise begründen, die jeden Irrtum unmöglich macht.

Diese Interpretation wird eher durch den ersten und dritten Satz der Fallibilismusthese nahegelegt. Sie ist logisch äquivalent zu der folgenden Interpretation:

Interpretation 2‘: Für alle Menschen S gilt: Für jede Überzeugung p von S gilt: S kann p nicht auf eine Weise begründen, die jeden Irrtum unmöglich macht.

Das ist eine viel gewagtere Aussage, und ich glaube, dass es diese Aussage ist, für die Keil tatsächlich argumentieren möchte. So verwendet er den gesamten Abschnitt 5 – den er zusammen mit Abschnitt 7 in der Einleitung als Einladung zu philosophischem Streit versteht – darauf zu zeigen, dass es keine Klassen von Aussagen gibt, die von der Fallibilismusthese ausgeschlossen werden können.

Ich werde Keils Argumentation für die in Interpretation 2 formulierte These gleich untersuchen. Zunächst möchte ich aber dafür argumentieren, dass diese These falsch ist. Das Argument dafür liefert Keil mit dem Titel seines Buches eigentlich schon selbst, denn eine unzweifelhaft gewisse Überzeugung meinerseits ist beispielsweise die Folgende:

p: „Wenn ich mich nicht irre, ist 2+2=4.“

Wenn 2+2=4 wahr ist, dann ist p offensichtlich wahr. Ich glaube außerdem zu wissen, dass 2+2=4 ist, da die Wahrheit des Satzes sich bspw. daraus ergibt, dass man einfach in folgendem Bild links und rechts des Gleichheitszeichens die Stäbchen zählt: ||+||=||||. Ich würde beinahe so weit gehen zu sagen, dass das unzweifelhaft gewiss ist. Wir würden schon gar nicht verstehen, wenn das nicht der Fall wäre – denn wenn ein Kind hier links und rechts vom Gleichheitszeichen beim Zählen der Stäbchen auf verschiedene Zahlen kommt, gehen wir völlig frag- und zweifellos davon aus, dass es sich verzählt haben muss.

Nehmen wir aber trotzdem einmal an, dass 2+2=4 in Wirklichkeit nicht wahr ist. Vielleicht ist 2+2=4 ja in Wahrheit sinnlos, und mathematische Termini und Aussagen haben überhaupt keine Bedeutung. Ich möchte das gar nicht a priori ausschließen. Aber in diesem Fall hätte ich mich in Bezug auf die Aussage „2+2=4“ offensichtlich geirrt – damit ist die Aussage p selbst in diesem beinahe absurden Fall ebenfalls wahr.

Da aber 2+2=4 nur wahr oder nicht wahr sein kann, sehen wir, dass p in jedem Fall wahr sein muss. Die Wahrheit von p ist unzweifelhaft gewiss. Ich kann mich in p einfach nicht irren. Denn angenommen, ich würde mich in p irren. Dann müsste gelten: Ich irre mich nicht und 2+2=4 ist nicht wahr. Das ist aber eine absurde Aussage, denn aus der Tatsache, dass ich mich nicht irre, folgt bereits, dass 2+2=4. Ich und meine Überzeugung, dass p, sind also ein Zeuge dafür, dass Interpretation 2‘ falsch ist.

Nun diskutiert Keil selbst den Vorschlag, verschiedene Klassen von Aussagen wie notwendig wahre Aussagen oder analytische Wahrheiten von der Fallibilismusthese auszunehmen, ist aber der Ansicht, dass dieser Vorschlag „verfehlt“ sei, da er zwei Fragen miteinander vermische:

„(1) Könnte sich als falsch herausstellen, dass zwei mal zwei vier ergibt, dass Kreise rund sind oder sich das Wetter entweder ändert oder bleibt, wie es ist?

(2) Sind wir in unseren Bemühungen, zur Erkenntnis solcher Wahrheiten vorzudringen, unfehlbar?“ (S. 34)

Auf die erste Antwort gibt Keil interessanterweise keine Antwort. Seine Antwort auf die zweite Frage wiederum ist ein klares Nein, und man ist geneigt ihm zuzustimmen, weil die Frage wiederum polysem ist. Man beachte, dass sie zwischen den folgenden Bedeutungen schillert:

(2.a) Sind wir in allen unseren Bemühungen, zur Erkenntnis solcher Wahrheiten vorzudringen, unfehlbar?

Auf diese Frage sollte man mit Keil bescheiden mit „Nein.“ antworten – alleine schon, um sich auch in Zukunft redlich um die Wahrheit zu bemühen und nicht nachlässig zu werden. Der blinde Fleck von Keil besteht aber darin, dass er diese Antwort auf die Frage (2.a) unbewusst auch auf die folgende Frage überträgt:

(2.b) Sind wir in einigen unserer Bemühungen, zur Erkenntnis solcher Wahrheiten vorzudringen, unfehlbar?

Auf diese Frage würde ich gegen Keil selbstbewusst mit „Ja!“ antworten. Ich könnte es aber auch vorsichtiger formulieren und sagen: „Wenn ich mich nicht irre, sind wir in einigen unserer Bemühungen, zur Erkenntnis notwendiger Wahrheiten vorzudringen, unfehlbar.“ Ein Beispiel für eine solche Bemühung habe ich oben gegeben. Wäre es nicht so ermüdend, würde ich es auch an diesem neuen „Wenn ich mich nicht irre, …“-Beispiel durchexerzieren.

Ein weiteres Beispiel für die Polysemie von Keils Fallibilismusthese findet sich auf Seite 39:

„Fehlbare Wesen können sich bei jeder Aussage über ihren Wahrheitswert irren. Sie können falsche Aussagen irrtümlich für wahr halten und wahre irrtümlich für falsch.“

Der erste Satz ist meines Erachtens falsch, wie ich oben bereits hinlänglich dargelegt habe. Der zweite Satz ist wiederum polysem und schillert zwischen den beiden folgenden, mittlerweile wohlbekannten Bedeutungen:

Interpretation i: Fehlbare Wesen können alle falschen Aussagen irrtümlich für wahr halten und alle wahren Aussagen irrtümlich für falsch.

Diese These liegt völlig auf einer Linie mit dem ersten Satz und ist daher meines Erachtens falsch – siehe oben.

Interpretation ii: Fehlbare Wesen können einige falsche Aussagen irrtümlich für wahr halten und einige wahre Aussagen irrtümlich für falsch.

Diese These halte ich für völlig korrekt, und soweit ich sehe, bietet Keil auch nur für diese These schlagende Argumente, wie etwa das Beispiel der taz-Redakteure, die von „kinderlosen Müttern“ schreiben. Dieses Beispiel zeigt auf amüsante Weise die Wahrheit von Interpretation 2. Aber der Fehler besteht darin, daraus auf die Wahrheit von Interpretation 1 zu schließen. Der blinde Fleck besteht wiederum in der Polysemie: Indem man die Wahrheit eines Satzes in einer Bedeutung zeigt, hat man nicht automatisch die Wahrheit des Satzes in jeder Bedeutung gezeigt! Ein anderes Bonmot Keils, das das Vorliegen einer Polysemie nahelegt, ist das Folgende: „Was notwendig wahr ist, wird nicht notwendigerweise als wahr erkannt.“ (S. 31; vgl. auch S. 76.) Dem stimme ich uneingeschränkt zu – aber es kann nur als Beleg für Interpretation ii dienen: Es kann sein, dass es Aussagen gibt, die man fälschlicherweise für notwendig wahr hält, und es kann sein, dass es notwendig wahre Aussagen gibt, die man fälschlicherweise für falsch hält. Aber es kann nicht sein, dass ich mich in allen notwendig wahren Aussagen darüber täusche, dass sie notwendig wahr sind – zumindest wenn ich mich nicht irre

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